Die Zecken und das Alongshan-Virus – Alte (harmlose) Hüte für neue Panik

“Nachweise auch in Deutschland: Neu entdecktes Zeckenvirus auf dem Vormarsch”, so titelt es beim ZDF. Nun ist ein Vormarsch die Beschreibung einer Entwicklung zwischen zwei Zeitpunkten. Dumm, dass der Vormarsch, den eine Minderintelligenzbestie beim ZDF sehen will, nur einen Zeitpunkt als Datum hat.

Aber Panik zu fühlen, oder besser noch: zu verbreiten, scheint bei manchen Deutschen ein Grundbedürfnis zu sein.

Panik ist das, was Arbeiten deutscher “Wissenschaftler” in vielen Fällen beherrscht, vielleicht ist es auch weniger Panik als vielmehr Druck, der dazu führt, dass Leute, die Wissenschaftler sein wollen, gebetsmühlenartig das verbreiten, was ihre politischen und medialen Herren von ihnen hören wollen:

“The emergence of new diseases is an increasing threat to human and animal health. Worldwide changes, such as climate change and biodiversity loss, can facilitate the spread of infectious diseases since these factors may favor competent host species”

Das Auftauchen neuer Erkrankungen ist eine zunehmende Gefahr für die Gesundheit von Mensch und Tier. Weltweite Veränderungen, z.B. Klimawandel und der Verlust von Biodiversität, können die Verbreitung von Infektionskrankheiten fördern, da diese Faktoren Wirtsspezien, die mit ihm umgehen können, favorisieren könnte.

Derartig politisch korrekter Unfug, gepaart mit der geradezu glorios tautologischen Erkenntnis dass die Verbreitung von Krankheiten, für die Gesundheit gefährlich sein kann, findet sich nicht nur zu Beginn von Texten deutscher Autoren, aber er findet sich häufiger am Beginn der Arbeiten deutscher Autoren als dies bei Autoren anderer geographischer Provenienz der Fall ist. So jedenfalls unsere Beobachtung.

Die zitierten Kniefälle vor unwissenschaftlichem Bullshit finden sich in der Arbeit von Ebert et al. (2023):

Ebert, Cara Leonie, Lars Söder, Mareike Kubinski, Julien Glanz, Eva Gregersen, Katrin Dümmer, Domenic Grund et al. (2023). Detection and characterization of alongshan virus in ticks and tick saliva from lower Saxony, Germany with serological evidence for viral transmission to game and domestic animals. Microorganisms 11(3): 543.

Die Arbeit erfreut sich derzeit großer medialer Aufmerksamkeit.

Nun ist die Arbeit von Ebert et al. (2023) älter als man denken würde, wurde sie doch bereits im Februar 2023 veröffentlicht. Die Zecken, in deren Speichel das Alongshan-Virus (eingepacktes Doppelstrang-RNA-Virus) entdeckt wurde, sind noch älter. Sie wurden von Wildtieren zwischen 2017 und 2019 gewonnen.

Man fragt sich: Warum wird gerade jetzt ein Virus durch die Presse gejagt, das zugegebenermaßen neu ist, dessen Entdeckung für Europa aber ein alter Hut ist. Schon 2019 haben Kuivanen et al. (2019) das Alongshan-Virus in einer von 198 Zecken, die sie 2017 auf Kotka gesammelt haben, nachgewiesen. Ihre Aufmerksamkeit war auf das Alongshan-Virus gerichtet worden, weil sie es zuvor in Proben von Zecken, die 2011 auf Kotka gesammelt wurden, entdeckt hatten. Kurz, das 2010 in China erst-entdeckte Virus war schon 2011 in Finnland.

Kuivanen, Suvi, Lev Levanov, Lauri Kareinen, Tarja Sironen, Anne J. Jääskeläinen, Ilya Plyusnin, Fathiah Zakham et al. “Detection of novel tick-borne pathogen, Alongshan virus, in Ixodes ricinus ticks, south-eastern Finland, 2019.” Eurosurveillance 24, no. 27 (2019): 1900394.

