„Fridays for Future“ und der „Kinderkreuzzug“ zur Rettung des Erdklimas: Ersatzrituale für Statusniedrige

von Dr. habil. Heike Diefenbach

Zugegeben, dieser Titel mag einigermaßen despektierlich klingen. Aber hier geht es nicht um Despektierlichkeit, sondern darum, zu überlegen, warum die Teilnahme an den „Fridays for Future“ für viele Kinder und Jugendliche attraktiv gewesen ist oder noch immer ist. Wichtige Gründe hierfür sind entwicklungspsychologische Faktoren – wie z.B. die Tatsache, dass Kinder erst in ihren Teenager-Jahren den Unterschied zwischen deterministischen und probabilistischen Zusammenhängen zu erkennen lernen und auch dies zunächst nur in Abhängigkeit von der Komplexität der in Frage stehenden Zusammenhänge (Rapp & Wilkening 2005) –, die zur Folge haben, dass Kinder auf die umfassende ideologische Indoktrination in den sogenannten Bildungseinrichtungen nicht angemessen (kritisch) reagieren können (s. hierzu z.B. Betsch et al. 2016; Charry & Pecheux 2011; Lang & Betsch 2018; Reyna et al. 2012; Van Duivenvoorde et al. 2012; Yurgelun-Todd 2007).

Die im Folgenden beschriebenen Überlegungen bauen aber nicht auf entwicklungspsychologischen Faktoren oder überhaupt irgendwelchen Merkmalen der Kinder und Jugendlichen auf, die an „Fridays for Future“ auf die Straße statt in die Schule gehen oder sich sonstwie beteiligen an dem, was man den Kinderkreuzzug zur Rettung des Erdklimas nennen könnte. Vielmehr haben die folgenden Überlegungen soziologischen Charakter, genauer: sie nehmen die Bedeutung von Kindheit und Jugend bzw. den Status von Kindern und Jugendlichen in unserer derzeitigen westlichen Gesellschaft zum Ausgangspunkt. Was Kindheit und Jugend bedeuten, ist keineswegs naturgegeben (und daher eingermaßen alternativlos), sondern war und ist zu anderen Zeiten oder anderen Orten verschieden. Die folgenden Überlegungen stehen aber nicht in Konkurrenz zu entwicklungspsychologisch orientierten Erklärungsvorschlägen oder der Erklärung durch Indoktrination, sondern fügen diesen Erklärungen sozusagen den soziologischen Blick hinzu, der u.E. (d.h. nach Meinung der ScienceFiles-Redaktion) wichtig ist, schon deshalb, weil die Bedeutung von Kindheit und Jugend mit gesellschaftlichen Bedingungen variiert.

Die folgenden Überlegungen schließen zum einen an das an, was der Soziologe Randall Collins, den wir früher schon als einen Klassiker der Soziologie vorgestellt haben.

Im Rahmen seiner „Mikro-Makro-Theorie der Ungleichheit“ formuliert hat, und zum anderen an die Arbeit von Viviana A. Zelizer (1994[1985]) – die ihrerseits einen Platz in unseren soziologischen Klassikern haben muss und in Zukunft noch entsprechend gewürdigt werden wird – über den sich wandelnden Wert von Kindern in den USA zwischen 1870 und 1930 (Zelizer 1994[1985]: x).

Beginnen wir mit Zeliziers Arbeit mit dem Titel „Pricing the Priceless Child“ (Zelizer 1994[1985]), die übrigens – bezeichnenderweise wie alle ihre wichtigen und in der englischsprachigen Welt vieldiskutierten Bücher – nicht ins Deutsche übersetzt wurde. (Lediglich 20 Seiten aus diesem Buch wurden zur Aufnahme in einen Sammelband mit dem Titel „Macht der Unschuld“, erschienen im Jahr 2005 und herausgegeben von Bühler-Niederberger, ins Deutsche übersetzt.)

