Notwehrrecht und Notwehrpflicht
In England geht derzeit der Fall von Vincent Cooke durch die Medien. Vincent Cooke hat einen Einbrecher in seinem Haus auf frischer Tat ertappt. Eine nachfolgende Rangelei endete mit dem Tod des Einbrechers. Vincent Cooke hat ihn erstochen. Vincent Cooke bleibt straffrei. Der Chefankläger des Crown Prosecution Service, Nazir Afzal, hat entschieden, dass Vincent Cooke mit keiner Anklage rechnen muss: “”I am not able to go into great detail about the circumstances of the incident as there is an ongoing prosecution against a second man for burglary, but the evidence shows that Mr Cooke had been taken upstairs at knifepoint, and that during a struggle with Raymond Jacob, Mr Cooke stabbed him in self defence.”
Im Juli 2011 hat die Staatsanwaltschaft Stade entschieden, ein Ermittlungsverfahren gegen einen Rentner einzustellen. Der Rentner hatte einen Jugendlichen erschossen, der sich mit der Geldbörse des Rentners auf der Flucht befand. Der Jugendliche war einer von fünf Jugendlichen, die den Rentner in seinem Haus überfallen haben und durch eine Alarmanlage in die Flucht geschlagen wurden.
Im Jahr 2000 hat der Bundesgerichtshof einem Angeklagten, der in Notwehr einen Einbrecher getötet hat, das Recht auf Notwehr bestätigt, ihn aber dennoch wegen der Tötung des Angreifers verurteilt (BGH NJW 2000, S.1075). Die Mittel zur Wahrnehmung der Notwehr seien nicht angemessen gewesen, so die Begründung. Die Angemessenheit der Mittel, die bei Notwehr zum Einsatz kommen, ist im Paragraphen 34 des Strafgesetzbuches geregelt. Dort heißt es: “Wer in einer gegenwärtigen, nicht anders abwendbaren Gefahr für Leben, Leib, Freiheit, Ehre, Eigentum oder ein anderes Rechtsgut eine Tat begeht, um die Gefahr von sich oder einem anderen abzuwenden, handelt nicht rechtswidrig, wenn bei Abwägung der widerstreitenden Interessen, namentlich der betroffenen Rechtsgüter und des Grades der ihnen drohenden Gefahren, das geschützte Interesse das beeinträchtigte wesentlich übersteigt. Dies gilt jedoch nur, soweit die Tat ein angemessenes Mittel ist, die Gefahr abzuwenden“.
Der juristische Kauderwelsch besagt im Wesentlichen, dass die Entscheidung über die Angemessenheit der Mittel zur Notwehr von Staatsanwalt und Richter von Fall zu Fall entschieden wird und vermutlich eine Frage des persönlichen Geschmacks ist. Dem einen mag der Baseballschläger auf dem Kopf des Einbrechers angemessen erscheinen, der anderen, vor allem deshalb nicht, weil der Einbrecher beteuert, er habe kein Geld stehlen, sondern nur welches leihen wollen. Dem Rentner aus Sittensen mag zur Hilfe gekommen sein, dass es sich bei dem von ihm erschossenen Jugendlichen um den Jugendlichen handelte, der sich die Geldbörse des Rentners mit immerhin 2.143 Euro Inhalt angeeignet hat. Das geschützte Interesse (Eigentum) hat in der Beurteilung des Staatsanwalts das beeinträchtigte Interesse (Leben) wesentlich überstiegen, und die Wahl der Mittel (Pistole) war angemessen. Ob jeder Staatsanwalt so entschieden hätte?
Der britische Justizminister, Ken Clarke, will der Unsicherheit darüber, was als angemessenes Mittel der Notwehr angesehen werden kann und was nicht, durch den gesunden Menschenverstand zu Leibe rücken: “It’s quite obvious that people are entitled to whatever force is necessary to protect themselves and their property. … If an old lady finds she’s got an 18 year old burgling her house and she picks up a kitchen kneife and sticks it in him she has not committed a criminal offence and we will make that clear. … We will make it quite clear you can hit a burglar with the poker if he’s in the house and you have a perfect defence to do so. … What they’re not entitled to do is shoot them in the back, when they’re running away”. Somit deckt der gesunde Menschenverstand, den der britische Justizminister bemüht, nicht die Entscheidung der Staatsanwaltschaft Stade, was zeigt, dass die Frage, was unter einem angemessenen Mittel der Selbstverteidigung anzusehen ist, nunmehr zur Frage mutiert ist, was auf der Grundlage des gesunden Menschenverstandes als angemessenes Mittel anzusehen ist.