Nicht gerade weit verbreitet, aber weit gereist, war das Virus damals, das in Jingmen in China erstmals in einer verwandten Form entdeckt wurde und wohl von dort aus seine Reise um die Welt begonnen hat. (Fast) Alle Viren führen nach China, wie man flapsig formulieren könnte.

Nicht gefunden haben die Finnen das Virus in Menschen. 984 Blutproben von 879 Menschen, die sie untersucht haben, blieben negativ.

Kein Grund zur Sorge also.
Das war 2019.

Im selben Jahr erschienen zwei Beiträge Chinesischer Autoren im New England Journal of Medicine und in EBioMedicine, die von Menschen berichteten, die sich mit dem Jingmen Tick Virus, einem nahen Verwandten des Alongshan-Virus bzw. mit dem Alongshan-Virus infiziert hatten:

Jia NLiu HBNi XBBell-Sakyi LZheng YCSong JL, et al. Emergence of human infection with Jingmen tick virus in China: A retrospective study. EBioMedicine. 2019;43:31724 https://doi.org/10.1016/j.ebiom.2019.04.004  PMID: 31003930 

Wang ZDWang BWei FHan SZZhang LYang ZT, et al. A New Segmented Virus Associated with Human Febrile Illness in China. N Engl J Med. 2019;380(22):211625 https://doi.org/10.1056/NEJMoa1805068  PMID: 31141633 

Beide Studien sind bis heute die einzigen, die überhaupt eine Verbindung zwischen menschlicher Erkrankung und dem Alongshan oder dem Jingmen Tick Virus herstellen. Ergo müssen auch Ebert et al. (2023) ihre Sorge auf diese beiden Studien gründen, die schon Kuivanen et al. (2019) referenziert haben:

“One of these new potential pathogens is the group of Jingmenviruses [12], including JMTV and ALSV [Alongshan-Virus], which are associated with disease in humans” (Ebert et al., 2023).

Jia et al. (2019) berichten von 12 Patienten, die nach einem Zeckenbiss positiv auf das neuartige Jingmen-Tick-Virus getestet wurden. Die folgende Tabelle stammt aus dem Beitrag von Jia et al. (2019) und zeigt, dass die meisten der 12 Patienten mit Kopfschmerzen zu kämpfen hatten, fünf entwickelten Fieber, ebenfalls fünf mussten hospitalisiert werden. Abgesehen von Hautausschlag und geschwollenen Lymphknoten waren die Symptome individuelle verschieden.

Indes benötigten die Autoren SIEBEN Jahre, um die 12 Fälle von Erkrankungen, die in einem Zusammenhang mit dem Jingmen-Virus stehen, zusammenzuklauben. Angesichts der Tatsache, dass Hirnhautentzündung (Meningitis) zu den Erkrankungen gehört, die durch einen Zeckenbiss ausgelöst werden können, scheint das Jingmen-Tick-Virus eher zu den harmlosen Vertretern seiner Zunft zu gehören.

Auch die zweite chinesische Studie gibt wenig Anlass zur Besorgnis. Deren Autoren, Wang et al. (2019), können immerhin auf 86 Patienten zurückgreifen, bei denen Antikörper zum Alongshan-Virus, also nicht zum relativ eng verwandten Jingmen-Tick-Virus gefunden wurden. Gesammelt wurden die Antikörper als Reaktion auf einen “Indexpatienten”, bei dem das Alongshan-Virus entdeckt wurde in den Chinesischen Provinzen der Inneren Mongolei, von Jilin und Heilongjian. 374 Patienten, die von Mai 2017 bis September 2017 ein Krankenhaus aufgesucht haben, eine Geschichte von Zeckenbissen hatten und mit Kopfschmerzen und Fieber vorstellig wurden, wurden auf das Alongshan-Virus getestet. Bei 86 konnte es nachgewiesen werden. Diesen 86 Personen wurde dann nachträglich von den Autoren eine Alongshan-Virus-Infektion attestiert, und es wurden die Gesundheitsbeschwerden, die die 86 Chinesen aufgewiesen haben, rundweg dem Alongshan-Virus zugerechnet.

