Klassenjustiz?

In seinem Buch, „Logik für Juristen“, stellt sich Egon Schneider die Frage, wann ein Urteil, eine richterliche Entscheidung überzeugt. Er beantwortet seine Frage auch gleich selber: „Eine Entscheidung ist dann überzeugend, wenn sie folgerichtig aus dem Gesetz abgeleitet und als gerecht empfunden wird“ (Schneider, 1999, S.3). Dieser triviale Satz hat es in sich, denn die folgerichtige Ableitung eines Urteils aus dem Gesetz bedarf fundierter Kenntnisse der formalen Logik. Und die Frage, wann eine Entscheidung als „gerecht empfunden“ wird, hängt von einer ganzen Reihe von Variablen ab (nicht zuletzt von dem, der die „Empfindung“ hat), so dass der kleinste gemeinsame Nenner, auf den man sich einigen kann, darin besteht, dass ein Urteilender unparteiisch und auf sachlicher Basis urteilen soll.

Letzteres ist leichter gesagt als getan, wie eine ganze Anzahl von Studien, die vornehmlich in den 1970er Jahren durchgeführt wurden, gezeigt haben. Soziologen, die sich u.a. auf den Rücksitz eines Polizeiautos gesetzt haben und den Beamten im wahrsten Sinne des Wortes über die Schulter geschaut haben, berichteten von einem sozialen Bias der Beamten, der vornehmlich Mitglieder der Unterschicht und Ausländer öfter durch die Beamten kontrolliert sah (Feest & Blankenburg, 1972). Soziologen, die Gerichtsverhandlungen beiwohnten, berichteten von erheblichen Unterschieden in der Behandlung von Angeklagten durch Richter, je nach sozialer Klasse, der der Angeklagte angehörte (Opp, 1973, 83-90).

Die meisten der heutigen Soziologen forschen lieber aus der Ferne, formulieren Fragebögen und lassen anderen die Befragung durchführen. Dabei wäre kritische Soziologie, die sich z.B. dem Klassenbias öffentlicher Institutionen widmet, gerade heute sehr wichtig, wie ein Blick in zwei Urteile des Bundesgerichtshofs zeigt. Beide Urteile beschäftigen sich mit Sterbehilfe, in beiden Fällen ist der Angeklagte von einem Landgericht wegen versuchten Totschlags verurteilt worden. Ich will mich hier nicht mit den juristischen Feinheiten auseinandersetzen, die in beiden Urteilen eine Rolle gespielt haben. Mir geht es vielmehr um die Rekonstruktion der Alltagstheorien der Richter, wie dies Karl-Dieter Opp (1973) genannt hat und darum, aufzuzeigen, dass die Urteile der Richter von Variablen beeinflusst werden, die nichts in einem Urteil zu suchen haben und entsprechend mindestens gegen subjektives Gerechtigkeitsempfinden verstoßen. Wer die Urteile im Original nachlesen will, es gibt sie online bei Bundesgerichtshof, die Aktenzeichen lauten: 2StR 320/10 und 2StR 454/09.

Beide Revisionsverfahren fanden vor dem selben Senat statt. Ein Revisionsverfahren sieht einen Anwalt als Angeklagten, ein Revisionsverfahren einen Arbeiter. Beide Angeklagten handeln im Hinblick auf einen Patienten, der im Koma liegt und ohne künstliche Ernährung und Beatmung nicht überleben kann. Die Person eines Angeklagten wird lediglich als „spezialisiert“ beschrieben. Der andere Angeklagte sieht sich mit einer ganzen Reihe richterlicher Bewertungen seiner Person konfrontiert. Er wird als „eigenmächtig“, selbstherrlich“ und ignorant beschrieben, sein aggressiver Ton wird beklagt, ihm wird die Besorgnis unterstellt, aus einer Heilung des Patienten entstünden ihm Kosten und außerdem wissen die Richter, dass er sich etwas eingeredet hat, können also seine Gedanken lesen. Ein Angeklagter hat sich weitgehend an die für Sterbehilfe vorgeschriebene Prozedur gehalten, ein anderer hat versucht, die Prozedur zu verkürzen. Beide Angeklagte sahen sich bei ihrem Versuch der Sterbehilfe direkt oder indirekt mit dem Widerstand des Pflegepersonals konfrontiert. Welcher Angeklagte wurde freigesprochen? Der Arbeiter oder der Anwalt? Welcher Angeklagte wurde im Urteil mit dem Begriff „selbstherrlich“ abgewertet?

Das Schlimme an den beiden Urteilen ist, dass man mit 100%tiger Sicherheit weiß, wie die Antwort auf die zuletzt gestellten Fragen lauten: Der Arbeiter. Das Schlimme an den Urteilen ist, dass sich der 2. Strafsenat am Bundesgerichtshof offensichtlich nicht nur zu einer negativen moralischen Qualifikation des einen Angeklagten berufen fühlt, sondern auch dazu, Konformität zum obersten Grundsatz auszurufen. Eigentlich erwartet man von Richtern, dass sie Angeklagte, deren Schuld nicht bewiesen ist, auch dann freisprechen, wenn ihnen die Nase des Angeklagten nicht gefällt. Man erwartet von ihnen, dass sie den Sachverhalt faktisch und weitgehend ohne Bewertung feststellen. Wie Richter, die ihre Animositäten gegen einen Angeklagten derart offen in ein Urteil schreiben, in der Lage sein sollen, den zugrundeliegenden Sachverhalt weitgehend unvoreingenommen zu interpretieren, ist mir vollkommen unklar. Dass die Bundesrichter nichts dabei finden, die aus ihrer Sicht „selbstherrliche Art“ eines Angeklagten in  selbstherrlicher Art festzustellen, zeigt wie weit die Richter von Schneiders Ideal entfernt sind und es zeigt, dass kritische Soziologie heute notwendiger wären, denn je.

Literatur

Feest, Joachim & Blankenburg, Erhard (1972) Die Definitionsmacht der Polizei.Düsseldorf: Bertelsmann Universitätsverlag.

Opp, Karl-Dieter (1973). Soziologie im Recht. Reinbek b. Hamburg: Rowohlt.

Schneider, Egon (1999). Logik für Juristen. München: Vahlen.


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