Interessengruppen und Abgeordnete im Tauschgeschäft: Eine Studie aus der Schweiz

Vertreten Parlamentarier die Interessen von Lobbyisten, die keineswegs notwendigerweise diejenigen ihrer Wähler sind oder ihnen sogar zuwiderlaufen?
Erhalten Parlamentarier für diese Dienstleistung Gegenleistungen in finanzieller und nicht-finanzieller Form?

Solche Fragen sind geeignet, von den korporativen Medien (ehemals: mainstream-Medien) und von Personen in politischen Ämtern oder Positionen in das inzwischen sehr weit gefasste Feld von Verschwörungstheorien eingeordnet zu werden, oder alternativ als – nicht nur statistische, sondern auch qualitative – Normalität in einer für irgendetwas oder irgendjemanden (vermutlich außer der Mehrheit der Bevölkerung) repräsentativen Demokratie hingestellt zu werden.

Für Wissenschaftler sollten solche Fragen jedoch Fragen sein, die statt einer Abweisung oder Ignoranz einer empirischen Beantwortung bedürfen, also einer Beantwortung aufgrund von belastbaren Daten. Zu diesem Zweck werden sie in theoretisch zu begründende Zusammenhangshypothesen umformuliert, die dann anhand von Beobachtungsdaten und unter Verwendung von den Eigenschaften dieser Daten angemessenen statistischen Verfahren einer statistischen Analyse unterzogen werden. Idealerweise werden die Ergebnisse der Analyse einem oder mehreren Robustheitstests unterzogen, und die werden, wenn sie sich als robust erwiesen haben, auf eine Weise interpretiert, bei der sich die Interpretation nicht gegenüber dem tatsächlich Geprüften verselbständigen, vielleicht aufgrund ideologischer Überzeugungen, vielleicht aufgrund logischer Fehler wie z.B. Übergeneralisierung. Soweit das Ideal.

Drei Wissenschaftler, zwei von der Universität Basel und einer von der Universität Tilburg, haben sich daran gemacht, diesem Ideal gerecht zu werden – und man kann getrost sagen, dass sie damit sehr erfolgreich gewesen sind. Oliver Huwyler, Tomas Turner-Zwinkels und Stefanie Bailer haben eine im mehrerer Hinsicht bemerkenswerte Studie (Huwyler, Turner-Zwinkels und Bailer 2022) durchgeführt, über die sie in einem Fachartikel berichten, der derzeit in der politikwissenschaftlichen Zeitschrift „Political Research Quarterly“ zum Druck vorbereitet wird. In diesem Artikel untersuchen die drei Autoren,

„… how interest groups impact parliamentarians’ use of individual parliamentary instruments such as questions, motions, and bills“ (Huwyler, Turner-Zwinkels und Bailer 2022: 1),

d.h.

“… wie Interessengruppen die Nutzung einzelner parlamentarischer Instrumente wie Anfragen, Anträge und Gesetzesentwürfe durch die Abgeordneten beeinflussen“ (Huwyler, Turner-Zwinkels und Bailer 2022: 1).

Source: Opensecrets.org

Die Fragestellung ist praktisch relevant vor dem Hintergrund, dass Lobbyarbeit – sei es durch Unternehmen, Gewerkschaften, NGOs, Wohltätigkeitsorganisation u.a..m. – während der vergangenen Dekaden ein vorher nicht gekanntes Ausmaß (für die USA: Strickland 2020; für die USA und das UK sowie einige weitere westliche Staaten: Wilks 2013; für die EU: Hanegraaff & Poletti 2021) und neue Formen angenommen hat – aufgrund der Entwicklung und Verbreitung digitaler Techniken (vgl. OECD 2021: 3), aber auch die Einschaltung von Mittelsmännern in den Prozess z.B. durch die Gründung spezieller Lobbying-Unternehmen durch Zusammenschlüsse von Unternehmen oder Organisationen oder dadurch, dass Unternehmen oder Organisationen sich wissenschaftlicher Einrichungen oder dort Beschäftigter zwecks Lobbyismus bedienen (vgl. OECD 2021: 19).

September 3, 2020
New Renewables Lobbying Group Comes to Washington
Energy Choice

In a letter released to its members this morning, The American Wind Energy Association (AWEA) announced its intention to make renewables “the dominant power source in America.”

