Schlussfolgern ohne Worte. Studien zeigen: Die Fähigkeit zum logischen Schlussfolgern ist nicht durch Sprache vermittelt

Seit vielen Jahrzehnten diskutieren Psychologen und speziell Kognitionswissenschaftler, Neurologen, Sprachwissenschaftler, Philosophen und Sozialwissenschaftler, in welchem Verhältnis Sprache und Denken zueinander stehen.

Ist Sprache „nur“ das Medium, durch das Denken erfolgt oder ein Denkprozess oder sein Ergebnis mitgeteilt werden können?
Oder ist Sprache die Voraussetzung, auf der konzeptionelles Denken erst erfolgen kann?
Baut das Erlernen einer Sprache durch Kinder auf bereits vorhandenen kognitiven, nicht-sprachlichen Fähigkeiten auf, oder erwerben Kinder Denkfähigkeit auf der Grundlage der Sprache, die sie von den Erwachsenen erlernen und übernehmen?
Hat Sprache also „nur“ eine kommunikative Funktion – nennen wir diese Vorstellung die „kommunikative Konzeption von Sprache“ –, oder bestimmt sie das menschliche Denken auf grundlegende Weise?

Die zuletzt genannte Vorstellung wollen wir als „kognitive Konzeption von Sprache“ bezeichnen, die in der Literatur häufig ohne weitere Differenzierung auch als „Sapir-Whorf-Hypothese“ oder als die Vorstellung von „sprachlicher Relativität“ („linguistic relativity“) bezeichnet wird.

In ihren jeweils stärksten Varianten lauten die Antworten auf diese Fragen entweder „Denken kann auch, wer keine Sprache hat, ggf. niemals sprechen oder Sprache zu verstehen gelernt hat“ oder „Niemand kann etwas denken, was er nicht formulieren kann“. Beide starken Varianten und viele schwächere Varianten der ein oder anderen Version haben ihre jeweiligen Vertreter. Tendenziell sind Vertreter der kommunikativen Konzeption von Sprache vor allem unter Kognitionswissenschaftlern zu finden, während Vertreter der kognitiven Konzeption von Sprache vor allem unter Sozialwissenschaftlern zu finden sind.

Vertreter der kognitiven Konzeption von Sprache berufen sich gerne auf eher Anekdotisches oder die Alltagserfahrung, um ihre Position zu begründen, z.B. darauf, dass wir einen großen Teil des Tages damit verbringen, mit uns selbst zu sprechen, einen inneren Dialog zu führen, in dessen Verlauf unsere Gedanken in sprachlicher Form an uns vorbeiziehen oder wir unsere Gedanken bewusst sprachlich formulieren, wenn sie auch unausgesprochen bleiben. Und besonders häufig berufen sie sich – nach dem Vorbild von Benjamin Lee Whorf – auf interkulturelle Vergleiche, die zeigen sollen, dass die Muttersprache, die Menschen erlernen, ihre Wahrnehmung von Objekten prägt, die ihrerseits bestimmt, wie Objekte klassifiziert und gruppiert werden. Dabei bleibt aber oft unbestimmt, wenn nicht gänzlich offen, von welcher praktischen Relevanz dies ist, und vor allem: ob und inwieweit und wie die jeweils beschriebenen Spezifika einer Sprache tatsächlich das Denken der Menschen beeinflusst.

So ist Whorf auf der Basis seiner Analyse der Sprache der Hopi und insbesondere auf der Basis ihrer Verbformen zur folgenden Einschätzung gekommen:

