Abschreckender Glaube: Sind Gläubige die Musterschüler der WHO?

Eine Pressemeldung des Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der Wissenschaftlichen Forschung vom heutigen Tag, beginnt wie folgt:

“Karl Marx hat die Religion als ‘Opium des Volks” bezeichnet. Dabei scheint sie Leute vom Suchtmittelkonsum abzuhalten, wie neue Umfrageresultate nahelegen. Forschende um Gerhard Gmel vom Universitätsspital Lausanne zeigen in der Fachzeitschrift “Substance Use & Misuse” …, dass es unter religiösen jungen Menschen weniger Personen gibt, die zu Suchtmitteln greifen, als unter agnostischen und atheistischen Gleichaltrigen der Schweiz”.

Zunächst zu Karl Marx, denn das geflügelte Wort vom Opium des Volkes, das seit Jahrzehnten die Runde macht, hat einen Kontext, ist – wenn man so will – argumentativ vorbereitet:

Marx Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie“Das Fundament der irreligiösen Kritik ist: Der Mensch macht die Religion, die Religion macht nicht den Menschen. Und zwar ist die Religion das Selbstbewußtsein und das Selbstgefühl des Menschen, der sich selbst entweder noch nicht erworben oder schon wieder verloren hat. Aber der Mensch, das ist kein abstraktes, außer der Welt hockendes Wesen. Der Mensch, das ist die Welt des Menschen, Staat, Sozietät. Dieser Staat, diese Sozietät produzieren die Religion, ein verkehrtes Weltbewußtsein, weil sie eine verkehrte Welt sind. Die Religion ist die allgemeine Theorie dieser Welt, ihr enzyklopädisches Kompendium, ihre Logik in populärer Form, ihr spiritualistischer Point-d’honneur, ihr Enthusiasmus, ihre moralische Sanktion, ihre feierliche Ergänzung, ihr allgemeiner Trost- und Rechtfertigungsgrund. Sie ist die phantastische Verwirklichung des menschlichen Wesens, weil das menschliche Wesen keine wahre Wirklichkeit besitzt. Der Kampf gegen die Religion ist also mittelbar der Kampf gegen jene Welt, deren geistiges Aroma die Religion ist.

Das religiöse Elend ist in einem der Ausdruck des wirklichen Elendes und in einem die Protestation gegen das wirkliche Elend. Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist. Sie ist das Opium des Volkes.

Karl Marx argumentiert hier in der Einleitung zu seiner Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie – überraschender Weise – individuell und beschreibt Religion als Ergebnis menschlichen Elends. Religion wird von Menschen dann erfunden, wenn – wie man heute wohl sagen würde – ihr Dasein für sie selbst so unbefriedigend ist, dass sie die – wie Marx schreibt – “wahre Wirklichkeit” zu Gunsten der “verkehrten Welt der Religion” verlassen. Insofern hat Marx mit seiner Zuspitzung von Religion als Opium des Volkes mehr beschrieben als den Konsum von Genuss- oder Rauschmitteln, wie man in der Schweiz zu glauben scheint.

Aber, here we are, im Zeitalter der 140 Zeichen Sprache kann man Zitate nicht mehr in ihren Kontext einreihen und mal ehrlich, das bischen Sinnentstellung fällt doch sowieso kaum jemandem auf. Dass die verkürzte Darstellung ihrer Aussagen den entsprechenden Personen gegenüber nicht fair ist, steht auf einem anderen Blatt und ist für diejenigen, die sich des aus ihrer Sicht: Bonmots bedienen, kein Problem.