AWEA will be joining forces with the likes of NextEra Energy Inc., Avangrid Inc., and Berkshire Hathaway Energy to create a new lobbying group called the American Clean Power Association. No matter the outcome of the November election (although they are preparing for both possibilities), renewable energy groups such as the American Clean Power Association are planning major policy pushes for the next presidential administration.

While our friends at the Solar Energy Industries Association are not joining, they are planning on working with the new group on key policy areas.

As we all know well, more options for power generation are better for consumers and producers alike. We at ECC are excited to see what the future will bring.

Quelle: https://www.energychoicecoalition.org/blog/2020/9/3/new-renewables-lobbying-group-comes-to-washington

Darüber hinaus dominiert in bestimmten Bereichen, allen voran den Entwicklern und Anbietern digitaler Dienstleistungen, eine Handvoll von Unternehmen oder Organisationen, die während der vergangenen Jahr ihre Ausgaben für Lobbyarbeit stark erhöht haben und Einfluss auf Politiken ausüben, die weit über ihre legitimen Anliegen, im Fall von „Big-Tech“-Unternehmen: Profitmaximierung, hinausgehen (vgl. OECD 2021: 22). Dies tut der Idee, dass durch Lobbying die „Diversität der stakeholder“ erkenn- und in ihren Anliegen hörbar würde und deshalb durch Lobbyarbeit „bessere Politiken“ erreicht würden, doch einigen empirisch begründeten Abbruch:

„Lobbying is a natural part of the democratic process. By sharing expertise, legitimate needs and evidence about policy problems and how to address them, different interest groups can provide governments with valuable insights and data on which to base public policies. Information from a variety of interests and stakeholders helps policy makers understand options and trade-offs, and can lead, ultimately, to better policies. Nevertheless, sometimes public policies may be influenced only by specific interest groups or through covert and deceptive evidence, resulting in sub-optimal outcomes and undermining citizens’ trust in democratic processes” (OECD 2021: 3).
“Lobbyarbeit ist ein natürlicher Bestandteil des demokratischen Prozesses. Durch den Austausch von Fachwissen, legitimen Bedürfnissen und Erkenntnissen über politische Probleme und deren Bewältigung können verschiedene Interessengruppen den Regierungen wertvolle Einblicke und Daten liefern, die als Grundlage für öffentliche Maßnahmen dienen können. Informationen von einer Vielzahl von Interessen und Akteuren helfen den politischen Entscheidungsträgern, Optionen und Kompromisse zu verstehen, und können letztendlich zu einer besseren Politik führen. Dennoch kann es vorkommen, dass die öffentliche Politik nur von bestimmten Interessengruppen oder durch verdeckte und trügerische Informationen beeinflusst wird, was zu suboptimalen Ergebnissen führt und das Vertrauen der Bürger in demokratische Prozesse untergräbt” (OECD 2021: 3).

 

Souce: Open Secrets

Für eine repräsentative Demokratie, in der Abgeordnete die Interessen der Bürger oder zumindest ihrer Wähler vertreten sollen, ist Lobbyarbeit deshalb alles andere als unproblematisch. Sie kann tatsächlich dazu führen, dass Abgeordnete ihren Auftrag, die Bürger oder ihre Wähler zu repräsentieren, gegenüber den Interessen von Lobbygruppen in den Hintergrund stellen; so haben Giger und Klüver (2016) in einer Studie auf der Basis von Daten aus der Schweiz festgestellt:

„The multilevel analysis indicates that interest group lobbying indeed has an impact on MP defection from their voters on both the individual MP level and the party level” (Giger & Klüver 2016: 198; Hervorhebung d.d. A.).

D.h.

“Die Mehrebenenanalyse zeigt, dass die Lobbyarbeit von Interessengruppen tatsächlich einen Einfluss auf die Abkehr der Abgeordneten von ihren Wählern hat, und zwar sowohl auf der Ebene der einzelnen Abgeordneten als auch auf der Ebene der Partei” (Giger & Klüver 2016: 198; Hervorhebung d.d. A.).

Ist die Studie von Huwyler, Turner-Zwinkels und Bailer dann „nur“ als eine Replikationsstudie gedacht, d.h. als eine Studie, die diesen Befund zu reproduzieren versucht?

