Muss man Eltern noch mehr entmündigen?

Wie in allen OECD-Staaten, in denen das Bildungsideal der Mittelschicht herrscht, so gibt es auch in Deutschland das Ziel, den Anteil der Höher- und Hochgebildeten zu erhöhen. Eng mit diesem Ziel verbunden ist das Ziel, die soziale Stratifizierung des Schulsystems zu verringern. In vielen Staaten der OECD, ganz besonders aber in Deutschland, entscheidet die Herkunft über die formale Bildung, die von Kindern erworben wird. Kinder aus Arbeiterhaushalten haben entsprechend eine deutlich geringere Wahrscheinlichkeit als Kinder aus Angestellten- oder Beamtenhaushalten, ein Abitur zu erreichen oder zu studieren.

OECDWenn man davon ausgeht, dass Intelligenz normalverteilt ist und zudem annimmt (nur kurz), dass die besten Noten an die besten Schüler vergeben werden, dann folgt daraus, dass der geringere Anteil von Kindern aus Arbeiterfamilien unter den Abiturienten und den Studenten eine Bildungsungleichheit darstellt, denn die normale Verteilung von Intelligenz und die formal ohne Ansehen der Person erfolgende Vermittlung von Bildung in Schulen lässt erwarten, dass der Anteil der Arbeiterkinder auf Gymnasien dem Arbeiterkinder in der Bevölkerung entspricht.

Das tut er aber de facto nicht, was die Frage aufwirft, warum das so ist.

Diese Frage kann man auf zwei Arten beantworten. Erstens: Faktoren, die Arbeiterkinder zu einer selegierten Population machen, sind für die soziale Ungleichverteilung verantwortlich. Arbeiterkinder sind (1) dümmer oder (2) weniger motiviert oder (3) auf Unterstützung von zu Hause angewiesen, die sie aber nicht erhalten. Entsprechend sind sie in der Schule nicht so erfolgreich wie Kinder aus Angestellten- und Beamtenhaushalten. Offenkundig haben diese Erklärungen erhebliche Mängel: (1) Ein Arbeiterkindersinddümmer-Gen wurde bislang nicht entdeckt, und dass es entdeckt wird, ist eher unwahrscheinlich. (2) Damit die Motivation von Arbeiterkindern geringer ist als die Motivation von Angestellten- oder Beamtenkindern muss man die Existenz von Faktoren annehmen, die sich systematisch auf alle Arbeiterkinder auswirken und ihre Motivation reduzieren bzw. nicht in dem Maße positiv beeinflussen, wie dies bei Angestellten- und Beamtenkindern der Fall ist. Wieder ist die Erklärung eher lahm, denn es steht zu erwarten, dass die Diversität der Randbedingungen, unter denen Arbeiterkinder, Angestelltenkinder oder Beamtenkinder aufwachsen innerhalb der Gruppen deutlich höher ist als zwischen den Gruppen. Bleibt (3) die Angewiesenheit auf die Unterstützung im Elternhaus. Zwar wird die Unterstützung im Elterhaus verbal häufig bemüht wird, einer näheren Betrachtung hält sie aber nicht standhält. Wenn Kinder ab dem 3ten oder 4ten Lebensjahr in institutioneller Betreuung sind, ist es wirklich nicht sonderlich naheliegend anzunehmen, dass die wenigen Stunden am Tag, die sie mit ihren Eltern verbringen, den Ausschlag geben sollen. Darüber hinaus wäre zu zeigen, dass Kinder auf die elterliche Unterstützung, sofern es eine Unterstützung ist, angewiesen sind ohne dieselbe nicht besser fahren.

Wenn die Ursachen für die Bildungsungleichheit, die Kinder aus Arbeiterfamilien seltener auf weiterführenden Schulen sieht, nicht “in den Kindern” liegen, müssen sie in ihrem Umfeld zu finden sein, d.h. in den Schulen oder bei ihren Eltern.

Da Schulen staatliche Institutionen sind, haben sie in Deutschland einen sakrosankten Status und der Hinweis, es könne an den Lehrern liegen, dass Kinder aus Arbeiterfamilien seltener auf Gymnasien wechseln als Kinder aus Angestellten- oder Beamtenfamilien kommt einer Gotteslästerung gleich. Wir erinnern uns noch gut an den Aufschrei, der durch Deutschland ging, als wir gezeigt haben, dass die Schulleistungen von Jungen systematisch mit dem Anteil von männlichen Grundschullehrern variieren, d.h. je mehr männliche Grundschullehrer, desto besser schneiden Jungen ab. Was zu erwarten wäre, wenn man zeigen würde, dass mit dem Anteil der Lehrer die aus einer Mittelschichtsfamilie stammen und mit der Verbreitung von Schulsozialarbeitern eine geringere Wahrscheinlichkeit für Kinder aus Arbeiterfamilien einhergeht, auf Gymnasien zu wechseln, man kann es sich lebhaft ausmalen. Nichtsdestotrotz wäre die entsprechende Forschung hochinteressant, aber es steht zu befürchten, dass die Kultusministerkonferenz die Erhebung entsprechender Daten bzw. die Veröffentlichung entsprechender Ergebnisse verhindern würde (Wir lassen uns hier gerne eines Besseren belehren…).