Schnell HillDie zitiert Einleitung verweist auf eine Veröffentlichung, in der keine Ergebnisse einer Umfrage berichtet werden, aber gut, quantitative Sozialforschung und Umfrageforschung sind für viele eins und warum soll man von einem Pressetextersteller aus der Schweiz Kenntnis einer Materie verlangen, die selbst unter Sozialwissenschaftlern nicht allzu weit verbreitet ist. Nur kurz: Umfrageforschung ist ein induktives Vorgehen, mit dem Einstellungen abgefragt werden, deren deskriptive Ausprägung, z.B. die Wahlabsicht, für manche Auftraggeber interessant ist – warum auch immer. Sozialforschung, quantitative Sozialforschung beginnt mit einer Fragestellung, die aus einer Theorie abgeleitet wurde und auf deren Basis deduktiv eine Operationalisierung erfolgt. Gefragt wird hier, um Hypothesen zu überprüfen oder zu testen.

Die Schweizer Forscher um Gerheard Gmel gehen von einer Hypothese aus. Sie gehen von der Hypothese aus, dass

“…the negative association between substance use and RD [Religious Denomination] was mainly due to religiosity, and that the association between RD and religiosity on the one hand and substance abuse on the other, would be markedly reduced if parental variables such as parental monitoring, parental regulation, and relationship with parents were taken into account” (Gmel et al., 2013, S.1095).

Andere Forscher haben also einen Zusammenhang zwischen Religionszugehörigkeit (Religious Denomination) und dem Missbrauch von Genußmitteln festgestellt und Gmel et al. (2013) nehmen an, dass dieser Zusammenhang durch das Ausmaß an Religiosität und elterlicher Kontrolle erklärt werden kann. Insofern kann man aus methodischer Sicht an der Arbeit der “Schweizer Forschennde[n]” wenig aussetzen.

ReligiousnessUm etwas zu korrelieren, muss man es operationalisieren und messen. Bei Religionzugehörigkeit ist beides einfach, man fragt, ob und wenn ja zu welcher Religionsgemeinschaft die Befragten gehören. Religiosität ist schon etwas schwieriger. Hier haben Gmel et al. auf eine Selbsteinschätzung der Befragten zurückgegriffen, die von “Ich glaube an Gott und praktiziere meine Religion” (Gläubiger) über “Ich glaube an Gott, praktiziere meine Religion aber nicht” (Spiritueller) bis zu “Ich glaube nicht an Gott” (Atheist) reicht. Es fehlen noch der Gebrauch von Genußmitteln wie Alkohol, Tabak oder Cannabis. Hier fragen die Forscher um Gmel nach dem Umfang des Konsums und operationalisieren alle diejenigen, die angeben mehr als 21 Einheiten Alkohol pro Woche zu trinken, täglich zu rauchen und mehr als einmal in der Woche Cannabis zu konsumieren, als Risikogruppen (für was auch immer). Bleibt noch die elterliche Kontrolle, die über eine Skala gemessen wird, die z.B. nach strikten Regeln, die durch Eltern gesetzt werden, fragt.

Die beschriebene Operationalisierung erfolgt für 5.387 schweizer Männer im Alter von durchschnittlich 20 Jahren (weil diese Daten gerade vorrätig sind), und die Prüfung der Hypothese erfolgt über logistische Regressionen, wie könnte es auch anders sein, wenn man dichotome abhängige Variablen hat. Entsprechend sagen die Forscher die drei oben genannten Risikogruppen für Alkohol, Tabak und Cannabis-Konsum vorher und kommen regelmässig zu dem Ergebnis, dass die Wahrscheinlichkeit, zu einer der drei Risikogruppen zu gehören, für Gläubige und Spirituelle geringer ist als für Atheisten. Die Annahme, dass dieser Zusammenhang durch elterliche Kontrolle erklärt werden kann, erweist sich als falsch, während sich zeigt, dass Religiosität für Risikokonsum eine Rolle spielt.

Interessanter Weise haben Gmel et al. ihre eigene Hypothese, nach der Religiosität zwischen Religionszugehörigkeit und Risikokonsum vermittelt, gar nicht geprüft und in jedem Fall haben sie, anders als es die Pressemeldung behauptet, keinerlei Kausalität gezeigt. Sie können schon deshalb nicht zeigen, dass Religiosität “vom Suchtmittelkonsum” abhält, weil sie keinerlei theoretische Annahmen dazu haben, warum dies der Fall sein sollte.