Nein. Mit ihrer Studie wollen die drei Autoren vielmehr ein Argument überprüfen, nach dem der positive Zusammenhang zwischen Lobbyarbeit von Organisationen oder Interessengruppen einerseits und dem Wahlverhalten bzw. dem Einsatz von parlamentarischen Mitteln durch Abgeordnete lediglich ein statistischer, aber kein tatsächlich inhaltlicher Zusammenhang ist. Vielmehr, so lautet das Argument, könnte beides ein Ergebnis der persönlichen Interessen der Abgeordneten sein, die sich in ihrem Engagement für bestimmte Politikbereiche niederschlagen, etwa wie im folgenden Beispiel:

„For example, a legislator with medical training or a seat on the health committee is more likely to submit bills on health policy. Simultaneously, […]he is arguably also more likely to work with health lobby organizations. When measured cross-sectionally, we thus observe a spurious correlation between the policy area of the representative’s interest group ties and other sources of h[is] policy focus in parliament. The observed statistical correlation between these could be due to the representative’s occupational background or committee membership, and hence affinity to the policy area rather than actual influence on the part of h[is] interest groups” (Huwyler, Turner-Zwinkels & Bailer 2022: 2).
“Zum Beispiel bringt ein Abgeordneter mit medizinischer Ausbildung oder einem Sitz im Gesundheitsausschuss eher gesundheitspolitische Gesetzesentwürfe ein. Gleichzeitig ist es wohl auch wahrscheinlicher, dass er mit Lobbyorganisationen im Gesundheitsbereich zusammenarbeitet. Im Querschnitt gemessen beobachten wir also eine [sogenannte] Scheinkorrelation zwischen dem Politikbereich, in dem ein Abgeordneter mit einer Interessengruppe verbunden ist, und anderen Quellen seiner politischen Schwerpunktsetzung im Parlament. Die beobachtete statistische Korrelation zwischen diesen Faktoren könnte auf den beruflichen Hintergrund des Abgeordneten oder seine Mitgliedschaft in einem Ausschuss und damit auf seine Affinität zu dem Politikbereich zurückzuführen sein und nicht auf den tatsächlichen Einfluss seiner Interessengruppen” (Huwyler, Turner-Zwinkels & Bailer 2022: 2).

 

Weil man es nicht oft genug sagen kann, sei hierzu bemerkt, dass eine Korrelation, die statistisch besteht und dementsprechend mit den Mitteln der Statistik beobachtet werden kann, als „Scheinkorrelation“ völlig falsch bezeichnet ist, eben weil sie statistisch nicht bloß zu bestehen scheint, sondern statistisch besteht. Die Frage ist, ob es sich bei der beobachteten Korrelation um einen Zusammenhang handelt, der zustande kommt, weil eine der beiden in Frage stehenden Größen die andere direkt beeinflusst (oder ggf. eine Wechselwirkung besteht), oder ob der Zusammenhang zwischen beiden Größen – wie im Beispiel – deshalb zustandekommt, weil eine dritte Größe sozusagen hinter beiden steht, sie beide beeinflusst, also eine konfundierende Größe für den Zusammenhang zwischen den beiden interessierenden Variablen verantwortlich ist.

Es geht also darum, wie der statistisch tatsächlich bestehende Zusammenhang korrekt zu interpretieren ist, und dies lässt sich – vorausgesetzt, man verfügt über die notwendigen Daten – mit den Mitteln der statistischen Analyse klären. Statt von „Scheinkorrelationen“ zu sprechen, was gewöhnlich Missverständnisse schafft, wäre es besser, z.B. von „konfundierten Zusammenhängen“ zu sprechen.

Aber zurück zur Studie von Huwyler, Turner-Zwinkels & Bailer!

Source

Um das Argument vom konfundierten Zusammenhang (bzw. der „Scheinkorrelation“) zu überprüfen, führen Huwyler, Turner-Zwinkels & Bailer statistische Zusammenhangsanalysen durch, die nicht auf Querschnittsdaten beruhen, sondern auf Längsschnittdaten, so dass sie u.a. kontrollieren können, ob und ggf. wie die Tatsache, dass ein Abgeordneter in einem bestimmten Zeitraum im Aufsichtsrat einer Organisation sitzt oder einen Vorstandsposten in der Organisation inne hat, mit seiner Verwendung parlamentarischer Mittel in diesem Zeitraum oder danach zusammenhängt – und zwar unter Kontrolle (u.a.) seines Berufes bzw. seiner beruflichen Ausbildung. Die sehr günstige diesbezügliche Datenlage in der Schweiz (s. hierzu Huwyler, Turner-Zwinkels & Bailer 2022: 5) erlaubt es den Autoren außerdem, diesen Zusammenhang für fünfzehn verschiedene Politikbereiche zu überprüfen. Auf diese Weise wird erkennbar, ob der Zusammenhang ggf. vielleich nur in bestimmten Politikbereichen, z.B. im Wirtschafts- oder Gesundheitsbereich, besteht, aber in anderen nicht.