Eine Lösung für diese Problematik der Angemessenheit der Mittel hat Immanuel Kant u.a. in seiner Metaphysik der Sitten beschrieben. Dort formuliert Kant nicht nur ein Notwehrrecht, sondern eine Notwehrpflicht. Die Pflicht zur Notwehr ergibt sich aus seiner Tugendlehre und den darin festgeschriebenen Pflichten ein rechtschaffendes Leben zu führen und niemandem Unrecht zu tun. Ein Übergriff, wie ihn ein Einbruch darstellt, ist für Kant nicht nur ein Verstoß gegen diese beiden Pflichten, es ist auch ein Verstoß gegen das Persönlichkeitsrecht dessen, bei dem eingebrochen wird. Angriffe auf Freiheit und Eigentum anderer, so schreibt Kant, brächten den Angegriffenen in die Situation, dass ihm durch die Tat eines anderen sein Wert als Mensch abgesprochen wird. Da jeder Mensch verpflichtet ist, sich gegen alle Angriffen auf seine Persönlichkeit zur Wehr zu setzen, ergibt sich daraus die Pflicht zur Notwehr. Die Mittel, die zur Notwehr eingesetzt werden, unterliegen der Wahl des Angegriffenen. Die Mittel unterliegen keiner Pflicht zur Mäßigung. Eine Mäßigung könne der Angegriffene nur dem Angreifer schulden. Dieser übertrete jedoch die Verpflichtung zum rechtschaffenden Leben, begehe Unrecht und verstoße gegen die Persönlichkeitsrechte des Angegriffenen, so dass jede Pflicht zur Mäßigung entfalle. Mäßigung wird damit zur ethischen Entscheidung, die ein Angegriffener treffen kann, aber nicht treffen muss.
Als Konsequenz der Kantschen Ausführungen bleibt ein Angegriffener – egal, welche Mittel der Notwehr er auch wählt, straffrei, während ein Angreifer damit rechnen muss, dass ein Angegriffener mit allen verfügbaren Mitteln Notwehr leistet. Damit ist nicht nur die Frage der Angemessenheit beantwortet, es ist auch eine Lösung gefunden, die im Einklang mit den Ergebnissen der modernen Kriminologie steht, nach der Strafen für potentielle Täter eine umso höhere Abschreckungswirkung haben, je höher sie ausfallen, je schneller sie erfolgen und je sicherer sie sich einstellen. Ein Einbrecher, der damit rechnen muss, von Eigentümer überrascht und mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln abgewehrt zu werden, wird es sich vor diesem Hintergrund mehrfach überlegen, ob er seinem Gewerbe nachgeht.
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Nun,
weitestgehend stimme ich dem zu, aber die Einschränkung der Mittel muss wohl aus verschiedenen Gründen vorhanden bleiben, denn derjenige der ich in einer Notwehr Situation wähnt könnte sich darüber irren. Sofern ist es nicht nur eine ethische Entscheidung des angegriffenen die Mittel zu mäßigen, sondern es ist für eine allgemeine Norm schlicht notwendig eine gewisse Mäßigung zu fordern. Deine Beispiele sind da nun recht eindeutig, da ist wenig platz für Irrtum. Das ist aber leider nicht immer der Fall und eine allgemeine Norm zu Notwehr muss halt allgemein sein. Des weiteren ist Kants Ethik bekannt dafür dass ihre rigorosität Probleme bereiten kann.
beste Grüße,
Eike
Das sehe ich anders, die Mäßigung kann nicht von außen kommen, sondern nur vom Betroffenen ausgeübt werden und wenn jemand fälschlicherweise seinen Bruder erschießt, weil er ihn für einen Einbrecher hält, dann wird daran auch eine von außen auferlegte Mäßigung nichts ändern. Eine Norm der Mäßigung muss von den Handelnden angewendet werden, entsprechend läuft Dein Vorschlag letztlich doch wieder auf ein Verbot der Notwehr hinaus, denn nur so ist die Adäquatheit der Mittel sicherzustellen.
