Schlussfolgern ohne Worte. Studien zeigen: Die Fähigkeit zum logischen Schlussfolgern ist nicht durch Sprache vermittelt
Seit vielen Jahrzehnten diskutieren Psychologen und speziell Kognitionswissenschaftler, Neurologen, Sprachwissenschaftler, Philosophen und Sozialwissenschaftler, in welchem Verhältnis Sprache und Denken zueinander stehen.
Ist Sprache „nur“ das Medium, durch das Denken erfolgt oder ein Denkprozess oder sein Ergebnis mitgeteilt werden können?
Oder ist Sprache die Voraussetzung, auf der konzeptionelles Denken erst erfolgen kann?
Baut das Erlernen einer Sprache durch Kinder auf bereits vorhandenen kognitiven, nicht-sprachlichen Fähigkeiten auf, oder erwerben Kinder Denkfähigkeit auf der Grundlage der Sprache, die sie von den Erwachsenen erlernen und übernehmen?
Hat Sprache also „nur“ eine kommunikative Funktion – nennen wir diese Vorstellung die „kommunikative Konzeption von Sprache“ –, oder bestimmt sie das menschliche Denken auf grundlegende Weise?
Die zuletzt genannte Vorstellung wollen wir als „kognitive Konzeption von Sprache“ bezeichnen, die in der Literatur häufig ohne weitere Differenzierung auch als „Sapir-Whorf-Hypothese“ oder als die Vorstellung von „sprachlicher Relativität“ („linguistic relativity“) bezeichnet wird.
In ihren jeweils stärksten Varianten lauten die Antworten auf diese Fragen entweder „Denken kann auch, wer keine Sprache hat, ggf. niemals sprechen oder Sprache zu verstehen gelernt hat“ oder „Niemand kann etwas denken, was er nicht formulieren kann“. Beide starken Varianten und viele schwächere Varianten der ein oder anderen Version haben ihre jeweiligen Vertreter. Tendenziell sind Vertreter der kommunikativen Konzeption von Sprache vor allem unter Kognitionswissenschaftlern zu finden, während Vertreter der kognitiven Konzeption von Sprache vor allem unter Sozialwissenschaftlern zu finden sind.
Vertreter der kognitiven Konzeption von Sprache berufen sich gerne auf eher Anekdotisches oder die Alltagserfahrung, um ihre Position zu begründen, z.B. darauf, dass wir einen großen Teil des Tages damit verbringen, mit uns selbst zu sprechen, einen inneren Dialog zu führen, in dessen Verlauf unsere Gedanken in sprachlicher Form an uns vorbeiziehen oder wir unsere Gedanken bewusst sprachlich formulieren, wenn sie auch unausgesprochen bleiben. Und besonders häufig berufen sie sich – nach dem Vorbild von Benjamin Lee Whorf – auf interkulturelle Vergleiche, die zeigen sollen, dass die Muttersprache, die Menschen erlernen, ihre Wahrnehmung von Objekten prägt, die ihrerseits bestimmt, wie Objekte klassifiziert und gruppiert werden. Dabei bleibt aber oft unbestimmt, wenn nicht gänzlich offen, von welcher praktischen Relevanz dies ist, und vor allem: ob und inwieweit und wie die jeweils beschriebenen Spezifika einer Sprache tatsächlich das Denken der Menschen beeinflusst.