Die abhängige Variable, um die es in der Analyse von Huwyler, Turner-Zwinkels und Bailer hauptsächlich geht, ist die Anzahl der von einem Abgeordneten eingebrachten parlamentarischen Instrumente, darunter Anfragen, Interpellationen, Postulate, Motionen und parlamentarische Initiativen bzw. Gesetzesentwürfe (die den Abgeordneten beider Kammern des schweizerischen Parlamentes zur Verfügung stehen,) in einem bestimmten Politikbereich in einem bestimmten Jahr. Die wichtigste unabhängige Variable in der Analyse ist die Anzahl von formalen Bindungen, die ein Abgeordneter zu einer Organisation/Interessengruppe in einem bstimmten Politikbereich in einem bestimmten Jahr unterhält (Huwyler, Turner-Zwinkels & Bailer 2022: 5-6), wobei diese formalen Bindungen – wie oben schon erwähnt – als Sitz im Aufsichtsrat einer Organisation oder Vorstandsposten in der Organisation gemessen werden.

Die persönlichen Interessen eines Abgeordneten messen die Autoren zum einen durch seinen Beruf oder genauer: dadurch, dass sie beobachten, ob der Beruf des Abgeordneten in einem bestimmten Jahr in einen bestimmten Politikbereich fällt oder nicht. Zum anderen messen sie sie dadurch, dass sie beobachten, ob ein Abgeordneter Mitglied in einem Kommittee in dem Politikbereich ist, in dem er parlamentarische Instrumente eingebracht hat (Huwyler, Turner-Zwinkels & Bailer 2022: 6-7).

Das statistische Analyse-Instrument der Wahl ist das negative binomiale Regressionsmodell, das sich in Fällen, in denen die abhängige Variable eine Zählvariable ist, eignet.

Konkret überprüfen die drei Autoren mit diesen Mitteln drei Hypothesen:

  1. Je mehr formale Verbindungen Abgeordnete mit Interessengruppen/Organisationen in einem bestimmten Politikbereich haben, desto mehr parlamentarische Instrumente benutzen Abgeordnete in diesem Politikbereich (Huwyler, Turner-Zwinkels & Bailer 2022: 4).
  2. Der Effekt von formalen Verbindungen zu Interessengruppen/Organisationen auf die Häufigkeit der Verwendung von parlamentarischen Mitteln durch Abgeordente in einem bestimmten Politikbereich ist schwächer, wenn Abgeordnete ein persönliches Interesse an diesem Politikbereich haben (d.h. eine berufliche Beziehung zu ihm haben oder in einem Kommittee sitzen, das in diesem Bereich angesiedelt ist) (Huwyler, Turner-Zwinkels & Bailer 2022: 4).
  3. (3) Wenn formale Beziehungen eines Abgeordneten zu Interessengruppen/Organisationen in einem bestimmten Politikbereich beendet sind, verringert sich ihr Effekt auf Abgeordnete in diesem Politikbereich mit der Zeit und verschwindet allmählich (Huwyler, Turner-Zwinkels & Bailer 2022: 4).

Diese Hypothesen haben die Autoren aus austauschtheoretischer Sicht und vor dem Hintergrund bestehender Forschung formuliert. So hat Huwyler (2021) festgestellt, dass Interessengruppen/Organisationen nicht nur an informellen Beziehungen zu Parlamentariern interessiert sind, sondern sich aktiv darum bemühen, Parlamentarier für einen Sitz in ihrem Vorstand zu rekrutieren. Das würde sie nicht tun, wenn sie sich davon keine Vorteile versprechen würden:

„For interest groups, such relationships to MPs entail a long time period of institutionalized access to a political arena to which they usually lack direct access. As long as they support their MPs, they can ask them to use the parliamentary instruments at their disposal to their benefit, for example, to propose draft laws, suggest new measures or legislative regulations, and demand information or reports. Patterns in MPs’ submissions of parliamentary instruments should reflect on-going interest group affiliations accordingly” ((Huwyler, Turner-Zwinkels & Bailer 2022: 3).
“Für Interessengruppen bedeuten solche Beziehungen zu Abgeordneten einen langen Zeitraum des institutionalisierten Zugangs zu einer politischen Arena, zu der sie normalerweise keinen direkten Zugang haben. Solange sie ihre Abgeordneten unterstützen, können sie diese auffordern, die ihnen zur Verfügung stehenden parlamentarischen Instrumente zu ihren Gunsten zu nutzen, z. B. um Gesetzesentwürfe vorzuschlagen, neue Maßnahmen oder gesetzliche Regelungen anzuregen und Informationen oder Berichte zu verlangen. Die Muster, nach denen die Abgeordneten die parlamentarischen Instrumente einsetzen, sollten dementsprechend die Zugehörigkeit zu den jeweiligen Interessengruppen widerspiegeln” (Huwyler, Turner-Zwinkels & Bailer 2022: 3).

Was bieten Interessengruppen/Organisationen im Tausch gegen diese Leistungen, die ein Abgeordneter anbieten kann?

„A formal tie to an interest group offers several valuable benefits to MPs. First, it provides non-financial compensation such as specialized knowledge and information that benefits parliamentarians’ work, as they deal with issues in a wide array of policy areas … Specialized knowledge and information function as a legislative subsidy, which offers MPs the possibility to appear competent in often complex policy areas … In consequence, parliamentarians are in a position to display more activity in policy areas to which these resources pertain. Second, interest groups also offer financial benefits, such as resources for election campaigns … They may also incentivize parliamentary activities by providing side payments such as gifts or continuous financial support in the form of paid board positions, if the legal framework  allows this …  Third, interest groups can offer opportunities for post-parliamentary employment … “  (Huwyler, Turner-Zwinkels & Bailer 2022: 3-4).
“Eine formale Bindung an eine Interessengruppe bietet Abgeordneten mehrere wertvolle Vorteile. Erstens bietet sie eine nicht-finanzielle Entschädigung, wie z. B. Fachwissen und Informationen, die der Arbeit der [jeweiligen] Abgeordneten zugute kommen, da sie [die Abgeordneten] es [während ihrer Amtsperiode] mit Fragen in einer Vielzahl von Politikbereichen zu tun haben … Fachwissen und Informationen fungieren als [eine Art] gesetzgeberische[r] Unterstützung, die den Abgeordneten die Möglichkeit bietet, in oft komplexen Politikbereichen kompetent zu erscheinen … Infolgedessen sind die Parlamentarier in der Lage, in den Politikbereichen, zu denen diese Ressourcen gehören, mehr Aktivität zu zeigen. Zweitens bieten Interessengruppen auch finanzielle Vorteile, wie z. B. Mittel für Wahlkampagnen … Sie können auch Anreize für parlamentarische Aktivitäten schaffen, indem sie Nebenleistungen wie Geschenke oder kontinuierliche finanzielle Unterstützung in Form von bezahlten Vorstandsposten anbieten, wenn der rechtliche Rahmen dies zulässt …  Drittens können Interessengruppen Möglichkeiten für eine Beschäftigung nach der parlamentarischen Tätigkeit bieten … ” (Huwyler, Turner-Zwinkels & Bailer 2022: 3-4).

Für die Vermutung, dass Abgeordnete ihren Teil des Tauschgeschäftes vor allem in Form von parlamentarischen Instrumenten betreiben, spricht, dass sie ihnen ermöglichen, die Interessen diverser Interessengruppen/Organisationen in verschiedenen Politikbereichen zu vertreten, ohne dass dies für ihre Parteifreunde oder ihre Wähler deutlich erkennbar würde, jedenfalls nicht auf dieselbe Weise erkennbar, wie dies anhand ihres Abstimmungsverhaltens im Plenum erkennbar würde. Auf diese Weise lässt sich verbergen, dass die Interessen der Bürger bzw. ihrer Wähler, die zu vertreten Abgeordneten aufgegeben ist, lediglich die Interessen ganz bestimmter und vielleicht sehr kleiner Gruppen von Bürgern sind (vgl. (Huwyler, Turner-Zwinkels & Bailer 2022: 11).

Aufgrund dieser Überlegungen, nach denen Interessengruppen/Organisationen und Abgeordnete in ein Tauschgeschäft zu beider Vorteil eintreten, haben die Autoren die oben genannte Hypothese 1 aufgestellt.

