Berechnung von Influenzatoten: Exzessmortalität – eine mathematische Spielerei

In den letzten Wochen werden wir regelrecht mit Verweisen darauf, dass COVID-19 angeblich nicht schlimmer als die Influenza sein soll, bombadiert, die meisten davon, offensichtlich in konzertierter Aktion von Cyber-Troops oder freiwilligen Spamern, die ihre IP-Adresse wechseln, um denselben Kommentar gleich mehrfach absetzen zu können (in unterschiedlichen Threads). Wenige Leser haben sich auch per eMail an uns gewendet, um ihrer Überzeugung, dass COVID-19 nicht schlimmer als eine Influenza sei, Ausdruck zu verleihen. Dabei variieren die Begründungen, sofern eine vorhanden ist, dahingehend, dass man bei Menschen, die an COVID-19 verstorben seien, nicht wissen könne, ob sie überhaupt an COVID-19 verstorben seien, ob nicht eine Ko-Morbidität Ursache sei oder sie letztlich sowieso gestorben wären, auch ohne COVID-19. Dem Zynismus sind dabei keine Grenzen gesetzt.

Wir haben hier bereits ausführlich dargelegt, warum COVID-19 NICHT mit einer Grippe vergleichbar ist.



In diesem Post wollen das dünne Eis, auf dem sich die Überzeugten, die behaupten, an Grippe würden mehr Menschen als an COVID-19 sterben, mit ein paar gezielten Schlägen brechen und die entsprechend Überzeugten zum Nachdenken anregen, denn:

Niemand weiß, wie viele Menschen an Influenza sterben, denn die Zahlen, an die sich viele klammern, als wäre es ihr letzter Strohhalm, sind allesamt geschätzt.

Die Schätzung wird – eine gewisse Ironie des Schicksals – vorgenommen, weil, wie das RKI schreibt, es die Erfahrung vieler Länder sei, “dass sich Todesfälle, die der Influenza zuzuschreiben sind, in anderen Todesursachen, wie z. B. Diabetes mellitus, Pneumonie oder „Krankheiten des Herz-Kreislauf-Systems“ verbergen können.” Die Influenza-Mortalitäten, mit denen viele so freigibig gegen die COVID-19-Mortalitäten vorgehen wollen, weil letztere Tote angeblich durch Ko-Morbitäten verursacht seien, müssen somit geschätzt werden, weil es Leute gibt, die denken, dass die Todesursache “Diabetes” eigentlich eine Todesursache “Influenza” sei. Ob das tatsächlich so ist, das weiß niemand.

Ein Leser hat uns diesen Kommentar geschickt:

“Wie erklären sich die 247 Influenza-Toten in 164 Tagen, wo doch in letzter Zeit pro Jahr /Grippesaison ca. 20.000 bis 25.000 an der Grippe sterben. Ist hier eine ähnliche neue Zähigkeit der Deutschen wie bei COVID 19 zu beobachten?”

Ein schöner Kommentar, um daran zu zeigen, wo die Toten pro Grippesaison herkommen. Zunächst ein kleiner Ausflug in den neuesten Influenza Wochenbericht des RKI. Dort kann man nachlesen, dass seit dem 8. Oktober 2019 und bis zum 22. März 2020 in Deutschland 323 Menschen an den Folgen einer Influenza gestorben sind. Von diesen 323 Toten wissen wir, dass sie an Influenza gestorben sind, weil sie dem RKI im Rahmen der Meldepflicht als solche übermittelt wurden.

Nun ist bekannt, dass dem RKI und den Erfahrenen aus anderen Ländern, 323 Tote zu wenig sind. Sie sind der Überzeugung, dass Influenza tödlicher sein müsse und schätzen daher die “Exzess-Mortalität”. Als Ergebnis dieser Schätzung ergeben sich dann Aufstellungen wie die folgende:

Wie man sieht, schwanken die Schätzungen erheblich, zwischen 0 in einer Grippesaison und 29.900 in einer anderen. Dass dem so ist, liegt daran, dass die Rechner in einer Weise im Dunkeln stochern, die ärgerlich macht. Warum? Dazu müssen wir die Berechnungsweise darstellen.