“We have just seen how the Hopi language maps out a certain terrain of what might be termed primitive physics. We have observed how, with very thorough con- sistency and not a little true scientific precision, all sorts of vibratile phenomena in nature are classified by being referred to various elementary types of deformation process … The Hopi actually have a language better equipped to deal with such vibratile phenomena than is our latest scientific terminology. This is simply because their language establishes a general contrast between two types of experience, which contrast corresponds to a contrast that, as our science has discovered, is all-pervading and fundamental in nature. According to the conceptions of modern physics, the contrast of particle and field of vibrations is more fundamental in the world of nature than such contrasts as space and time, or past, present, and future, which are the sort of contrasts that our own language imposes upon us. The Hopi aspect-contrast which we have observed, being obligatory upon their verb forms, practically forces the Hopi to notice and observe vibratory phenomena, and furthermore encourages them to find names for and to classify such phenomena” (Whorf 1956[1936]: 55-56).
“Wir haben gerade gesehen, wie die Sprache der Hopi ein bestimmtes Gebiet dessen absteckt, was man als primitive Physik bezeichnen könnte. Wir haben beobachtet, wie mit sehr gründlicher Konsequenz und nicht wenig echter wissenschaftlicher Präzision alle Arten von Schwingungsphänomenen in der Natur klassifiziert werden, indem sie mit verschiedenen elementare Arten von Verformungsprozessen in Verbindung gebracht werden … Die Hopi haben tatsächlich eine Sprache, die besser geeignet ist, mit solchen vibrierenden Phänomenen umzugehen, als unsere aktuelle wissenschaftliche Terminologie. Das liegt einfach daran, dass ihre Sprache einen allgemeinen Kontrast zwischen zwei Arten von Erfahrungen herstellt, der einem Kontrast entspricht, der, wie unsere Wissenschaft entdeckt hat, in der Natur allgegenwärtig und grundlegend ist. Nach den Vorstellungen der modernen Physik ist der Gegensatz von Teilchen und Schwingungsfeld in der Welt der Natur grundlegender als solche Gegensätze wie Raum und Zeit oder Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, die die Art von Gegensätzen sind, die unsere eigene Sprache uns auferlegt. Der Hopi-Aspekt-Kontrast, den wir beobachtet haben und der für ihre Verbformen obligatorisch ist, zwingt die Hopi praktisch dazu, Schwingungsphänomene wahrzunehmen und zu beobachten, und ermutigt sie darüber hinaus, Namen für solche Phänomene zu finden und sie zu klassifizieren” (Whorf 1956[1936]: 55-56).

So interessant dies alles sein mag – dass Spezifika einer Sprache die Wahrnehmung der Sprecher dieser Sprache auf bestimmte (Elemente von) Phänomene(n) lenkt, ist das eine, das andere ist, ob und wie dies das Denken der Hopi beeinflusst. Vielleicht hat Whorf gar nicht klar erkannt, dass dies zwei verschiedende Dinge sind, eben weil er einfach voraussetzte, dass die Sprache die Wahrnehmung und vermittelt über die Wahrnehmung das Denken auf grundlegende Weise präge. Und wie Peter Carruthers bemerkt hat:

„The fact that acquiring one language as opposed to another causes subjects to attend to different things and to reason somewhat differently doesn’t show that language itself is actually involved in people’s thinking. Indeed, on the hypothesis proposed by Gopnik (2001), language-acquisition has these effects by providing evidence for a pre-linguistic theorizing capacity, which operates throughout development to construct children’s systems of belief and inference” (Carruthers 2002: 660).

D.h.:

Die Tatsache, dass der Erwerb einer Sprache im Gegensatz zu einer anderen dazu führt, dass die Probanden auf andere Dinge achten und etwas anders denken, zeigt nicht, dass die Sprache selbst tatsächlich am Denken der Menschen beteiligt ist. Die von Gopnik (2001) vorgeschlagene Hypothese besagt, dass diese Auswirkungen des Spracherwerbs tatsächlich Belege für eine vorsprachliche Theoriefähigkeit liefern, die während der gesamten Entwicklung wirkt, um die Glaubens- und Schlussfolgerungssysteme der Kinder zu konstruieren“ (Carruthers 2002: 660).