So ist Whorf auf der Basis seiner Analyse der Sprache der Hopi und insbesondere auf der Basis ihrer Verbformen zur folgenden Einschätzung gekommen:
So interessant dies alles sein mag – dass Spezifika einer Sprache die Wahrnehmung der Sprecher dieser Sprache auf bestimmte (Elemente von) Phänomene(n) lenkt, ist das eine, das andere ist, ob und wie dies das Denken der Hopi beeinflusst. Vielleicht hat Whorf gar nicht klar erkannt, dass dies zwei verschiedende Dinge sind, eben weil er einfach voraussetzte, dass die Sprache die Wahrnehmung und vermittelt über die Wahrnehmung das Denken auf grundlegende Weise präge. Und wie Peter Carruthers bemerkt hat:
„The fact that acquiring one language as opposed to another causes subjects to attend to different things and to reason somewhat differently doesn’t show that language itself is actually involved in people’s thinking. Indeed, on the hypothesis proposed by Gopnik (2001), language-acquisition has these effects by providing evidence for a pre-linguistic theorizing capacity, which operates throughout development to construct children’s systems of belief and inference” (Carruthers 2002: 660).
D.h.:
Die Tatsache, dass der Erwerb einer Sprache im Gegensatz zu einer anderen dazu führt, dass die Probanden auf andere Dinge achten und etwas anders denken, zeigt nicht, dass die Sprache selbst tatsächlich am Denken der Menschen beteiligt ist. Die von Gopnik (2001) vorgeschlagene Hypothese besagt, dass diese Auswirkungen des Spracherwerbs tatsächlich Belege für eine vorsprachliche Theoriefähigkeit liefern, die während der gesamten Entwicklung wirkt, um die Glaubens- und Schlussfolgerungssysteme der Kinder zu konstruieren“ (Carruthers 2002: 660).
Die Existenz einer vorsprachlichen „Theoriefähigkeit“ haben bereits im Jahr 2004 die Psychologinnen Susan Hespos und Elizabeth Spelke postuliert. Sie haben eine Reihe von Experimenten durchgeführt, in denen sie die
„die Sensibilität von fünf Monate alten Säuglingen in einer englischsprachigen Umgebung für eine begriffliche Unterscheidung [untersucht haben], die im Koreanischen, aber nicht im Englischen, ausgeprägt ist, nämlich die Unterscheidung zwischen ‚fester‘ und ‚loser‘ Passung eines Objekts zu einem anderen“ (Hespos & Spelke 2004: 453; Übersetzung d.d.A.).
Die Autorinnen machten sich in diesen Experimenten die Tatsache zunutze, dass
“… Korean uses different verbs when describing placing a shoe in a large box, where it fits loosely, and when placing the shoe in a small box, where it is a tight fit — even young children who are just beginning to learn Korean honour this distinction when they speak” (Bloom 2004: 410),
d.h.
“… die koreanische Sprache […] unterschiedliche Verben [verwendet], wenn es darum geht, einen Schuh in eine große Schachtel zu legen, in die er lose hineinpasst [d.h. mit Raum zwischen dem Schuh und der Schachtel], und wenn es darum geht, den Schuh in eine kleine Schachtel zu legen, in die er fest [d.h. ohne Raum zwischen ihm und der Schachtel] hineinpasst – selbst kleine Kinder, die gerade erst anfangen, Koreanisch zu lernen, beachten diese Unterscheidung, wenn sie sprechen” (Bloom 2004: 410).
Den Babys wurden verschiedene Beispiele aus einer bestimmten Kategorie (lose oder feste Passung) vorgeführt, bis sie sich langweilten oder sich daran gewöhnt hatten und aufhörten, hinzuschauen, und es wurde beobachtet, ob die Babys wieder (mehr) Interesse zeigten, wenn ihnen Beispiele aus der anderen Kategorie vorgeführt wurden. Wenn dies der Fall sein sollte, würde das dafür sprechen, dass die Babys auf den kategorialen Unterschied zwischen loser und fester Passung reagierten – und somit dafür, dass es sich bei der Wahrnehmung dieses kategorialen Unterschieds um eine universelle bzw. vorsprachliche handelt, statt um eine, die durch das Erlernen der koreanische Sprache vermittelt ist.