Das Buch behandelt die Herausbildung des Verständnisses von Kindern als wirtschaftlich wertlos, aber emotional unbezahlbar, in den USA im oben schon genannten Zeitraum. Eine parallele Entwicklung, die in Europa stellenweise schon viel früher eingesetzt hat, hat es aber überall in der westlichen Welt gegeben (s. z.B. Aries 1975). Nach Zelizer hat diese veränderte Sicht auf Kinder einen enormen Einfluss auf die Art und Weise gehabt, wie Kindheit als Lebensphase in der Gesellschaft behandelt wird und damit auf die Lebensweise aller konkreten, individuellen Kinder. Vor allem sind Kinder durch diese veränderte Sicht sehr weitgehend der Möglichkeit beraubt worden, ihr eigenes Geld zu verdienen:

“Money-making children, such as child actors or models, are considered an uncomfortable exception in our society; their parents are often suspected of callousness or greed” (Zelizer 1994[1985]: 4).

Und Kindern, die etwas tun, für das sie Geld erhalten, wird oft unterstellt, sie würden dadurch ihrer Kindheit beraubt, was voraussetzt, dass „Kindheit“ nicht oder nicht nur oder nicht vor allem als biologische oder psychologische Entwicklungsphase aufgefasst wird, sondern als ein Wert, der eine bestimmte Form von Lebensführung erfordert, die für Personen eines bestimmten Alters als angemessen, als gut oder richtig angesehen wird. Führen diese Personen ein Leben, das nicht dem entspricht, was gesellschaftlich für sie als angemessen, gut oder richtig bestimmt wurde, wird von ihnen gesagt, sie hätten etwas verloren, was als ihr natürliches Recht angesehen wird, aber sich in der Realität als eine Pflicht zu einer ganz bestimmten Lebensführung erweist: Kinder haben wirtschaftlich inaktiv und damit wirtschaftlich wertlos zu sein, wenn sie eine „richtige“ Kindheit haben sollen (ob sie es auch wollen, ist eine andere Frage). Ja, man könnte sogar sagen: Wirtschaftliche Wertlosigkeit ist nach dem gesellschaftlichen Verständnis der derzeitigen westlichen Welt geradezu die Voraussetzung für „gelungene“ oder „richtige“ Kindheit. Implizit – und oft auch explizit – wird dabei davon ausgegangen, dass Kinder ein Wert an sich seien, reine „Wonneproppen“, deren bloße Existenz Anderen Freude bereiten müsse, besonders aber ihren Eltern. Und deshalb sind Kinder, die Geld verdienen, prinzipiell suspekt bzw. machen ihre Eltern suspekt, stellen sie doch das Ideal in Frage, nach dem Kinder kleine Bündel des Glücks („bundles of joy“, wie man im Englischen sagt) zu sein haben – und sonst nichts.

Es ist bezeichnend für ihre mangelnde Phantasie oder Reflexivität oder historische Bildung oder alles zusammen, dass Feministen und Genderisten bei ihren Betrachtungen der Arbeitsteilung im Haushalt lebende Kinder prinzipiell unbeachtet lassen (es sei denn sie berücksichtigen sie als Faktoren, die Frauen, wem sonst!?, zusätzliche Verantwortung aufbürden und zusätzliche Arbeit machen) und den Blick ausschließlich auf die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung der im Haushalt lebenden Erwachsenen richten. Dabei könnte man durchaus dafür argumentieren, dass die Arbeiten, die früher von Kindern erledigt wurden, heute oft in den Aufgabenbereich von Frauen fallen – aber dies nur nebenbei.

Kinder sind aber nicht nur wirtschaftlich wertlos, sie sind teuer:

“Yet, children expect regular income. While some ‘earn’ their allowance by helping out around the house, many children, as Parents Magazine explains, receive it simply ‘in recognition of the fact that they are full members of the family’. After all, children must learn to spend their parents’ money long before they begin to earn their own. Advertisers know it” (Zelizer 1994[1985]: 4),

genau wie alle Eltern, die ihren Kindern nicht nur frei verfügbares Taschengeld geben, sondern ihnen auch all das kaufen, was heute zur normalen Ausstattung eines Kindes gehört – samt Smartphone, eigenem Fernsehgerät, Computer etc. – und die monatlichen Rechnungen für deren Betrieb bezahlen.