Die Existenz einer vorsprachlichen „Theoriefähigkeit“ haben bereits im Jahr 2004 die Psychologinnen Susan Hespos und Elizabeth Spelke postuliert. Sie haben eine Reihe von Experimenten durchgeführt, in denen sie die

„die Sensibilität von fünf Monate alten Säuglingen in einer englischsprachigen Umgebung für eine begriffliche Unterscheidung [untersucht haben], die im Koreanischen, aber nicht im Englischen, ausgeprägt ist, nämlich die Unterscheidung zwischen ‚fester‘ und ‚loser‘ Passung eines Objekts zu einem anderen“ (Hespos & Spelke 2004: 453; Übersetzung d.d.A.).

Die Autorinnen machten sich in diesen Experimenten die Tatsache zunutze, dass

“… Korean uses different verbs when describing placing a shoe in a large box, where it fits loosely, and when placing the shoe in a small box, where it is a tight fit — even young children who are just beginning to learn Korean honour this distinction when they speak” (Bloom 2004: 410),

d.h.

“… die koreanische Sprache […] unterschiedliche Verben [verwendet], wenn es darum geht, einen Schuh in eine große Schachtel zu legen, in die er lose hineinpasst [d.h. mit Raum zwischen dem Schuh und der Schachtel], und wenn es darum geht, den Schuh in eine kleine Schachtel zu legen, in die er fest [d.h. ohne Raum zwischen ihm und der Schachtel] hineinpasst – selbst kleine Kinder, die gerade erst anfangen, Koreanisch zu lernen, beachten diese Unterscheidung, wenn sie sprechen” (Bloom 2004: 410).

Den Babys wurden verschiedene Beispiele aus einer bestimmten Kategorie (lose oder feste Passung) vorgeführt, bis sie sich langweilten oder sich daran gewöhnt hatten und aufhörten, hinzuschauen, und es wurde beobachtet, ob die Babys wieder (mehr) Interesse zeigten, wenn ihnen Beispiele aus der anderen Kategorie vorgeführt wurden. Wenn dies der Fall sein sollte, würde das dafür sprechen, dass die Babys auf den kategorialen Unterschied zwischen loser und fester Passung reagierten – und somit dafür, dass es sich bei der Wahrnehmung dieses kategorialen Unterschieds um eine universelle bzw. vorsprachliche handelt, statt um eine, die durch das Erlernen der koreanische Sprache vermittelt ist.

Diese Studie hat das folgende Ergebnis erbracht:

“Like adult Korean speakers but unlike adult English speakers, these infants detected this distinction and divided a continuum of motion-into-contact actions into tight-and loose-fit categories. Infants’ sensitivity to this distinction is linked to representations of object mechanics11 that are shared by non-human animals12–14. Language learning therefore seems to develop by linking linguistic forms to universal, pre-existing representations of sound and meaning” (Hespos & Spelke 2004: 453).
„Wie erwachsene Koreanisch-Sprecher, aber anders als erwachsene Englisch-Sprecher, erkannten diese Säuglinge diese Unterscheidung und unterteilten ein Kontinuum von Handlungen, bei denen Bewegung in Kontakt resultiert, in Kategorien mit fester und loser Passform. Die Sensibilität von Säuglingen für diese Unterscheidung ist mit Repräsentationen der Objektmechanik … verknüpft, die auch von nicht-menschlichen Tieren verwendet werden … Der Spracherwerb scheint sich daher durch die Verknüpfung von sprachlichen Formen mit universellen, bereits existierenden Repräsentationen von Klang und Bedeutung zu entwickeln” (Hespos & Spelke 2004: 453).

Wie Boom (2004: 411) im Zusammenhang mit dieser Studie festhält, ist es also nicht so, dass Sprache Kinder im Verlauf des Spracherwerbs sensibler macht für bestimmte Elemente, die in der Sprache angelegt sind oder betont werden; vielmehr ist das Gegenteil der Fall:

“… the process of learning a particular language involves becoming insensitive to those distinctions that are irrelevant, and learning what to ignore” (Bloom 2004: 411),

d.h.