Diese Studie hat das folgende Ergebnis erbracht:
Wie Boom (2004: 411) im Zusammenhang mit dieser Studie festhält, ist es also nicht so, dass Sprache Kinder im Verlauf des Spracherwerbs sensibler macht für bestimmte Elemente, die in der Sprache angelegt sind oder betont werden; vielmehr ist das Gegenteil der Fall:
“… the process of learning a particular language involves becoming insensitive to those distinctions that are irrelevant, and learning what to ignore” (Bloom 2004: 411),
d.h.
„… der Prozess des Erlernens einer bestimmten Sprache bedeutet, dass man unempfindlich gegenüber den Unterschieden wird, die irrelevant sind, und lernt, was man ignorieren kann“ (Bloom 2004: 411).
Es scheint also so zu sein, dass es einen von allen Menschen geteilten Vorrat an sinnvollen Unterscheidungen gibt, die später durch Sprache geformt werden, bzw. dass Kinder – zumindest in einigen Bereichen – denken können bevor sie sprechen können, so schreibt Bloom (2004: 411).

Die Tatsache, dass man lernt, was man bei der Kommunikation in einer bestimmten Sprache ignorieren kann, bedeutet nicht notwendigerweise, dass man die Fähigkeit verliert, das für diese Sprache Irrelevante wahrzunehmen oder in einer anderen Sprache auszudrücken, in der es eben nicht irrelevant ist. Es mag sein, dass für viele von uns, die Freude am Sprachen-Lernen haben, diese Freude genau darin liegt, Dingen sprachlich Geltung verschaffen zu können, die in unserer Muttersprache irrelevant sind bzw. vernachlässigt werden. Und vielleicht sind Symbolsysteme wie sie der Mathematik und der Logik zugrundeliegen, ebenso wie Literatur und speziell Dichtung am besten als Versuche anzusehen, Vorstellungen oder Ideen, die in einer bestimmten Sprache nicht oder unzureichend oder nur in sehr komplizierter Weise ausdrückbar sind, in einer alternativen Sprache (mit Bezug auf Symbolsysteme wie in Mathematik und Logik) sparsamer und genauer auszudrücken oder (mit Bezug auf Literatur und speziell Dichtung) überhaupt erst ausdrückbar zu machen, jenseits der Zeilen bzw. Worte, nämlich „zwischen den Zeilen“.
Wie dem auch sei, die Studie von Hespos und Spelke hat gezeigt, dass der mentale „Apparat“ bereits von Babys ihnen ermöglicht, bedeutungsvolle Unterscheidungen vorzunehmen, Monate, bevor sie Zwei-Wort-Sätze sprechen können oder überhaupt erste Worte ihrer Muttersprache zu benutzen lernen. Aber wie weit geht diese Fähigkeit zur kategorialen Unterscheidung? Ist sie einer besonders großen Aufmerksamkeit für die Umgebung im Säuglingsalter geschuldet, also eher ein Ergebnis von Beobachtung/Wahrnehmung, die noch nicht durch Sprache gefiltert ist, oder liegt ihr ein prinzipielles Denkvermögen zugrunde, das diese Bezeichnung, „Denkvermögen“, im engeren Sinn des Wortes „Denken“ verdient?
Es scheint, dass dies tatsächlich der Fall ist, denn Cesana-Arlotti et al. (2018) haben in ihrer eigenen Studie mit 12- bis 19-Monate alten Kindern und mit Hilfe von „okulomotorischen Markern“ – d.h. durch Messung von Augenbewegungen – das Folgende festgestellt:
Für die Existenz und alltägliche Relevanz eines nicht- oder vorsprachlichen Denkvermögens auch bei Erwachsenen spricht eine gerade neu erschienene Studie von Martín-Salguero et al. (2023). Ausgangspunkt dieser Studie ist die Tatsache, dass wir alle in unserem Alltag einfache logische Schlüsse aus unseren Wahrnehmungen ziehen, ohne dass damit eine bewusste Anstrengung oder innere Verbalisierung des zugrundeliegenden Syllogismus bzw. Argumentes verbunden ist.