Der monatliche Verlauf der Gesamtsterblichkeit ist relativ stabil, so heißt es im Epidemiologischen Bulletin vom 14. März 2011 aus dem RKI. Es ist in jenem Bulletin, dass die bis heute gültige Methode zur Berechnung der Exzess-Todesfälle beschrieben wird, so jedenfalls die Behauptung im Bericht zur Epidemiologie der Influenza in Deutschland Saison 2017/18 des RKI. Der relativ stabile Verlauf sieht berechnet auf Jahresbasis so aus:

Die Exzess-Mortalität ist somit die Differenz zwischen einer erwarteten Mortalität und einer beobachteten Mortalität.

Die erwartete Mortalität ist eine Schätzung, die auf Basis von Monatswerten vorgenommen wird. Wie, darüber schweigen sich die Autoren des Epidemiologischen Bulletin vom 14. März 2011 aus, obwohl die Autoren des “Berichts zur Epidemiologie der Influenza in Deutschland Saison 2017/18” des RKI behaupten, dort würde die Berechnungsweise der Exzess-Mortalität dargestellt. Tatsächlich findet sich die Berechnungsweise in einem Beitrag von Philip Zucs, Udo Buchholz, Walter Haas und Helmut Uphoff, der den Titel trägt “Influenza associated excess-mortality in Germany 1985-2001”, und der in der Zeitschrift “Emerging Themes in Epidemiology veröffentlicht wurde.

Darin heißt es zur Berechnung:

“We used a “Fast Fourier Transform” to identify significant cyclical components in our time-series. As this procedure requires powers of 2 for the number of data-points, we looked at two overlapping time periods of 128 months each from January 1985 through August 1995 and from January 1991 through August 2001. In each of the two time-series, stationarity had to be achieved for any further modelling. Therefore the variance was stabilized by log transformation and the linear trend removed by linear regression and subtraction. We then used a least squares approach to fit a cosine curve described by the equation

Yt = a + bt + ∑Rcos(ωt + θ)

where Yt is the expected all-cause mortality, a and b are intercept and slope, respectively, of a linear term, t is the index for month of reported death, R is the amplitude of the periodic variation, ω is its frequency and θ is the phase.”

Diese Berechnung ist denjenigen, die den Schätzungen der Exzess-Mortalität durch Influenza so blind vertrauen, natürlich vertraut und natürlich ist ihnen auch klar, dass bei dieser Berechnung zwei Zeiträume, einer von Januar 1985 bis August 1995 und einer von Januar 1991 bis August 2001 mehr oder minder übereinander gelegt werden, nachdem die Zeit, die den Verlauf abbildet, in Häufigkeiten transformiert wurde (das meint Fast Fourier Transform), so dass anschließend versucht werden kann, jede Phase des Verlaufs einer Cosinuskurve linear zu beschreiben, nein, nicht jede:

“From this model, we omitted any month for which surveillance had indicated influenza activity and during which observed mortality exceeded modelled mortality. Refitting of the model yielded baseline all-cause mortality values which would be expected in the absence of influenza activity.”

Ausgeschlossen wurden also alle Monate, für die das Modell Werte vorhergesagt hat, die höher waren, als die beobachtete Sterblichkeit und alle Monate der Influenza-Saison. Als Ergebnis der Berechnung können die Autoren erwartete Werte für die Monate ihrer Verteilung, wie sie glauben, vorweisen und durch Subtraktion von beobachteter Sterblichkeit, die Exzess-Todesrate berechnen. Nun ist diese Methode eigentlich zu kompliziert, als dass sie Verwendung finden könnte. Sie ist darüber hinaus tautologisch, weil die Berechnung der “Basis-Sterblichkeit” auf dieselben Beobachtungsdaten zurückgreift, die dann benutzt werden, um die Abweichung zwischen den berechneten und den tatsächlichen Sterbeziffern durch einfach Subtraktion zu ermitteln. Deshalb gibt es noch eine vereinfachte Version:



“The time period under study was January 1985 through August 2001. We observed that during this period the ratios of each month’s mortality and that year’s average mortality (= relative mortality) followed a fairly constant pattern (Figure 1). We calculated the mean relative mortality of all  corresponding months across the years studied. Expected mortality for any given month could then be modelled by multiplying the respective mean with the total mortality observed in that year. Months in which influenza activity was reported and in which observed mortality exceeded the model values were omitted and mean monthly percentages recalculated by minimising the residuals for the remaining months. This step was repeated a second time resulting in the final model of baseline mortality. Upper and lower 90% confidence intervals (CI) were calculated based on the standard deviation of the residuals as described for cyclical regression.”

Das beschreibt wohl die Vorgehensweise, auf der bis heute alle Exzess-Mortalität für Influenza im Robert-Koch-Institut berechnet wird:

Für alle Januare, Februare, Märze etc. im Zeitraum von Januar 1985 bis August 2001 wurden Mittelwerte berechnet. 

Die Erwartete Mortalität für einen Monat, sagen wir den Januar 1986, wird dann durch einfache Multiplikation des für Januare errechneten Mittelwerts mit der Gesamtsterblichkeit eines Jahres, hier für 1986, errechnet. Abermals wurde alles, was von der Modellerwartung abweicht, eliminiert. Die Validität dieser Vorgehensweise kann in der nächsten Tabelle begutachtet werden. 

Fast Fourier Transform

Die beiden Berechnungsmethoden, die hier jeweils mit dem errechneten Wert und mit einer konservativen Schätzung dargestellt sind (das ist nichts anderes als die Werte, die sich ergeben, wenn man ein 10%-Konfidenzintervall berechnet und nur die unteren, nicht aber die oberen Werte der Rechnung berücksichtigt) weichen zum Teil erheblich voneinander ab. Für den gesamten Zeitraum von 1984/85 bis 2000/01 (letzte Zeile), ergeben sich Unterschiede von 16.480 Toten bzw. 5.280 Toten (konservative Schätzung). Das ist keine Kleinigkeit, zumal sich dahinter keine einheitliche Abweichung verbirgt, erbringen doch einmal zyklische Regressionen, einmal die relative Verteilung der Sterblichkeit höhere Werte. 1984/1985 sollen z.B. auf Basis der Berechnung mittels zyklischer Regression 14.320 Menschen in Deutschland an Influenza gestorben sein. Für die Methode der relativen Verteilung ergeben sich 17.600 Menschen. 1991/92 ist das Verhältnis umgekehrt. Nun ergeben sich bei Berechnung mit zyklischer Regression 17.440 Influenzatote, bei Berechnung nach der Methode relativer Verteilung sind es 12.640. Besonders interessant sind die Jahre, in denen eine oder beide Schätzungen in ihrer konservativen Ausprägung keinerlei Exzess-Sterblichkeit ergeben, 1987/88 z.B. beide Methoden, 1988/89 nur die Methode der relativen Verteilung. Was ist nun richtig? Und welche der beiden Methoden kommt der Wirklichkeit der tatsächlich an Influenza Gestorbenen näher?

Es gibt keine Möglichkeit zu bestimmen, welche der beiden Methoden die bessere ist, und es gibt keine Möglichkeit zu bestimmen, ob mit beiden Methoden nicht irgendwelche Luftnummern berechnet werden. Wollte man die Akkuratheit der beiden Methoden prüfen, müsste man die Todesursache für die Krankheiten, hinter denen sich vielleicht eine Influenza verbergen kann, bestimmen, also post-mortem Untersuchungen für an Diabetes, Pneumonie, Herz-Kreislauf-Erkrankungen Verstorbene durchführen. Das macht natürlich niemand. Deshalb kann man nach Lust und Laune Exzess-Mortalitäten berechnen und darauf hoffen, dass es immer wieder Leute gibt, die die Rechenkunststücke für bare Münze nehmen.

Wir hoffen doch, dass unsere Leser davon nun geheilt sind.




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