Dies alles darf nicht beklagt werden; der materielle Aufwand, den Kinder bedeuten, muss von Eltern mit Freuden erbracht werden, wäre es doch kleinlich, „Bündel des Glücks“ durch den schnöden Mammon als vielleicht doch nicht nur Glück bringend anzusehen. Kinder wachsen also von einem frühen Zeitpunkt in ihrem Leben als reine Konsumenten auf, und dies wird als etwas für sie Positives hingestellt, als ein Recht, das sie angeblich haben, als eine Freiheit von Gegenleistungen und Verpflichtungen in der Kindheit, die sie genießen sollen, solange sie währt. Zelizer fasst dies alles auf als Ergebnis einer „Sakralisierung“ von Kindern und Kindheit (Zelizer 1994[1985]: 11):

„The term sacralization is used in the sense of objects being invested with sentimental or religious meaning. While in the nineteenth century, the market value of children was culturally acceptable, later the new normative ideal of the child as an exclusively emotional and affective asset precluded instrumental or fiscal considerations … Properly loved children, regardless of social class, belonged in a domesticated, non-productive world of lessons, games and token money” (Zelizer 1994[1985]: 11).

Die Sakralisierung von Kindheit bzw. Kindern hat Folgen entwicklungspsychologischer Art für die Kinder. Beispielsweise haben Brummelman et al. (2015: 3659) eine Zunahme von Narzissmus unter Jugendlichen aus verschiedenen Ländern der westlichen Welt beobachtet und außerdem festgestellt:

„Our longitudinal findings support social learning theory and contradict psychoanalytic theory: Narcissism was predicted by parental overvaluation, not by lack of parental warmth. Attesting to the specificity of this finding, self-esteem was predicted by parental warmth, not by parental overvaluation. These findings are consistent with the view that children come to see themselves as they believe to be seen by significant others, as if they learn to see themselves through others’ eyes …” (Brummelman et al. 2015: 3660; s. hierzu auch Thomaes & Brummelman 2018).

Wenn dies zutrifft, muss man davon ausgehen, dass die Überschätzung von Kindern und Jugendlichen oder ihren Leistungen durch Lehr- oder Erziehungspersonal ebenfalls zu größerem Narzissmus unter Kindern und Jugendlichen führt insofern das Lehr- oder Erziehungspersonal in der Regel ebenfalls wichtige Bezugspersonen für Kinder und Jugendliche stellt. Die Überschätzung des eigenen Wissens, des eigenen Urteilsvermögens, des Ausmaßes, in dem das eigene Verhalten – wohl gewöhnlich: verbales Verhalten – Relevanz für irgend jemanden oder irgend etwas hat, wie Kinder und Jugendliche sie an „Fridays for Future“ zeigen, kann also eine direkte Folge der Überschätzung (der Fähigkeiten oder der Relevanz) der Kinder und Jugendlichen durch ihre regelmäßigen Bezugspersonen sein.

Der spezifisch soziologische Aspekt, der diesem Bild hinzugefügt werden kann, besteht nun darin, dass Kinder und Jugendliche als solche eine Statusgruppe im Sinne Max Webers bilden: 1) sie unterscheiden sich von Erwachsenen hinsichtlich ihres Lebensstiles bzw. durch das „pädagogische Moratori[um]“ (Zinnecker 2000: 36) bzw. eine „lebensgeschichtliche ‚Auszeit‘“ (Zinnecker 2000: 37), d.h. die Unterwerfung unter „ein anspruchsvolles pädagogisches Programm mit starken normativen Setzungen“ (Zinnecker 2000: 36), das ihre Lebensweise während der Zeit ihres Heranwachsens auf systematische Weise strukturiert. (Die weitgehende wirtschaftliche Wertlosigkeit von Kindern und Jugendlichen ist ein grundlegend wichtiger Bestandteil dieses Moratoriums bzw. sein klarer Ausdruck.); 2) sie haben eine spezifische soziale Identität als Kinder und Jugendliche, die von jedem als solche an-/erkannt wird; 3) sie haben eine öffentlich und rechtlich an-/erkannte und spezifische soziale Stellung. Im Fall von Kindern und Jugendlichen ist diese soziale Stellung diejenige von „… Unfertige[n], auf dem Weg zu ihrer Zukunft als Erwachsene befindlich …“ (Zinnecker 2000: 41-42) und – daher – von Schutz- und Hilfebedürftigen, aber auch von vielen Lebenszusammenhängen Ausgeschlossenen und wirtschaftlich Unproduktiven.