Ein Beispiel, das die Autoren hierfür geben, ist das folgende: Ich sehe während meiner Fahrt zum Arbeitsplatz jemanden in einiger Entfernung, der wie mein Sohn aussieht, aber ihn habe ich gerade vor der Schule abgesetzt, so dass ich meine Fahrt zum Arbeitsplatz fortsetze. Ich habe die Möglichkeit, dass die Person mein Sohn sein könnte, angesichts der Tatsache, dass ich ihn gerade vor der Schule abgesetzt habe, spontan ausgeschlossen (Martín-Salguero et al. 2023: 1), also offenbar einen spontanen – in diesem Fall: disjunktiven – Schluss gezogen. Solche Schlussfolgerungen sind nicht-verbale deduktive Schlüsse, die wir spontan aus unseren Wahrnehmungen ziehen, und wir ziehen sie x-mal in unserem täglichen Leben.
Ein anderes Beispiel, das dies illustrieren mag: Ich bin gerade damit fertiggeworden, den Küchenboden zu putzen, räume den Eimer weg, komme zurück in die Küche und sehe eine Spur von Katzenpfoten-Abdrücken auf dem noch nicht ganz trockenen Boden. Ich rufe: „Molly, schau‘, was Du gemacht hast! Gerade hatte ich alles so schön sauber“. Molly ist meine Katze, und sobald ich die Spur der Pfotenabdrücke sehe, weiß ich, dass in der kurzen Zeit, in der ich den Eimer weggeräumt habe, die Katze von draußen durch die Katzenklappe ins Haus gekommen sein muss.
Ziel der Studie von Martín-Salguero et al. ist es,
“… to study the dynamics of such spontaneous logical processes when participants watch ordinary scenes not accompanied by linguistic description” (Martín-Salguero et al. 2023: 1),
d.h.
„… die Dynamik solcher spontanen logischen Prozesse zu untersuchen, wenn die Teilnehmer gewöhnliche Szenen sehen, die nicht von einer sprachlichen Beschreibung begleitet werden“ (Martín-Salguero et al. 2023: 1).
Diese Dynamik untersuchen sie zum einen durch neurologisches Imaging und zum anderen durch okulomotorische Bewegungen von etwa fünfzig Erwachsenen. Sie bekamen im Rahmen zweier Experimente Szenen gezeigt, in der zwei Objekte mit identischen oberen Teilen, z.B. ein Ball und eine Schlange, und eine Art Becher auf einer Bühne auftauchen. Anschließend wurden die Objekte so abgedeckt, dass nur der obere Teil der beiden Objekte sichtbar blieb, und eines der beiden wurde vom Becher aufgenommen. Die Probanden sollten anhand der verbleibenden Informationen über das andere Objekt herausfinden, welches Objekt im Becher versteckt war. Zu dieser Versuchsanordnung gab es verschiedene Varianten, darunter eine, die gar keine Schlussfolgerung erlaubte, so dass sich eine relativ elaborierte Versuchsanordnung ergab, deren Einzelheiten im Text von Martín-Salguero et al. (2023) auf den Seiten 2 und 3 nachgelesen werden können.
Neurologische Prozesse logischen Schlussfolgerns wurden bislang nur mit Hilfe verbalen Material in sprachlicher oder schriftlicher Form untersucht (und damit: so gut wie ausschließlich bei Erwachsenen oder Kindern, die bereits Lesen und Schreiben konnten). Vor diesem Hintergrund betreten Martín-Salguero et al. mit ihrer Studie also Neuland, wie die Erstautorin, Ana Martín vom Zentrum für Gehirn und Kognition an der Universität Pompeu Fabra in Barcelona, in der Pressemitteilung vom 5. April 2023 zur Studie betont:
“For the first time, the basic units of thought are being studied at behavioural level and through brain imagery without recourse to verbal tasks”,
d.h.
„Zum ersten Mal werden die Grundeinheiten des Denkens auf der Verhaltensebene und mit Hilfe von Gehirnbildern untersucht, ohne Rückgriff auf verbale Aufgaben“.