Auch Hypothese 2 steht im Einklang mit austauschtheoretischen Überlegungen, denn wenn ein Abgeordneter an einem Politikbereich ein besonderes Interesse hat und ggf. über eigene Expertise oder eigene Erfahrung in diesem Bereich verfügt, dann ist ein Teil der Leistungen, die eine in diesem Bereich tätige Interessengruppe/Organisation für den Abgeordneten erbringen kann, hinfällig oder weniger wichtig als es der Fall wäre, wenn der Abgeordnete von diesem Politikbereich wenig bis keine Ahnung hätte, zum einen, weil er dann die Zuarbeit von seiten der Interessengruppe/Organisation mit Bezug auf Informationen weniger nötig hat, zum anderen, weil er aufgrund eigenen Interesses an dem betreffenden Politikbereich Informationen aus anderen Quellen haben wird, so dass er der Agenda der Interessengruppe/Organisation distanziert(er) gegenüberstehen stehen sollte.

Hypothese 3 haben die drei Autoren aufgestellt, weil Leistungen dann, wenn ein Tauschgeschäft beendet (oder nicht mehr möglich) ist, normalerweise nicht mehr oder über einen bestimmten Zeitraum hinweg betrachtet immer weniger erbracht werden (vgl. Huwyler, Turner-Zwinkels & Bailer 2022: 4).

Was die Ergebnisse der statistischen Analyse betrifft, so können die Autoren alle drei Hypothesen bestätigen:

Die Häufigkeit der formalen Beziehungen, die Abgeordnete zu Interessengruppen/Organisationen unterhalten, steht in einem statistisch signifikanten positiven Zusammenhang mit der Häufigkeit, mit der Abgeordnete parlamentarische Instrumente in dem entsprechenden Politikbereich verwenden (Huwyler, Turner-Zwinkels & Bailer 2022: 9).

„In terms of substance, even the most conservative estimates … teach us that for every additional formal interest group tie that MPs have, there is still an increase in the rate of submitted parliamentary instruments in that policy area by a factor of 1.022 …” (Huwyler, Turner-Zwinkels & Bailer 2022: 9).

Um dieses Ergebnis würdigen zu können, ist es wichtig zu wissen, dass die Abgeordneten im Datensatz, mit dem die Autoren arbeiten, durchschnittlich 6,15 Vorstandsposten in Interessengruppen/Organisationen über alle Politikbereiche hinweg betrachtet innehaben, und dass der oben genannten statistisch signifikante positive Zusammenhang für jeden einzelnen der 15 Politikbereiche ohne Ausnahme zu beobachten ist (Huwyler, Turner-Zwinkels & Bailer 2022: 9). Der positive Zusammenhang ist also nicht nur bestimmten Politikbereichen geschuldet, die man wahrscheinlich als besonders wichtig ansehen würde wie z.B. den wirtschaftlichen Bereich.

Damit ist Hypothese 1 bestätigt.

Hypothese 2 kann ebenfalls bestätigt werden, denn die Häufigkeit, mit der Abgeordnete parlamentarische Instrumente in einem Politikbereich verwenden, der demjenigen entspricht, für den sich Interessengruppen/Organisationen engagieren, in deren Vorständen die Abgeordneten sitzen, ist geringer, wenn Abgeordnete einen beruflichen Hintergrund oder Erfahrungen aus Kommittee-Arbeit in diesem Politikbereich haben als wenn sie keinen beruflichen Hintergrund oder keine Erfahrungen aus Kommitte-Arbeit in diesem Politikbereich haben (Huwyler, Turner-Zwinkels & Bailer 2022: 9). Die Daten zeigen,

“… that MPs who lack relevant expertise from their occupation or committee membership have their parliamentary activities almost twice as strongly affected by interest group board seats than those who do not” (Huwyler, Turner-Zwinkels & Bailer 2022: 10).
„… dass Abgeordnete, denen es an relevantem Fachwissen aus ihrem Beruf oder ihrer Kommittee-Mitgliedschaft mangelt, in ihrer parlamentarischen Tätigkeit fast doppelt so stark von Interessengruppenvorständen beeinflusst werden wie solche, bei denen dies nicht der Fall ist” (Huwyler, Turner-Zwinkels & Bailer 2022: 10).

Das bedeutet aber nicht, dass der positive Zusammenhang zwischen der Häufigkeit der formalen Beziehungen, die Abgeordnete zu Interessengruppen/Organisationen unterhalten, und der Häufigkeit, mit der Abgeordnete parlamentarische Instrumente in dem entsprechenden Politikbereich verwenden, verschwinden würde, wenn man die berufliche Verbindung der Abgeordenteten mit diesem Politikbereich oder deren Kommittee-Arbeit in diesem Bereich berücksichtigt. Vielmehr bleibt der positive Zusammenhang auch dann bestehen, wenn die persönliche Verbindung der Abgeordneten mit dem entsprechenden Politikbereich statistisch kontrolliert wird . (Huwyler, Turner-Zwinkels & Bailer 2022: 9).