„Youth are one of the few groups in modern society who are singled out for subjection to special legal disabilities and restrictions … They are excluded from ritual forms of leisure consumption, such as drinking or smoking; they are the only group which is divided off by an officially enforced taboo on sex with nongroup members. The world is segregated into places where youths cannot go; significantly, these are places where sociability rituals take place … the official adult world, as enunciated by politicians on formal public occasions, rationalizes these exclusions as protecting youth from evils, an attitude which broadens the moral divide between the subjective worlds of adults in their official mode and youths’ experience. The real-life situational effect is that young people … routinely experience demands to prove their age, both from petty officials and from ticket-takers, ushers, and shop clerks who are transformed into officials who can demand subservience and exercise exclusion. Youth are thus the only contemporary group which is officially subjected to petty humiliations because of their categorical status …” (Collins 2000: 28).

Die Sakralisierung von Kindern ändert also nichts an der Tatsache, dass die soziale Stellung von Kindern und Jugendlichen als Statusgruppe in der Gesellschaft niedrig ist – und bleiben muss, solange eine riesige Anzahl von Erwachsenen von dieser niedrigen sozialen Stellung von Kindern und Jugendlichen in allen möglichen Formen von Helfern, Erziehern, Betreuern … profitiert bzw. ihren Lebensunterhalt mit solchen Tätigkeiten verdient und ihrer eigenen beruflichen Position durch solches Engagement für die Hilfsbedürftigen, die „Unfertigen“ etc. Ansehen verschaffen kann (gerade aufgrund der Sakralisierung von Kindern und Jugendlichen).

Nach Collins unterscheiden sich Statusgruppen voneinander darin, wie relevant sie im Alltagsleben ihrer Angehörigen sind:

„Some are loosely overlapping networks, only segments of which ever see one another face to face … Some may be closely bounded because they base their membership and their lines of exclusion on who takes part in social encounters … Status group relations occur largely within … sociable situations” (Collins 2000: 25).

Das gilt besonders für Kinder, gerade weil sie aus vielen sozialen Situationen und Zusammenhängen ausgeschlossen sind, die das Leben Erwachsener normalerweise prägen, wie solche mit Bezug auf das berufliche Leben, öffentliche Versammlungen und öffentliche Inszenierungen von Organisationen, denen ein Erwachsener angehört (Collins 2000: 25), oder umgekehrt formuliert: gerade weil Kinder und Jugendliche durch das Leben im oben angesprochenen pädagogischen Moratorium definiert sind.

 

Nach Collins unterscheiden sich „sociable situations“, in denen Angehörige derselben Statusgruppe miteinander interagieren, nach dem Grad ihrer Formalität und nach dem Grad ihrer Intensität. Je formalisierter das Alltagsleben für bestimmte Statusgruppen ist, je stärker die Interaktionen ihrer Angehörigen ritualisiert sind, desto verbindlicher ist die Identität als Angehöriger dieser Statusgruppe für ihre Angehörigen und umgekehrt: desto mehr tritt persönliche Identität gegenüber der sozialen Identität als Angehöriger dieser Statusgruppen in den Hintergrund. Die Interaktionen zwischen Kindern und Jugendlichen sind – eben aufgrund ihrer umfassenden Einbindung in das pädagogische Moratorium, das von Erwachsenen in ihrer Eigenschaft als Erzieher, Lehrer, Eltern, Aufsichtspersonal etc. nahezu pausenlos für die Kinder und Jugendlichen geplant, organisiert und ausgeführt wird – hochritualisiert. Rituale können aber mehr oder weniger intensiv sein in dem Sinn, dass sie starke oder schwache kollektive Erfahrungen für die Angehörigen der Statusgruppe schaffen:

„Some are flat, perfunctory, mere going through the forms; others build up shared emotions (sentimentality, tears, awe, laughter, anger against outsiders or scapegoats) and regenerate feelings of solidarity …” [Und] [h]ere we have a second continuum: Situations rank in terms of the attention they generate; situations have higher and lower prestige, depending on how they are enacted” (Collins 2000: 26).