Was die Ergebnisse dieser Studie betrifft, so beobachteten die Autoren anhand des Neuro-Imaging verschiedene Aktivierungsmuster in verschiedenen Phasen im Schlussfolgerungsprozess, aus denen erkennbar wird, dass die mentale Repräsentation von verschiedenen Alternativen verschiedenen ist von der mentalen Repräsentation der Schlussfolgerung, durch die die Unsicherheit mit Bezug auf die Lösung beendet wird (Martín-Salguero et al. 2023: 7). Die Beobachtung der okulomotorischen Bewegungen ergab, dass die Pupillen der Probanden weiteten sich dann, wenn eine Schlussfolgerung gezogen werden musste, stärker als wenn eine Szene den Probanden keine Schlussfolgerung abverlangte (Martín-Salguero et al. 2023: 7).

In der Phase, in der die Schlussfolgerung gezogen wird, aber nicht in der vorhergehenden Phase, ist die beobachtete Gehirnaktivierung derjenigen, die beim sprachlichen Denken aktiviert wird, sehr ähnlich,
“… as if both visual and verbal material elicited a common level of representation and underwent similar computations. The current data are compatible with the possibility that the overlap of activity in verbal and nonverbal reasoning occurs, not because reasoning unfolds in natural language …, but rather because logical forms are represented and acted upon via rules of derivation regardless of the vehicle – whether linguistic or not – that triggers a reasoning process … In short, it’s not that reasoning is linguistic; rather, it is language that is much more dependent on logical processes than generally recognized … The evidence shown here contributes to clarifying the neural mechanisms of elementary logical reasoning in the absence of language” (Martín-Salguero et al. 2023: 9),
d.h.
„als ob sowohl visuelles als auch verbales Material eine gemeinsame Repräsentationsebene hervorrufen und einer ähnlichen Verarbeitung unterzogen werden. Die gegenwärtig vorliegenden Daten sind mit der Möglichkeit kompatibel, dass die Überschneidung der Aktivitäten beim verbalen und nonverbalen Denken nicht deshalb auftritt, weil sich das Denken in natürlicher Sprache vollzieht …, sondern weil logische Formen repräsentiert werden und nach Ableitungsregeln gehandelt wird, unabhängig von dem Vehikel – ob sprachlich oder nicht -, das einen Denkprozess auslöst … Kurz gesagt, es ist nicht so, dass das Denken sprachlich sei; vielmehr ist es die Sprache, die viel mehr von logischen Prozessen abhängig ist als allgemein anerkannt wird … Die hier gezeigten Erkenntnisse tragen zur Klärung der neuronalen Mechanismen des elementaren logischen Denkens ohne Sprache bei“ (Martín-Salguero et al. 2023: 9).
Wie diese Studie und die im Text oben angesprochenen Studien mit Säuglingen zeigen, ist die Fähigkeit zum – bis auf Weiteres zumindest einfachen – logischen Denken nicht sprachlich vermittelt bzw. setzt Sprache nicht voraus. (Vielmehr scheint das Gegenteil der Fall zu sein.) Zu meinen, dass nicht gedacht werden könne, was nicht gesagt werden kann, ist dementsprechend falsch.
Literatur
Bloom, Paul, 2004: Children Think Before They Speak. Nature 430 (6998): 410-411.
Carruthers, Peter, 2002: The Cognitive Functions of Language. Behavioral and Brain Sciences 25(6): 657-674.
Cesana-Arlotti, Nicoló, Martín, Ana, Téglás, Ernö, et al., 2018: Precursors of Logical Reasoning in Preverbal Human Infants. Science 359(6381): 1263-1266.
Martín-Salguero, Ana, Reverberi, Carlo, Solari, Aldo, et al., 2023: Seeing Inferences: Brain Dynamics and Oculomotor Signatures of Non-verbal Deduction. Scientific Reports 13: 2342. Doi: 10.1038/s41598-023-29307-3.