„… der Prozess des Erlernens einer bestimmten Sprache bedeutet, dass man unempfindlich gegenüber den Unterschieden wird, die irrelevant sind, und lernt, was man ignorieren kann“ (Bloom 2004: 411).

Es scheint also so zu sein, dass es einen von allen Menschen geteilten Vorrat an sinnvollen Unterscheidungen gibt, die später durch Sprache geformt werden, bzw. dass Kinder – zumindest in einigen Bereichen – denken können bevor sie sprechen können, so schreibt Bloom (2004: 411).

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Die Tatsache, dass man lernt, was man bei der Kommunikation in einer bestimmten Sprache ignorieren kann, bedeutet nicht notwendigerweise, dass man die Fähigkeit verliert, das für diese Sprache Irrelevante wahrzunehmen oder in einer anderen Sprache auszudrücken, in der es eben nicht irrelevant ist. Es mag sein, dass für viele von uns, die Freude am Sprachen-Lernen haben, diese Freude genau darin liegt, Dingen sprachlich Geltung verschaffen zu können, die in unserer Muttersprache irrelevant sind bzw. vernachlässigt werden. Und vielleicht sind Symbolsysteme wie sie der Mathematik und der Logik zugrundeliegen, ebenso wie Literatur und speziell Dichtung am besten als Versuche anzusehen, Vorstellungen oder Ideen, die in einer bestimmten Sprache nicht oder unzureichend oder nur in sehr komplizierter Weise ausdrückbar sind, in einer alternativen Sprache (mit Bezug auf Symbolsysteme wie in Mathematik und Logik) sparsamer und genauer auszudrücken oder (mit Bezug auf Literatur und speziell Dichtung) überhaupt erst ausdrückbar zu machen, jenseits der Zeilen bzw. Worte, nämlich „zwischen den Zeilen“.

Wie dem auch sei, die Studie von Hespos und Spelke hat gezeigt, dass der mentale „Apparat“ bereits von Babys ihnen ermöglicht, bedeutungsvolle Unterscheidungen vorzunehmen, Monate, bevor sie Zwei-Wort-Sätze sprechen können oder überhaupt erste Worte ihrer Muttersprache zu benutzen lernen. Aber wie weit geht diese Fähigkeit zur kategorialen Unterscheidung? Ist sie einer besonders großen Aufmerksamkeit für die Umgebung im Säuglingsalter geschuldet, also eher ein Ergebnis von Beobachtung/Wahrnehmung, die noch nicht durch Sprache gefiltert ist, oder liegt ihr ein prinzipielles Denkvermögen zugrunde, das diese Bezeichnung, „Denkvermögen“, im engeren Sinn des Wortes „Denken“ verdient?

Es scheint, dass dies tatsächlich der Fall ist, denn Cesana-Arlotti et al. (2018) haben in ihrer eigenen Studie mit 12- bis 19-Monate alten Kindern und mit Hilfe von „okulomotorischen Markern“ – d.h. durch Messung von Augenbewegungen – das Folgende festgestellt:

“Infants are able to entertain hypotheses about complex events and to modify them rationally when faced with inconsistent evidence. These capacities suggest that infants can use elementary logical representations to frame and prune hypotheses. By presenting scenes containing ambiguities about the identity of an object, here we show that 12- and 19-month-old infants look longer at outcomes that are inconsistent with a logical inference necessary to resolve such ambiguities. At the moment of a potential deduction, infants’ pupils dilated, and their eyes moved toward the ambiguous object when inferences could be computed, in contrast to transparent scenes not requiring inferences to identify the object. These oculomotor markers resembled those of adults inspecting similar scenes, suggesting that intuitive and stable logical structures involved in the interpretation of dynamic scenes may be part of the fabric of the human mind” (Cesana-Arlotti et al. 2018: 1263).
„Kleinkinder sind in der Lage, Hypothesen über komplexe Ereignisse aufzustellen und sie auf vernünftige Weise/rational anzupassen, wenn sie mit widersprüchlichen Material konfrontiert werden. Diese Fähigkeiten legen nahe, dass Säuglinge elementare logische Darstellungen verwenden können, um Hypothesen zu formulieren und anzupassen. Durch die Präsentation von Szenen, die Mehrdeutigkeiten mit Bezug auf die Identität eines Objekts enthalten, zeigen wir hier, dass 12 und 19 Monate alte Säuglinge Szenen länger anschauen, wenn sie nicht zu der logischen Schlussfolgerung passen, die notwendig wäre, um solche Mehrdeutigkeiten aufzulösen. Im Moment einer möglichen Schlussfolgerung weiteten sich die Pupillen der Säuglinge, und ihre Augen bewegten sich auf das mehrdeutige Objekt zu, wenn Schlussfolgerungen gezogen werden konnten, im Gegensatz zu transparenten Szenen, die keine Schlussfolgerungen zur Identifizierung des Objekts erfordern. Diese okulomotorischen Marker ähnelten denen von Erwachsenen, die ähnliche Szenen untersuchten, was darauf hindeutet, dass intuitive und stabile logische Strukturen, die bei der Interpretation dynamischer Szenen eine Rolle spielen, Teil der Struktur des menschlichen Geistes sind“ (Cesana-Arlotti et al. 2018: 1263).

Für die Existenz und alltägliche Relevanz eines nicht- oder vorsprachlichen Denkvermögens auch bei Erwachsenen spricht eine gerade neu erschienene Studie von Martín-Salguero et al. (2023). Ausgangspunkt dieser Studie ist die Tatsache, dass wir alle in unserem Alltag einfache logische Schlüsse aus unseren Wahrnehmungen ziehen, ohne dass damit eine bewusste Anstrengung oder innere Verbalisierung des zugrundeliegenden Syllogismus bzw. Argumentes verbunden ist.

Ein Beispiel, das die Autoren hierfür geben, ist das folgende: Ich sehe während meiner Fahrt zum Arbeitsplatz jemanden in einiger Entfernung, der wie mein Sohn aussieht, aber ihn habe ich gerade vor der Schule abgesetzt, so dass ich meine Fahrt zum Arbeitsplatz fortsetze. Ich habe die Möglichkeit, dass die Person mein Sohn sein könnte, angesichts der Tatsache, dass ich ihn gerade vor der Schule abgesetzt habe, spontan ausgeschlossen (Martín-Salguero et al. 2023: 1), also offenbar einen spontanen – in diesem Fall: disjunktiven – Schluss gezogen. Solche Schlussfolgerungen sind nicht-verbale deduktive Schlüsse, die wir spontan aus unseren Wahrnehmungen ziehen, und wir ziehen sie x-mal in unserem täglichen Leben.

Ein anderes Beispiel, das dies illustrieren mag: Ich bin gerade damit fertiggeworden, den Küchenboden zu putzen, räume den Eimer weg, komme zurück in die Küche und sehe eine Spur von Katzenpfoten-Abdrücken auf dem noch nicht ganz trockenen Boden. Ich rufe: „Molly, schau‘, was Du gemacht hast! Gerade hatte ich alles so schön sauber“. Molly ist meine Katze, und sobald ich die Spur der Pfotenabdrücke sehe, weiß ich, dass in der kurzen Zeit, in der ich den Eimer weggeräumt habe, die Katze von draußen durch die Katzenklappe ins Haus gekommen sein muss.

Ziel der Studie von Martín-Salguero et al. ist es,

“… to study the dynamics of such spontaneous logical processes when participants watch ordinary scenes not accompanied by linguistic description” (Martín-Salguero et al. 2023: 1),

d.h.

„… die Dynamik solcher spontanen logischen Prozesse zu untersuchen, wenn die Teilnehmer gewöhnliche Szenen sehen, die nicht von einer sprachlichen Beschreibung begleitet werden“ (Martín-Salguero et al. 2023: 1).