Man darf daher festhalten:

“This provides first evidence that interest groups are able to shift legislators‘ attention towards the policy areas that serve their interests and are not just subsidizing activities in areas where MPs would have been active in regardless“ (Huwyler, Turner-Zwinkels & Bailer 2022: 11).
„Dies ist ein erster Beleg dafür, dass Interessengruppen in der Lage sind, die Aufmerksamkeit von Gesetzgebern [d.h. hier: Abgeordneten] auf die Politikbereiche zu lenken, die ihren Interessen [denen der Interessengruppen] dienen, und nicht nur Aktivitäten in Bereichen zu subventionieren, in denen Abgeordnete auch ohne sie aktiv gewesen wären“ (Huwyler, Turner-Zwinkels & Bailer 2022: 11).

Bleibt noch zu berichten, was die Autoren mit Bezug auf Hypothese 3 beobachtet haben:

“At the latest 2 years after MPs‘ interest group board membership ended, the former formal tie no longer exerts a significant effect on their parliamentary behaviour. We also see an indication that with every step into the future, the estimated effect of former formal ties is smaller than in the previous step” (Huwyler, Turner-Zwinkels & Bailer 2022: 10).
„Spätestens 2 Jahre nach Beendigung der Mitgliedschaft in einem Interessenverband übt die ehemalige formale Bindung keinen signifikanten Effekt mehr auf das parlamentarische Verhalten von Abgeordneten aus. Wir sehen auch einen Hinweis darauf, dass mit jedem Schritt in die Zukunft der geschätzte Effekt ehemaliger formaler Bindungen kleiner ist als im vorherigen Schritt“ (Huwyler, Turner-Zwinkels & Bailer 2022: 10).

Damit ist auch Hypothese 3 bestätigt.

Die Ergebnisse der Studie von Huwyler, Turner-Zwinkels & Bailer bestätigen also die Theorie, nach der die Beziehungen zwischen Abgeordneten und Interessengruppen/Organisationen ein Tauschverhältnis darstellen, das zum beiderseitigen Nutzen eingegangen und unterhalten wird. Lobbyarbeit ist dementsprechend als ein Angebot an Abgeordnete aufzufassen, einen Tausch zum beiderseitigen Nutzen einzugehen. Wie die Autoren festhalten, ist ein solches Tauschgeschäft nur möglich

“… because parties and voters either tolerate legislators‘ use of parliamentary instruments for interest groups, or because they are unaware of the systematic nature of the phenomenon“ (Huwyler, Turner-Zwinkels & Bailer 2022: 11; Hervorhebung d.d.A.).

Und obwohl viele, die dies lesen werden, vermutlich sagen werden: “Ach, dass das alles Korruption ist, hab’ ich ja längst gewusst”, ist es ein sehr wichtiger gesellschaftlicher Beitrag, den Huwyler, Turner-Zwinkels und Bailer mit dieser Studie geleistet haben, denn zum einen es ist nun schwieriger geworden, entsprechende Vermutungen per se ins Reich von Verschwörungstheorien zu verbannen, die im öffentlichen Diskurs – logisch falscherweise – häufig mit „faktischer Falschheit“ gleichgesetzt werden. Oder anders ausgedrückt: Die Existen des positiven Zusammenhangs zwischen politischen Verhalten von Abgeordneten und der Lobbyarbeit von Interessengruppen/Organisationen ist empirisch belegt und es ist ebenfalls empirisch belegt, dass beides nicht einfach ein Ergebnis der persönlichen Interessen der Abgeordneten sind, die sich in ihrem Engagement für bestimmte Politikbereiche niederschlagen. Vielmehr engagieren sich Abgeordnete in Politikfeldern auf bestimmte Weise aufgrund der Lobbyarbeit von Interessengruppen/Organisationen – hier: in der handfesten Form von Vorstandsposten für Abgeordnete samt aller Vergünstigungen, die sie mit sich bringen.