Hespos, Susan J., & Spelke, Elizabeth S., 2004: Conceptual Precursors to Language. Nature 430(6998): 453-456.
Whorf, Benjamin Lee, 1956[1936]: The Punctual and Segmentative Verbs in Hopi, S. 51-64 in: Whorf, Benjamin Lee: Language, Thought, and Reality. Edited and with an introduction by John B. Carroll. New York: MIT and John Wiley & Sons.
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Der seit Humboldt bestehende Streit, ob das Denken die Sprache oder umgekehrt bestimmt, erinnert etwas an das Henne/Ei-Problem.
In den tradtionalen Mythologien waren die logoi der primordialen Ursprache mit dem Wesen der damit ausgedrückten Dinge ident. Somit sind die logoi in gewissen Hinsicht mit den platonischen Archetypen gleichzusetzen. In den Sprachen, die sich im Laufe des kosmologischen Verfallsprozesses bildeten, ist diese Identität nicht mehr gegeben.
Die Sapir/Whorf-These würde ich einordnen in die zeitgenössische postmoderne “Dekonstruktion”. Wenn das Denken nicht unabhängig von der Sprache erfolgt, kann man durch Auferlegung eines Neusprech das Denken der Menschen steuern. In diesem Sinne ist die gegenwärtige gutmenschliche Sprachpolizei zu durchschauen und zu ‘dekonstruieren’ ☺.
Zeigt dies nicht eindrucksvoll, wie wichtig es ist, unterscheiden zu können? Und heißt “unterscheiden” im Lateinischen nicht “discriminare”? Ist also Diskriminierung eventuell eine Eigenschaft intelligenter Menschen?
Ich frage für einen Freund.
Intellegere . . – etwa so :
“Quamvis sint sub aqua, sub aqua maledicere temptant [tentant]” ?
Vielleicht mache ich mir das ein bisschen zu einfach, aber ich sehe, dass Tiere denken können. Und die sprechen nicht (auch Papageien sprechen nicht wirklich).
Schön zu sehen, wenn man einem Hund oder anderem Tier einen Zaubertrick zeigt. Irgendwas verschwinden lässt z.B., es gibt tausende von Beispielen auf Youtube.
Ganz klar erkennt man, dass die Tiere eine klare Vorstellung von der Wirklichkeit haben und sehr verblüfft sind, wenn diese (scheinbar) falsifiziert wird.
Wie gesagt, vielleicht mach ich mir das zu einfach …
@Fähigkeit zum logischen Schlussfolgern
angeboren – also in der Genetik angelegt und per mRNA zerstörbar
In jedem Fall aber auch durch die darwinschen Regeln geübt !
Und nach meinen Beobachtungen oftmals auf bestimmte Bereiche beschränkt.
Wie könnten sonst Leute, die bei ihren Standart-Themen im logischen Denken brillieren, sonst bei anderen Themenbereichen wie Corona oder Klima so abstinken !
Logisches Denken scheint kein Allgemeingut zu sein, sondern sich individuell auf bestimmte geforderte Bereiche zu beschränken.
Sehr interessant ! Danke
Die Forschungsgeschichte (eines Forschungsgegenstandes wie die Sprache) bietet nicht nur didaktische Möglichkeiten und Vorteile (wie besonders von Martin Wagenschein dargestellt), sondern auch methodische. Selbstverständlich ist nicht jedes „logische Denken“ an die Sprache gebunden. Allerdings sollte man hier (um eben die Forschungsgeschichte dieses Gegenstandes zu beachten) besser formulieren und mit Piaget sagen: Nicht jedes Denken ist an die semiotische Sprache gebunden. Selbstverständlich gibt es (nach Piaget) auch ein (gemessen an der semiotischen Kompetenz) vorsprachliches Denken. Dieses hat er umfangreich untersucht: die sensomotorische Intelligenz.