Wenn also Forschung über den Effekt von Schulen, schlechten Lehrern oder dem Anteil von Mittelschichtslehrern auf das Abschneiden von Arbeiterkindern im Bildungssystem einen sakrosankten Status hat und sich kaum jemand an die entsprechende Forschung wagt, dann bleiben noch die Eltern als Schuldige an der sozialen Stratifizierung des Schulsystems.

Und just diese Schuldigen haben Marcel Helbig und Cornelia Gresch ausgemacht. In einem neuen WZB-Brief steht bereits in der Unterüberschrift, was der Text zeigen soll: “Wo Eltern das letzte Wort haben, kommen noch weniger Arbeiterkinder aufs Gymnasium”. Oder im Text: “Die Freigabe des Elternwillens verstärkt soziale Ungleichheit”. Man beachte die Wortwahl: “Freigabe des Elternwillens” … dazu später.

Zunächst zu den Daten: In Deutschland existieren Bundesländer, in denen die Eltern die letzte Entscheidung darüber haben, welche Schule ihr Kind nach der Grundschule besucht (z.B. Hessen) neben Bundesländern, in denen die Grundschulempfehlung bindend ist (z.B. NRW). Die Forschung, so berichten Helbig und Gresch, habe nun gezeigt, dass in Bundesländern, in denen die Schulwahl nach der Grundschule Sache der Eltern ist, noch weniger Arbeiterkinder auf weiterführende Schulen gehen, als in Bundesländern, in denen die Grundschulempfehlung bindend ist. Aus “verschiedenen Gründen”, so Helbig und Gresch, hätten Kinder aus Arbeiterfamilien auch im Durchschnitt schlechtere Noten als Kinder aus Angestellten- und Beamtenfamilien (wie spitz die Finger doch werden, wenn es darum geht, die Frage zu klären, wie Noten eigentlich zustande kommen).

Unabhängig von besseren schulischen Leistungen seien die Angestellten- und Beamteneltern bildungsmotivierter als Arbeitereltern, und entsprechend würden sie ihre Kinder auf Gymnasien stecken, um ihre Bildungsaspirationen durchzusetzen. Diese Tendenz von Angestellten- und Beamteneltern, ihre Kinder auf Gymnasien zu schicken, steige mit dem sozialen Status und mit der Anzahl der Geschwister, die bereits auf Gymnasien sind. Der elterliche Bildungsdruck auf Kinder ist angeblich so furchtbar, dass die nordrhein-westfälische Kultusministerin Barbara Somme, die Helbig und Gresch in ihrem Text zitieren, gesagt haben soll, man müsse die “Kinder vor ihren Eltern schützen” und die Grundschulempfehlung entsprechend verbindlich machen.

Und damit sind wir wieder bei der Freigabe des Elternwillens und dabei, dass sich staatliche Institutionen anmaßen, über Dritte zu bestimmen, die korrekten Lebensläufe von Kindern vorzugeben, und den Elterwillen freizugeben oder nicht. “Freigabe des Elternwillens” ist übrigens ein schöner Euphemismus für Entmündigung, und nachdem wir uns vor einigen Tagen schon darüber gewundert haben, dass man beim BMFSFJ denkt, Eltern seien vollkommene Erziehungstrottel, die nicht in der Lage sind, ohne beim Ministerium einen Medienpass zu erwerben, ihre Kinder im Umgang mit Internet und Computern zu erziehen, ist es nunmehr an der Zeit, sich darüber zu wundern, dass viele Eltern es offensichtlich über sich ergehen lassen, dass sie im Hinblick auf die Bildungskarriere ihrer Kinder entmündigt werden, ihr Elternwillen nicht freigegeben wird. Je mehr dieser Übergriffe auf den freien Willen von Eltern man entdeckt und je mehr unwidersprochen oder unangefochten bleiben, desto mehr fragt man sich, ob die Ministeriellen mit ihrem Bild von Eltern vielleicht doch recht haben.

free willDessen ungeachtet sind wir also mit Helbig und Gresch zu dem Schluss gekommen, dass “verschiedene Gründe” zu Schulnoten führen und der freie Elterwille der Hauptgrund dafür ist, dass Arbeiterkinder seltener auf Gymnasien zu finden sind als Kinder aus Angestellten- und Beamtenfamilien. Und wieder einmal sind Schulen und Lehrer fein raus. Sie sind die Durchlauferhitzer, die nur erwärmend auf das Material wirken, das ihnen eingespeist wird, und zwar ohne Ansehen der Person. Doch hat sich in die oben zitierte Unterüberschrift eine Relation eingeschlichen: “Wo Eltern das letzte Wort haben, kommen noch weniger Arbeiterkinder aufs Gymnasium” hieß es da, was voraussetzt, dass die Bildungsungleichheit auch da besteht, wo der Elternwille nicht freigegeben ist. So we come full circle, und die Frage, warum Kinder aus Arbeiterfamilien seltener auf Gymnasien zu finden sind als Kinder aus Angestellten- und Beamtenfamilien ist weiterhin unbeantwortet.

Aber wir wissen: der freie Elternwille ist auf jeden Fall zu vermeiden.

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