Zum anderen liegt mit der Studie eine Forschung vor, die geradezu nach weiterer, auf ihr aufbauender Forschung ruft: Wie die Autoren selbst schreiben, sollten sich Wissenschaftler darum bemühen, anhand von Daten aus anderen Ländern die – aufgrund der austauschtheoretischen Fundierung des Phänomens sowie aufgrund unsystematischer Beobachtungsdaten – zutiefst plausible Generalisierbarkeit des Phänomens über verschiedene Länder hinweg zu prüfen, ebenso wie darum, der „systematischen Natur des Phänomens“ auf den Grund zu gehen und die genauen Mechanismen, durch die das Tauschgeschäft initiiert und unterhalten wird, zu erforschen, denn

“[w]e know neither the extent nor the combination of the benefits that specific interest groups provide to MPs. It remains subject to future research how variation in interest group benefits – pay, information, campaign support, gifts – trigger different reactions in MPs behavior” (Hywler, Turner-Zwinkels & Bailer 2022: 11).
„Wir kennen weder das Ausmaß noch die Zusammensetzung der Vorteile, die bestimmte Interessengruppen Abgeordneten bieten. Es bleibt Gegenstand zukünftiger Forschung, wie Variationen in den Vorteilen von Interessengruppen – Bezahlung, Informationen, Wahlkampfunterstützung, Geschenke – unterschiedliche Reaktionen im Verhalten von Abgeordneten auslösen” (Hywler, Turner-Zwinkels & Bailer 2022: 11).

Als Bürger sind wir jedenfalls mit den Ergebnissen solcher Tauschgeschäfte aufs Unangenehmste konfrontiert, sei es in Form einer umfassend versiegelten Landschaft, in der surrende Windräder Vögel und Fledermäuse erschlagen, oder in Form von experimentellen Zubereitungen, die in die Arme von Bürgern gespritzt werden – mit den bekannten Folgen. Es wäre deshalb im Interesse aller Bürger in einer Demokratie, auf gesetzliche Regelungen zu dringen, die die Beziehungen, die Abgeordnete zu Interessengruppen/Organisationen unterhalten so transparent wie irgend möglich machen und den Einfluss von Lobbyisten möglichst einschränken.

Vor dem Hintergrund der Studie von Hywler, Turner-Zwinkels & Bailer betrachtet erscheinen zwei konkrete Reformvorshläge sinnvoll:

Erstens sollte niemand ein Abgeordneter im nationalen Parlament sein können, der lediglich eine politische oder Parteikarriere aufzuweisen hat, aber keinerlei berufliche Qualifikation  und Berufserfahrung.

Zeitens sollte Abgeordneten die Mitgliedschaft im Vorstand einer Interessengruppe/Organisation zumindest während der Legislaturperiode, in der sie im Parlament sind, unter Androhung strafrechtlicher Verfolgung verboten werden.

Sie meinen, das sei nicht durchsetzbar, u.a. weil Abgeordnete sich schwerlich lohnende Tauschgeschäfte selbst verweigern würden?! Der Einwand dürfte zutreffend sein. Aber dann befinden sich die Abgeordneten in einem Dilemma, jedenfalls diejenigen, die gerne von sich behaupten, „to go with the science“ – hier: der für uns alle wichtigen und interessanten “science”, die wir Huwyler, Turner-Zwinkels und Bailer zu verdanken haben.


Literatur:

Giger, Natalie, & Klüver, Heike, 2016: Voting Against Your Constituents? How Lobbying Affects Representation. American Journal of Political Science 60(1): 190-205.

Hanegraaff, Marcel, & Poletti, Arlo, 2021: The Rise of Corporate Lobbying in the European Union: An Agenda für Future Research. Journal of Common Market Studies (JCMS) 59(4): 839-855.

Huwyler, Oliver, 2021: Interest Groups’ Recruitment of Incumbent Parliamentarians to Their Boards. Parliamentary Affairs 75(3): 634-654.

Huwyler, Oliver, Turner-Zwinkels, Tomas, & Bailer, Stefanie, 2022: No Representation Without Compensation: The Effect of Interest Groups on Legislators’ Policy Area Focus. Political Research Quarterly. (Online First.) DOI: 10.1177/10659129221137035.

OECD, 2021: Lobbying in the 21st Century: Transparency, Integrity and Access. Paris: OECD Publishing. https://doi.org/10.1787/c6d8eff8-en.

Strickland, James M., 2021: A Quiet Revolution in State Lobbying: Government Growth and Interest Populations. Political Research Quarterly 74(4): 1181-1196.

Wilks, Stephen, 2013: The Political Power of the Business Corporation. Cheltenham: Edward Elgar.



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