Korrelation und KausalitaetSie haben eine Korrelation gemessen, die nach wie vor einer Erklärung harrt. Vor allem ist nicht klar, in welche Richtig die Korrelation geht und ob es nicht richtiger wäre die Pressemeldung nicht mit “Gläubige konsumieren weniger Drogen” zu überschreiben sondern: Unter Alkoholkonsumenten finden sich weniger Gläubige. Beide Aussagen sind nicht äquivalent, aber selbstverständlich ist die erste reißerischer, auch wenn sie die Forschung von Gmel et al. nicht einmal in Ansätzen richtig wiedergibt.

Wir haben es also wieder einmal mit einer Pressemeldung zu tun, deren Ersteller sich als methodisch illiterat ausweist und somit wieder mit einer Pressemeldung, die der Wissenschaft mehr schadet als sie ihr nutzt. Auch das Erstellen einer Pressemeldung will gelernt sein, ein Umstand, dem leider kaum jemand Rechnung zu tragen scheint, was verblüffend ist, angesichts der Wichtigkeit, die gemeinhin der öffentlichen Meinung zugewiesen wird, was – wäre es ernst gemein – eine korrekte Darstellung gerade in Pressmeldungen verlangen würde. Aber solange sich die in entsprechenden Pressemitteilungen Missbrauchten nicht wehren (Gmel et al.) oder nicht mehr wehren können (Marx) wird sich nichts ändern am Missbrauch von Forschungsergebnissen durch Presseabteilungen. Vielleicht wäre es an der Zeit, eine wissenschaftliche Zeitschrift mit dem Titel “Scienctific Content Use and Misuse” ins Leben zu rufen.

Eine Hypothese zur Erklärung des Zusammenhangs zwischen Religiosität und Zugehörigkeit zu einer Risikogruppe drängt sich übrigens auf, wenn man die deskriptiven Ergebnisse in Tabelle 1 betrachtet. Dort zeigt sich, dass junge Männer, die sich als religiös bezeichnen und die ihre Religion praktizieren, häufiger als andere in Familien aufgewachsen sind, deren Haushaltseinkommen unter dem Durchschnitt der Schweiz liegt. Kurz: Die Tatsache, dass diese jungen Männer weniger trinken und rauchen mag schlicht ein Ergebnis fehlender finanzieller Mittel sein und entsprechend nichts mit Religiosität zu tun haben.

Eine weitere Erklärung stellt die Frage nach der Validität der Messung und argumentiert, dass Personen, die sich für religiös erklären, Dissonanzen mit dem Konsum von Alkohol, Tabak und Cannabis haben, weil Religionen den artigen Gläubigen verlangen, der Konsum der drei Genussmittel aber als unartig angesehen wird. Entsprechend könnte die größere Abstinenz, die gläubige Befragte angeben, Ergebnis sozialer Erwünschtheit sein, dem Euphemismus, mit dem Sozialforscher den Umstand beschreiben, dass sie gerade absichtlich oder unabsichtlich belogen wurden.

Schließlich muss noch darauf hingewiesen werden, dass es noch geklärt werden muss, wie aussagekräftig rund 5400 christliche schweizer Männer für “die Religion” als solche sind, zumal es eine Vielzahl von Religionen gibt, die den Konsum von Drogen als rituellen Bestandteil der Bewusstseinserweiterung enthalten.

Gmel, Gerhard, Mohler-Kuo, Meichun, Dermota, Petra, Gaume, Jacques, Bertholer, Nicola, Daeppen, Jean-Bernhard & Studer, Joseph (2013). Religion Is Good, Belief Is Better: Religion, Religiosity, and Substance Use Among Young Swiss Men. Substance Use & Misuse 48: 1085-1098.

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