Demos-Phobia: Die Angst der angeblichen Demokraten vor der Demokratie

In der Schweiz gibt es eine Volksabstimmung: 50,3% der Schweizer, die abgestimmt haben, haben sich gegen “Masseneinwanderung”, was auch immer das sein mag, ausgesprochen. Der EU-Kommission hat der Volkswille nicht gefallen. Zu spüren bekommen es schweizer Studenten, die nunmehr nicht mehr am Erasmus-Programm der EU teilnehmen dürfen.

swiss-referendumIn Baden-Württemberg gibt es eine Petition, die  sich gegen die Pläne der Baden-Württembergischen Landesregierung richtet, die Sexualerziehung und vor allem die Toleranz und Akzeptanz von Homo-, Bi-, Trans-, Inter- und sonstigen Sexuellen zum Leitmotiv des schulischen Curriculum zu erheben. Der Landesregierung hat es nicht gefallen. Sie diskreditiert ihren eigenen Demos als homophob und weigert sich, über die eigenen Vorhaben zu diskutieren.

Thilo Sarrazin hat gerade wieder ein Buch veröffentlicht und den gesammelten Zorn der Bildungsbürger auf sich gezogen, die von sich denken, sie wüssten, was auch immer, besser als Sarrazin. Und obwohl einige Thesen von Sarrazin mit Sicherheit falsch sind, ist die Auseinandersetzung mit Sarrain ad-hominem, wird er zum Populisten, der die Seele der willenlosen Herde, die ihm nachfolgt, zu umschmeicheln und zu steuern im Stande ist. Sarrazin wird zum Demagogen mit fast mystischen Fähigkeiten aufgebaut, der einen Aufstand der Minderbemittelten orchestriert.

Die Minderbemittelten sind auch der Gegenstand einer eigens gegründeten Hilfsindustrie, die paternalisiert und zeigt, was richtig ist, um lange zu leben, gesund und fit zu bleiben, nicht mit den vielen Institutionen des Staates in Konflikt zu geraten oder, ganz allgemein, nicht aufzufallen. Die Erziehung des Narren, der Bürger ist, ist Ziel dieser Über-Narren, die es aus Sorge um die Mitbürger auf sich genommen haben, entgeltliche Hilfestellung zu geben.

Die Leitung der Minderbemittelten obliegt natürlich auch den vielen Funktionären, die obschon über keinerlei berufliche Ausbildung oder Praxis verfügend, der arbeitenden Bevölkerung mit auf den Weg geben, was sie unbedingt “braucht” oder was es enger zu schnallen gilt, und die sich in Parlamenten zusammenfinden, um dem Wahlvolk zu sagen, wo es lang geht und was gut für es ist.

demosDie fünf Beispiele stehen für eine Schizophrenie, die demokratische Systeme der westlichen Hemisphere durchzieht. Einerseits gibt es in dieser Hemisphere den Souverän, also die Wähler, die gebraucht werden, um Parlamente und Regierungen nicht nur zu wählen, sondern mit dieser Wahl auch zu legitimieren. Diese Wähler werden gewöhnlich als mündige Bürger angesprochen, als mit einem normalen Verstand und mit einer normalen Auffassungsgabe versehene Menschen, die entsprechend in der Lage sind, aus dem schmalen Angebot von Parteien, die richtige Wahl zu treffen.

Andererseits ist die zugestandene Mündigkeit der Bürger und Wähler jedoch eine sensible Angelegenheit. Bereits die Wahl einer Alternative für Deutschland oder einer Partei, die gerade nicht als Mainstream gilt, etwa die Wahl der Grünen im Jahr 1983, bringt die politische Landschaft in Wallung und denjenigen, die die aufrechten Wähler verführt haben, den Vorwurf, Populismus zu betreiben. Ganz plötzlich segmentiert sich die Wählerschaft, in solche, die richtig wählen und damit ihre Mündigkeit zum Ausdruck bringen, und solche, die verführbar sind, deren Stimme entmündigt werden muss und die auf den richtigen Pfad der Wahltugend zurückgeholt werden müssen.

Die Zuschreibung einer Nicht-Mündigkeit, kann man sich auch dadurch einhandeln, dass man der falschen politischen Lehre anhängt, einer politischen Lehre, die, wie könnte es anders sein, von populistischen Rattenfängern verkündet und von leichtgläubigen Einfältigen willig aufgenommen wird. Das Bild, das von Thilo Sarrazin aufgebaut wird, entspricht dieser Beschreibung. Er, der populistische Rattenfänger, der weiß, welche Töne er anstimmen muss, um einen Zug von Opfern hinter sich zu sammeln.

the happy voterAls unmündig kann sich ein ganzes Land erweisen, dann nämlich, wenn das Ergebnis der demokratischen Abstimmung nicht gutgeheißen wird, wenn diejenigen, die sich für eine politische Elite halten, nicht einverstanden sind. Dann ist natürlich die demokratische Wahl Ergebnis einer Verführung der Mehrheit, die Mehrheit mithin unmündig und dann ist dem gesamten Land eine Buße aufzuerlegen, etwa das wiederholte Wählen wie im Fall von Irland, so lange wiederholt, bis das “richtige” Ergebnis herauskommt.

Wer nun denkt, die richtige Wahl schütze ihn vor Entmündigung, der sieht sich getäuscht. Kaum sind die Parlamentarier, die von mündigen Bürgern gewählt wurden, zusammengekommen, um sich zu konstituieren, die Pöstchen untereinander zu verschachern und die Diäten zu erhöhen, geht es los mit der Belehrung derer, die gerade noch als mündige Bürger umworben wurden. Die konstituierende Sitzung verändert alles: Sie erhebt die Parlamentarier über ihren Demos und retardiert mündigen Bürger im selben Moment und zurück in den Status von Hilfsbedürftigen.

Den nun hilfsbedürftigen Bürgern muss fortan gesagt werden , wann sie für wieviel Geld und für wen arbeiten dürfen, wie groß die Anzahl von Zigaretten ist, die im Beisein von Dritten und an den entsprechend ausgewiesenen Stellen geraucht werden darf. Sie werden zu Sicherheitsrisiken, Akzeptanz- und Toleranzrisiken. Deshalb muss den mündigen Bürgern verheimlicht werden, sie müssen über Zusammenhänge im Unklaren gelassen werden, gleichzeitig muss ihnen gesagt werden, wem sie welche Form der Akzeptanz entgegenzubringen haben und welche Toleranz notwendig ist, um als guter Bürger durchzugehen.

Und bei all dem stellt sich die Frage, ob die politische Klasse aus einer Anzahl von Heuchlern besteht, die mündigen Bürgern, so lange sie deren Stimme benötigen, vorspielen, sie würden sie ernst nehmen, um sie nach Urnengang zu unmündigen Objekten fortwährender Erziehung zu degradieren oder ob nicht die politische Klasse das ist, was man in der Soziologie eine selegierte Population nennt, in diesem Fall eine Form der Selbsthilfegruppe, in der sich Neurotiker und Schizophrene aller Schattierungen treffen, die nichts dabei finden, sich von Menschen wählen und legitimieren zu lassen, die sie eigentlich verachten.

Eine Selbsthilfegruppe, die vereint ist in ihrer Demos-Phobie, in der Angst vor dem Demos, der Verachtung des Demos, die bei gleichzeitiger Angewiesenheit auf den Demos eine so seltsame Mischung eingehen, dass die Form von nepotistisch-autokratischen Systemen dabei herauskommt, die wir heute als demokratisch präsentiert bekommen.

©ScienceFiles, 2014

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