Mein Vorschlag läuft nicht auf ein Verbot der Notwehr hinaus!
Damit dem so wäre müsste man schon einen Denkfehler machen. Z.b. eine Black or White fallacy http://www.fallacyfiles.org/eitheror.html .
Die Adäquatheit der Mittel, heißt nur dass kein Mensch von seiner Verantwortung Fehler zu vermeiden befreit werden kann.
Ferner scheinst du mir einen etwas dysfunktionalen Freiheitsbegriff zu haben, der aus bestimmten Liberalen/Libertären Theorien stammt. Ich wollte schon bei einem anderen Artikel dazu etwas Schreiben, habe zurzeit aber keine Zeit dafür, da das Thema nicht einfach behandelbar ist.
Mir scheint als würdest du als Gefahr für die Freiheit weitgehend nur Dinge ansehen, die vom Menschen ausgehen (Gesellschaft/Staat/Gesetzte). Das die “Gesetze der Natur” den auf sich allein gestellten Menschen ebenfalls Freiheit rauben scheinst du nicht Ausstreichend zu berücksichtigen. Genau hier verläuft der Konflikt zwischen Libertären und Sozialistischen Freiheitsauffassungen. Beide Auffassungen sind in bestimmten Bereichen sehr problematisch. Mehr will ich dazu aus Zeitgründen nicht sagen, mir scheint nur, dass dir nicht beide Perspektiven gleich geläufig sind.
Wenn jemand die Freiheit hat in jeder Notwehr-Situation den Angreifer zu erschießen, was ist
wenn jemand in Notwehr seinen Partner erschießt und dann Kräftig erbt. Wie soll ein Staatsanwalt damit umgehen?
Beste Grüße,
Eike Scholz
Ich kann nicht wirklich sagen, dass ich sehe, wo mein Freiheitsbegriff problematisch ist. Im Gegensatz zu Dir definiere ich jetzt mal Freiheit, und zwar als Handlungs-Freiheit (Möglichkeit ein selbstbestimmtes Leben zu führen), so dass sich die Humesche-Frage stellt, wie frei ein Mensch sein kann. Kant hat die Frage mit seinem Verweis auf das zugrunde liegende moralische Gesetz (sein Imperativ) beantwortet und die WIllensfreiheit betont. Entsprechend ist WIllensfreiheit immer erst vom moralischen Gesetz her bestimmbar. Kurz: Freiheit ist Befreiung von den Objekten der Natur (in der Philosophie wird das unter dem Stichwort “Kausalitätsprinzip” diskutiert).
Was Du hier diskutieren willst, ist keine Frage der Freiheit, sondern eine Frage der Einschränkung von Freiheit. Hier verläuft in der Tat der Unterschied zwischen liberalen und sozialistischen Ideen. Ich (Liberaler) sehe die Willensfreiheit des Menschen mit Kant als das wichtigste Gut, während Sozialisten Menschen durch die Natur determiniert und als gleichgeschaltete Automaten ansehen (zumeist mit der Ausnahme des eigenen Selbst, das gewöhnlich frei genug ist, um die Einsichten zu finden, die den anderen Automaten verborgen bleiben). Zwischen beiden Annahmen vermittelt nichts. Aber mir ist die Annahme, dass Menschen zumindest willensfrei sind, einfach näher als die Annahme, dass Menschen von biologischen Imperativen getrieben werden. Daran finde ich nichts problematisch. Im Gegenteil finde ich Deinen Freiheitsbegriff problematisch, weil er auf die Abschaffung von Freiheit hinausläuft.
Ja, Du scheinst mir tatsächlich einer black and white fallacy aufzusitzen, denn man kann nicht etwas graduell einschränken und denken, es sei noch da, es ist eben nicht mehr da, denn es ist modifiziert worden, eingeschränkt eben.
Erwähnenswert wäre auch noch, das dieser die Notwehr ausübende Rentner von der Bande nur wenige Augenblicke zuvor mit einer Waffe bedroht und unter Kontrolle gehalten wurde.
Es erscheint sehr fragwürdig ob in diesem Zustand der höchsten Bedrohung von Leib, Leben und Eigentum, also unter Totesangst und Zeitdruck, überhaupt eine rationale Abwägung der Mittel möglich wäre.