Die Tabelle zeigt, was dabei gefunden wurde: Einmal mehr geht eine Alongshan-Infektion, sofern eine solche vorgelegen hat, mit Kopfschmerzen und Fieber einher, Müdigkeit kommt hinzu, Depression wird zugeschrieben, und “Coma” ist offenkundig eine falsche Bezeichnung, die auf Dizziness oder andere, das Bewusstsein temporär beeinträchtigende Zustände zielt. Das kann man deshalb mit Sicherheit sagen, weil die Autoren es bei einer einmaligen Erwähnung von “Coma” belassen. Hätten tatsächlich 35% der vermeintlichen Alongshan-Infizierten dauerhaft das Bewusstsein verloren und wären in ein Koma gefallen, die Autoren hätten ihr Ergebnis ganz anders präsentiert.

Letztlich unterscheidet sich die Liste der Gesundheitsprobleme nicht sonderlich von der Liste der Nebenwirkungen von Comirnaty oder Spikevax, die als leichte Nebenwirkungen, bestenfalls als moderate Nebenwirkungen klassifiziert werden.

Ein weiterer Grund, sich keine Sorgen zu machen.

Fassen wir zusammen:

Die deutschen Medien verbreiten derzeit die Geschichte eines neuartigen Virus, das 2019 in Finnland in Proben aus 2017 und 2011, 2020 in Russland und der Schweiz und in einem Beitrag aus dem Februar 2023, den deutsche Autoren zu verantworten haben und in dem Daten aus den Jahren 2017 bis 2019 verarbeitet wurden, nachgewiesen wurde. Ein Virus, für das es zwei chinesische Studien, die zweite davon (die das Alongshan-Virus zum Gegenstand hat) von zweifelhafter Qualität, gibt, die zeigen, dass die gesundheitlichen Folgen, die man einer Infektion mit dem Alongshan-Virus zuschreiben kann (oder auch nicht), nicht in die Klasse fällt, die mit “erheblich” überschrieben ist.

Auch das Sommerloch wird mittlerweile dazu benutzt, das Paniklevel durch stete Anfütterung mit schrecklichen neuen, potentiellen Gefahren auf hohem Niveau zu halten.


 


Anregungen, Hinweise, Kontakt? -> Redaktion @ Sciencefiles.org
Wenn Ihnen gefällt, was Sie bei uns lesen, dann bitten wir Sie, uns zu unterstützen. ScienceFiles lebt weitgehend von Spenden. Helfen Sie uns, ScienceFiles auf eine solide finanzielle Basis zu stellen.
Wir haben drei sichere Spendenmöglichkeiten:

Donorbox

Unterstützen Sie ScienceFiles


Unsere eigene ScienceFiles-Spendenfunktion

Zum Spenden einfach klicken

Unser Spendenkonto bei Halifax:

ScienceFiles Spendenkonto: HALIFAX (Konto-Inhaber: Michael Klein):
  • IBAN: GB15 HLFX 1100 3311 0902 67
  • BIC: HLFXGB21B24

Print Friendly, PDF & Email
5 Comments

Bitte keine Beleidigungen, keine wilden Behauptungen und keine strafbaren Inhalte ... Wir glauben noch an die Vernunft!

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.

Liebe Leser,

seit 2011 sind wir als zentrale Stelle zur Prüfung von nicht nur wissenschaftlichen Informationen für Sie da -

Unentgeltlich in all den Jahren.

Bislang sind wir in der Lage, unseren Aufwand über Spenden zu decken.

Damit das auch weiterhin so bleibt, benötigen wir Ihre Hilfe:

Unterstützen Sie bitte unsere Arbeit:

➡️Über Donorbox,
➡️unser Spendenkonto bei Halifax oder
➡️unsere sichere in den Blog integrierte Spendenfunktion.

Sie finden alle notwendigen Informationen hier:

ScienceFiles-Unterstützung

Vielen Dank!