In der Vergangenheit waren es Jugendkulturen und die damit verbundenen Aktivitäten, in denen Kinder und Jugendliche – außer im Rahmen mehr oder weniger langweiliger Rituale wie dem täglichen Ablauf des Schulunterrichtes – kollektive Erfahrungen machten, die geeignet waren, Solidarität unter ihnen zu schaffen, und/weil sie hohe Sichtbarkeit in der Öffentlichkeit hatten (z.B. durch das Tragen spezifischer Kleidung, die Erwachsene normalerweise nicht trugen). Dies Möglichkeit ist aber weitgehend entfallen, seit Erwachsene in ihrem Lebensstil Jugendkulturen imitieren und insbesondere „reverse snobbery“ (Collins 2000: 17) an den Tag legen, die nach Collins darin besteht, sich anzueignen, was Jugendkulturen in der Vergangenheit ausgezeichnet hat: „… the rhetorical tactic of taking the morally superior stance of the underdog …“ (Collins 2000: 17). Die quasi traditionelle, spezifische Aufgabe von jungen Menschen, den status quo auf diese Weise zu hinterfragen, ist ihnen genommen. Sie müssen andere Inhalte suchen, um die herum sie Ersatzrituale schaffen können; Ersatzrituale deshalb, weil es Rituale von Jugendlichen als Statusgruppe, die auf die Eigenaktivitäten von Jugendlichen zurückgehen und durch sie am Leben erhalten werden und die außerdem öffentlich stark sichtbar sind, fast nicht mehr gibt. (Damit ist nicht bestritten, dass es Subkulturen unter Jugendlichen gibt, die im privaten oder sehr begrenzt öffentlichen Raum auf der Basis selbst geschaffener Symbole miteinander interagieren. Aber diese Subkulturen sind Rückzugskulturen und nicht öffentlich sichtbarer Ausdruck einer Kultur von Kindern und Jugendlichen als  Statusgruppe.)

Und wenn man außerdem in Rechnung stellt, dass

„[t]hose who are starved for institutional ritual status (e.g., black lower class, teenagers, and young people generally [!]) tend to seek out means of intense situational dramatization” (Collins 2000: 27), dann

fügt sich ein Bild zusammen, das die Attraktivität der Fridays for Future oder anderes Engagement zur Rettung der Erde vor Klimawandel für Kinder und Jugendliche, wenn nicht erklären kann, so doch plausibel macht:

  1. In westlichen Gesellschaften hat eine Sakralisierung von Kindern und Jugendlichen bzw. Kindheit und Jugend stattgefunden, die geradezu darauf beruht, Kinder und Jugendliche zu wirtschaftlich Unproduktiven und zu umfassend Schutz- und Hilfsbedürftigen zu machen.
  1. Mit der ideellen und normativen Sakralität von Kindern und Jugendlichen geht also ein realer Ausschluss aus allen für die Gesellschaft praktisch relevanten Lebenszusammenhängen einher; sie haben lediglich einen normativen emotionalen Wert, aber keinen realen, z.B. wirtschaftlichen, insbesondere nicht für den Steuerzahler, für den der Unterhalt von Kindern und Jugendlichen keinen Nutzen, aber hohe Kosten, bringt. Ihr Lebensalltag ist durch ein pädagogisches Moratorium, das Erwachsene für sie planen, organisieren und durchführen, systematisch und stark strukturiert. Sie sind in mehrfacher Weise vollkommen abhängig von Erwachsenen bzw. werden von ihnen in Abhängigkeit gehalten. Sie bilden eine Statusgruppe mit niedrigem Status, der durch eine normative Rhetorik der bedingungslosen Liebe oder bedingungsloser Unterstützung und Akzeptanz auf Seiten von Erwachsenen notdürftig verdeckt wird.
  1. Mit der Sakralität von Kindern und Jugendlichen und ihrer Überschätzung durch Bezugspersonen geht eine Zunahme narzisstischer Persönlichkeitsmerkmale bei Kindern und Jugendlichen einher, was bedeutet, dass mehr Kinder und Jugendliche ein übersteigertes Selbstwertgefühl haben und stark egozentriert sind und den Drang verspüren, Recht haben zu müssen und Andere anweisen oder belehren zu können, und egoistisches, dominierendes oder manipulatives Verhalten zeigen (wenn sie zu den „grandiosen Narzissten“ gehören) oder von starken Ängsten und heftigen Begierden geleitet werden und hypersensibel auf reale oder nur vermutete Abwertungen der eigenen Person reagieren (wenn sie zu den verletzlichen Narzissten gehören) (Weiss & Miller 2018: 4).
  1. Kinder und Jugendliche haben – besonders angesichts des steigenden Anteils von narzisstischen Persönlichkeitsmerkmalen unter Kindern und Jugendlichen – ein starkes Bedürfnis nach Anerkennung und nach möglichst dramatischer Inszenierung ihrer sozialen Identität als Kinder und Jugendliche, was ihnen durch die Enteignung von Jugendkultur durch Erwachsene aber nicht mehr möglich ist. Sie müssen daher in doppelter Weise ausweichen: Sie müssen sich andere Inhalte als die Solidarität mit den „underdogs“ suchen, mit denen sie sich von Erwachsenen absetzen können, und sie müssen gleichzeitig andere rituelle Formen der Inszenierung ihrer Statusgruppenzugehörigkeit suchen, d.h. sie brauchen Ersatz für die Inhalte und Rituale, die Erwachsene sich von ihnen angeeignet haben.
  1. Für Kinder und Jugendliche ist es einfacher, als Ersatzritual anzunehmen, was ihnen von Erwachsenen als Ersatzrituale vorgeschlagen wird, als selbst Ersatzrituale zu schaffen. Angebotene Ersatzrituale werden um so eher von Kindern und Jugendlichen angenommen, je besser sie dazu geeignet sind, intensive Emotionen als kollektive Erfahrung (insbesondere von Solidarität) zu erzeugen, und je stärker sie öffentlich sichtbar sind, denn beides zusammengenommen stärkt die soziale Identität von Kindern und Jugendlichen als Statusgruppe und erhöht ihre Relevanz für Erwachsene.
  1. Öffentliche Demonstrationen, kollektive Auftritte in der Öffentlichkeit, sei es im öffentlichen physischen Raum oder im virtuellen Raum, erfüllen diese Kriterien; sie erhalten zweifellos eine weitaus größere Aufmerksamkeit als der tägliche Schulbetrieb oder der Sieg im Fußballturnier der Schülermannschaften, und erzeugen gleichzeitig stärkere Emotionen bei Kindern und Jugendlichen (als denjenigen in derselben Klasse oder in der derselben Schüler-Fußballmannschaft). Demonstrationen haben als solche im Vergleich zu anderen sozialen Interaktionen ein größeres Bedrohungspotential, was die emotionale Intensität des „events“ erhöht: „… intensity of the situation might also be generated by a sense of threatening violence and display of the ritual of challenge“ (Collins 2000: 27). Auch, wenn latente Gewalt bei Kinderdemonstrationen nicht unbedingt glaubhaft erscheint, so erhöht sie doch die emotionale Intensität der Veranstaltung.
  1. Große öffentliche Sichtbarkeit und große Emotionalität kommen besonders Kindern und Jugendlichen mit narzisstischen Pesönlichkeitsmerkmalen entgegen, weil es ihrem übersteigerten Selbstwertgefühl zuarbeitet, aber man darf vermuten, dass sie auch für andere Kinder kompensatorisch wirken angesichts der kaum vorhandenen Verhandlungsmacht von Kindern und Jugendlichen als Statusgruppe (bzw. ist „ihre“ Verhandlungsmacht nicht tatsächlich ihre, sondern diejenige, die ihnen von Erwachsenen zugeschrieben oder zugestanden wird, z.B. indem das Jugendamt als Hüter das sogenannten Kindeswohls auftritt und vorgeblich die Interessen von Kindern vertritt) gibt. Die Demonstration als die „klassische“ Ausdrucksform der Unzufriedenheit mit oder gar des Widerstands gegen etwas, das von großer gesellschaftlicher Wichtigkeit ist und daher politisch relevant, vermittelt das Gefühl nicht nur von persönlicher Wichtigkeit, so, als „mache man hier einen Unterschied“, sondern wertet auch die eigene Statusgruppe, in deren Namen die Demonstration abgehalten wird, sozial auf.
  1. Die Statusgruppe der Kinder und Jugendlichen kann weiter aufgewertet werden, wenn sich ihre Sakralität in einzelnen Kindern oder Jugendlichen symbolisch „manifestiert“, wodurch die Statusgruppe fokussiert und damit besser „fassbar“ wird, wie dies bei Greta Thunberg der Fall ist, deren Sakralität als Kind durch den Segen, den Greta durch Papst Franziskus im April 2019 erhalten hat, auf perfekte Weise inszeniert wurde. Dass das Kind-Sein hierbei eine große Rolle spielte, erscheint klar, wenn man die Gegenfrage stellt: Wieviele erwachsene soziale oder politische Aktivisten wurden jemals von Päpsten heilig gesprochen?! In der Einzelperson, die das sakrale Kind-Sein personifiziert, kann der Sakralität von Kindern und Jugendlichen als solchen gehuldigt werden – zum einen durch andere Kinder und Jugendliche, die sich dadurch sozusagen selbst huldigen bzw. aufwerten, zum anderen durch Erwachsene, die „dem“ Kind auf allen Ebenen ihrer Verwaltungsinstitutionen huldigen:

“The individual who is at the center of attention in a social gathering-the life of the party, the class clown, the ceremonial leader … has the highest personal status in that situation and in networks where his/her reputation circulates through conversation” (Collins 2000: 27),

und dieser Status kann für PR-Kampagnen genutzt werden, die Zielsetzungen dienen, die diejenigen des politischen Establishments haben und die eine mehr oder weniger große oder kleine – oder gar keine – Schnittmenge mit den Interessen haben, die die Kinder und Jugendlichen mit ihrem Engagement auf „Fridays for Future“ oder ähnlichen öffentlichen Auftritten verfolgen.

Fazit:

Kollektive Auftritte wie „Fridays for Future“ scheinen es Kindern und Jugendlichen zu ermöglichen, ihren Status als Hilfsbedürftige zeitweise zu revidieren, inszenieren sie sich doch nunmehr als Menschen, die selbst sprechen können und nicht Andere (hier: Erwachsene) für sich sprechen lassen müssen, und sich vielleicht sogar als eine Art „pressure group“ zu inszenieren.

Dem steht aber entgegen, dass sie damit gleichzeitig ihren Status als Schutzbedürftige zementieren: In Abwesenheit jeder realen Verhandlungsmacht (wie sie z.B. gegeben wäre, wenn Kinder und Jugendliche wirtschaftlich produktiv wären) gerät eine Kinderdemonstration immer zu einem Apell an das Mit- oder Verantwortungsgefühl der Erwachsenen für die schutzbedürftigen Kinder und Jugendlichen. Letztere haben lediglich die Macht, zu moralischer Erpressung zu greifen und Unterwerfung unter die „Reinheit“ zu fordern, die sie – per normativer Vorgabe durch die Erwachsenen – personifizieren, d.h. Unterwerfung unter die sakrale Stellung, die ihnen von Erwachsenen zugeschrieben wird.

Die Zuschreibung einer sakralen Stellung an Kinder und Jugendliche wird durch Erwachsene immer dann reaktiviert, wenn sie strategisch nützlich bei der Verfolgung bestimmter Zielsetzungen oder Interessen erscheint. Das ist so mit Bezug auf die „Fridays for Future“, die im Zusammenhang mit einer globalen Reformierungs-Agenda der UN steht, und dies ist so, wenn bestimmte Interessengruppen mehrjährig manipulierte Kinder und Jugendliche durch Herabsetzung des Wahlrechtes als Stimmvieh für sich instrumentalisieren wollen.