Diese Dynamik untersuchen sie zum einen durch neurologisches Imaging und zum anderen durch okulomotorische Bewegungen von etwa fünfzig Erwachsenen. Sie bekamen im Rahmen zweier Experimente Szenen gezeigt, in der zwei Objekte mit identischen oberen Teilen, z.B. ein Ball und eine Schlange, und eine Art Becher auf einer Bühne auftauchen. Anschließend wurden die Objekte so abgedeckt, dass nur der obere Teil der beiden Objekte sichtbar blieb, und eines der beiden wurde vom Becher aufgenommen. Die Probanden sollten anhand der verbleibenden Informationen über das andere Objekt herausfinden, welches Objekt im Becher versteckt war. Zu dieser Versuchsanordnung gab es verschiedene Varianten, darunter eine, die gar keine Schlussfolgerung erlaubte, so dass sich eine relativ elaborierte Versuchsanordnung ergab, deren Einzelheiten im Text von Martín-Salguero et al. (2023) auf den Seiten 2 und 3 nachgelesen werden können.

Neurologische Prozesse logischen Schlussfolgerns wurden bislang nur mit Hilfe verbalen Material in sprachlicher oder schriftlicher Form untersucht (und damit: so gut wie ausschließlich bei Erwachsenen oder Kindern, die bereits Lesen und Schreiben konnten). Vor diesem Hintergrund betreten Martín-Salguero et al. mit ihrer Studie also Neuland, wie die Erstautorin, Ana Martín vom Zentrum für Gehirn und Kognition an der Universität Pompeu Fabra in Barcelona, in der Pressemitteilung vom 5. April 2023 zur Studie betont:

“For the first time, the basic units of thought are being studied at behavioural level and through brain imagery without recourse to verbal tasks”,

d.h.

„Zum ersten Mal werden die Grundeinheiten des Denkens auf der Verhaltensebene und mit Hilfe von Gehirnbildern untersucht, ohne Rückgriff auf verbale Aufgaben“.

Was die Ergebnisse dieser Studie betrifft, so beobachteten die Autoren anhand des Neuro-Imaging verschiedene Aktivierungsmuster in verschiedenen Phasen im Schlussfolgerungsprozess, aus denen erkennbar wird, dass die mentale Repräsentation von verschiedenen Alternativen verschiedenen ist von der mentalen Repräsentation der Schlussfolgerung, durch die die Unsicherheit mit Bezug auf die Lösung beendet wird (Martín-Salguero et al. 2023: 7). Die Beobachtung der okulomotorischen Bewegungen ergab, dass die Pupillen der Probanden weiteten sich dann, wenn eine Schlussfolgerung gezogen werden musste, stärker als wenn eine Szene den Probanden keine Schlussfolgerung abverlangte (Martín-Salguero et al. 2023: 7).

“These phases are associated to different patterns of brain activity and display characteristic oculomotor markers. In particular, beyond occipital activations induced by visual processing, the representation of an unknown object recruits the medial prefrontal cortex (mPFC, BA10). Involved in many cognitive functions, mPFC has also been related to general inferences during text comprehension … in planning, decision making, and control of alternative strategies … and during hierarchical processing in natural language … Interestingly, lesions in medial frontal areas impair the monitoring of a logical reasoning also when presented verbally …” (Martín-Salguero et al. 2023: 7).
„Diese Phasen sind mit unterschiedlichen Muster der Gehirnaktivität verbunden und weisen charakteristische okulomotorische Marker auf. Insbesondere aktiviert neben den okzipitalen Aktivierungen, die durch die visuelle Verarbeitung ausgelöst werden, die Repräsentation eines unbekannten Objekts den medialen präfrontalen Kortex (mPFC, BA10). Der mPFC ist an vielen kognitiven Funktionen beteiligt und wurde auch in Verbindung gebracht mit allgemeinen Schlussfolgerungen während des Textverstehens …, bei der Planung, Entscheidungsfindung und Kontrolle alternativer Strategien … und während der hierarchischen Verarbeitung natürlicher Sprache … Interessanterweise beeinträchtigen Läsionen in medialen frontalen Arealen die Kontrolle einer logischer Argumentation auch dann, wenn sie verbal präsentiert wird …“ (Martín-Salguero et al. 2023: 7).