Auch im Bereich der (situationsverhafteten) sensomotorischen Intelligenz gibt es Denken, z.B. wenn ein Kleinkind etwas haben will, das außerhalb seiner Reichweite liegt, und an der Unterlage zieht, worauf das Erwünschte liegt. Oder: Ein Gegenstand verschwindet rechts aus dem Blickfeld eines Kleinkindes und dieses schaut nach links, ob dieser nicht dort wieder auftaucht. Oder: Das Kleinkind sieht einen Gegenstand, den es haben will, und geht einen notwendigen Umweg, diesen zu erreichen. Auch das obige Beispiel des frischgeputzten Bodens mit Katzenspuren ist mit dem sensomotorischen resp. vorsprachlichen resp. vorbegrifflichen Denken zu erklären: Es braucht keinen sprachlichen Begriff der Katze, um diese Situation zu erfassen, genauso wie ein Wolf die Witterung einer Spur ohne semiotische resp. begriffliche Kompetenzen erfassen und nutzen kann; assoziative Erkenntnisse reichen hier völlig aus zur Erklärung.
Jedoch erfährt das Denken mit der (nur dem Menschen eigenen) semiotischen Kompetenz eine entscheidende Erweiterung: Das Denken kann nun den unmittelbar sensorisch erfahrbaren, situativen Bereich verlassen. Nun können Gegenstände und Sachverhalte zum Inhalt des Denkens werden, die nur in Form eines Begriffes präsent sind.
Langer Rede kurzer Sinn: Vorbegriffliches Denken als Beleg zu nehmen, dass sich Denken auch ohne Sprache bzw. sprachlich-semiotische Begriffe vollzieht, ignoriert die einzigartige Erweiterung des Denkens, die nur der Mensch (zumindest auf diesem Planeten) vollzogen hat: die Erweiterung des Denkens hin zum begrifflichen Denken.
Bleibt die Frage: Warum hat der Mensch diesen Weg beschritten? Die Antwort kann nur mit dem Hinweis auf eine menschliche (anthropologische) Konstante gegeben werden: Der Mensch ist nicht nur ein Gemeinschaftswesen, er ist ein kooperierendes Gemeinschaftswesen. Auch wenn dies nicht notwendig zur situationsbefreienden Begrifflichkeit führt – der Mensch hat diesen Weg in seiner Phylogenese beschritten, und nur der Mensch. Nur der Mensch kann befreit aus der sensorischen Situation Denken.
Das Forschungsgeschichtliche als Methode will also – so meine Sicht – besagen: Forschungsgeschichtliche Erkenntnisse bzw. Theorien (wie z.B. die sensomotorische Intelligenz nach Piaget) sollten erst dann unbeachtet bleiben, wenn man aufzeigt, wo die aktuellen Erkenntnisse den Rahmen der Erklärmöglichkeiten dieser Theorie sprengen.
Schon. Aber die Begriffe fallen ja nicht aus dem Himmel, die müssen von jemandem erdacht werden – der dafür zunächst noch keine Worte hat, aber etwas erkannt hat. Über die Versprachlichung als solche ist dabei ja wenig ausgesagt, aber durchaus über die im Hintergrund stets mitlaufende Überprüfung auf Sinnigkeit.
Ich erinnere mich an eine Reihe von Artikeln in der WamS in den 1990ern. Einer lautete. “Alle Töchter Evas haben den selben Großvater”. In einem anderen ging es um Versuche mit Säuglingen, denen man Unmögliches vorführte: Ein fallender Gegenstand der in der Luft stehen bleibt. Sie reagierten darauf.
Meine Beobachtung mit der Katze Jojo. Wir standen im Garten. Plötzlich rast Jojo an uns vorbei Richtung Haustür. Auf halbem Weg bremste sie abrupt, rannte zurück ums Hauseck und sprang beim Fenster hinein.
Interessanter Artikel, danke.