Die Intelligenteren unter den Kindern und Jugendlichen werden früher oder später die Frage stellen, was tatsächlich ihre eigenen Interessen sind und in welche Bündnisse sie bei der Verfolgung ihrer Interessen einzutreten bereit sind. Sie sind die Ersten, die ihr Engagement für die Zielsetzungen Anderer einstellen werden, dicht gefolgt von denjenigen, die die Erfahrung machen, dass die kurzfristige Aufwertung des eigenen Status vor allem in den eigenen Augen, nicht in fremden Augen, erfolgt, und daher das Interesse an öffentlichen Inszenierungen der sozialen Identität verlieren.


Literatur:

Aries, Phillip, 1975: Geschichte der Kindheit. München: Hanser.

Betsch, Tilmann, Lehmann, Anne, Lindow, Stefanie, Lang, Anna & Schoemann, Martin, 2016: Lost in Search: (Mal-)Adaptation to Probabilistic Decision Environments in Children and Adults. Developmental Psychology 52(2): 311-325.

Brummelman, Eddie, Thomas, Sander, Nelemans, Stefanie A. et al., 2015: Origins of Narcissism in Children. PNAS (Proceedings of the National Academy of Sciences of the United States of America)I 112(12): 3659-3662.

Bühler-Niederberger, Doris (Hrsg.), 2005: Macht der Unschuld: Das Kind als Chiffre. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.

Charry, Karine & Pecheux, Claude, 2011: Children and Promoting a Healthy Diet: A Study on the Effectiveness of Using Threats in Advertising. RAM: Recherche et Applications in Marketing (English Edition) 26(2): 3-28.

Collins, Randall, 2000: Situational Stratification: A Micro-Macro Theory of Inequality. Sociological Theory 18(1): 17-43.

Lang, Anna & Betsch, Tilmann, Children’s Neglect of Probabilities in Decision Making with and without Feedback. Frontiers in Psychology 9: 191.

Rapp, Andreas F. & Wilkening, Friedrich, 2005: Children’s Recognition of the Usefulness of a Record: Distinguishing Deterministic and Probabilistic Events. European Journal of Developmental Psychology 2: 344-363.

Reyna, Valerie F., Chapman, Sandra B., Dougherty, Michael R. & Confrey, Jere (Hrsg.), 2012: The Adolescent Brain: Learning, Reasoning, and Decision Making. Washington, DC: American Psychological Association.

Thomaes, Sander & Brummelman, Eddie 2018: Parents‘ Socialization of Narcissism in Children, S. 143-148 in: Hermann, Anthony D., Brunell, Amy B. & Foster, Joshua D. (Hrsg.): Handbook of Trait Narcissism: Key Advances, Research Methods, and Controversies. Cham: Springer.

Van Duijvenvoorde, Anna C. K., Jansen, Brenda R., Bredman, Joren C. & Huizenga, Hilde M., 2012: Age-related Changes in Decision Making: Comparing Informed and Uninformed Situations. Developmental Psychology 48(1): 192-203.

Weiss, Brandon & Miller, Joshua D., 2018: Distinguishing Between Grandiose Narcissism, Vulnerable Narcissism, and Narcissistic Personality Disorder, S. 3-13 in: Hermann, Anthony D., Brunell, Amy B. & Foster, Joshua D. (Hrsg.): Handbook of Trait Narcissism: Key Advances, Research Methods, and Controversies. Cham: Springer.

Yurgelun-Todd, Deborah, 2007: Emotional and Cognitive Changes During Adolescence. Current Opinion in Neurobiology 17(2): 251-257.

Zelizer, Viviana A., 1994[1985]: Pricing the Priceless Child: The Changing Social Value of Children. Princeton, NJ: Princeton University Press.

Zinnecker, Jürgen, 2000: Kindheit und Jugend als pädagogische Moratorien. Zur Zivilisationsgeschichte der jüngeren Generation im 20. Jahrhundert, S. 36-68 in: Benner, Dietrich & Tenorth, Heinz-Elmar (Hrsg.): Bildungsprozesse und Erziehungsverhältnisse im 20. Jahrhundert: Praktische Entwicklungen und Formen der Reflexion im historischen Kontext. (Zeitschrift für Pädagogik, Beiheft 42.) Weinheim: Beltz.



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