Quelle: brmlab, z.s.

In der Phase, in der die Schlussfolgerung gezogen wird, aber nicht in der vorhergehenden Phase, ist die beobachtete Gehirnaktivierung derjenigen, die beim sprachlichen Denken aktiviert wird, sehr ähnlich,

“… as if both visual and verbal material elicited a common level of representation and underwent similar computations. The current data are compatible with the possibility that the overlap of activity in verbal and nonverbal reasoning occurs, not because reasoning unfolds in natural language …, but rather because logical forms are represented and acted upon via rules of derivation regardless of the vehicle – whether linguistic or not – that triggers a reasoning process … In short, it’s not that reasoning is linguistic; rather, it is language that is much more dependent on logical processes than generally recognized … The evidence shown here contributes to clarifying the neural mechanisms of elementary logical reasoning in the absence of language” (Martín-Salguero et al. 2023: 9),

d.h.

„als ob sowohl visuelles als auch verbales Material eine gemeinsame Repräsentationsebene hervorrufen und einer ähnlichen Verarbeitung unterzogen werden. Die gegenwärtig vorliegenden Daten sind mit der Möglichkeit kompatibel, dass die Überschneidung der Aktivitäten beim verbalen und nonverbalen Denken nicht deshalb auftritt, weil sich das Denken in natürlicher Sprache vollzieht …, sondern weil logische Formen repräsentiert werden und nach Ableitungsregeln gehandelt wird, unabhängig von dem Vehikel – ob sprachlich oder nicht -, das einen Denkprozess auslöst … Kurz gesagt, es ist nicht so, dass das Denken sprachlich sei; vielmehr ist es die Sprache, die viel mehr von logischen Prozessen abhängig ist als allgemein anerkannt wird … Die hier gezeigten Erkenntnisse tragen zur Klärung der neuronalen Mechanismen des elementaren logischen Denkens ohne Sprache bei“ (Martín-Salguero et al. 2023: 9).

Wie diese Studie und die im Text oben angesprochenen Studien mit Säuglingen zeigen, ist die Fähigkeit zum – bis auf Weiteres zumindest einfachen – logischen Denken nicht sprachlich vermittelt bzw. setzt Sprache nicht voraus. (Vielmehr scheint das Gegenteil der Fall zu sein.) Zu meinen, dass nicht gedacht werden könne, was nicht gesagt werden kann, ist dementsprechend falsch.


Literatur

Bloom, Paul, 2004: Children Think Before They Speak. Nature 430 (6998): 410-411.

Carruthers, Peter, 2002: The Cognitive Functions of Language. Behavioral and Brain Sciences 25(6): 657-674.

Cesana-Arlotti, Nicoló, Martín, Ana, Téglás, Ernö, et al., 2018: Precursors of Logical Reasoning in Preverbal Human Infants. Science 359(6381): 1263-1266.

Martín-Salguero, Ana, Reverberi, Carlo, Solari, Aldo, et al., 2023: Seeing Inferences: Brain Dynamics and Oculomotor Signatures of Non-verbal Deduction. Scientific Reports 13: 2342. Doi: 10.1038/s41598-023-29307-3.

Hespos, Susan J., & Spelke, Elizabeth S., 2004: Conceptual Precursors to Language. Nature 430(6998): 453-456.

Whorf, Benjamin Lee, 1956[1936]: The Punctual and Segmentative Verbs in Hopi, S. 51-64 in: Whorf, Benjamin Lee: Language, Thought, and Reality. Edited and with an introduction by John B. Carroll. New York: MIT and John Wiley & Sons.

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