Und wieder klappt die Steuerung nicht: Statt MINT-Fächern Sprach-/Kultur- und Sozialwissenschaften

Der folgende Post ist durch einen Beitrag von Brugger und Wolters (2012) in der Reihe Wirtschaft und Statistik des Statistischen Bundesamts angeregt, das heißt. vor allem von den Lücken in dem nämlichen Beitrag. Brugger und Wolters beschreiben den Weg von der Hochschulreife bis zum Studienabschluss, d.h. den Übergang von der Schule auf die Universität, und zwar auf der Grundlage der amtlichen Bildungs- und Hochschulstatistiken. Die amtlichen Statistiken erlauben es den Autoren z.B. festzustellen, dass im Jahre 2010 180.800 Studienberechtigte ein Studium begonnen haben und dass 99.800 davon weiblich und 81.000 männlich sind. Bezieht man die Zahlen auf die Anzahl der Personen, die insgesamt studienberechtigt sind, also die (Fach-)Hochschulreife erreicht haben, dann haben im Jahr 2010 41% aller weiblichen Studienberechtigten und 37% aller männlichen Studienberechtigten ein Studium aufgenommen.

Damit schlägt sich die größere Zahl weiblicher Schulabgänger mit (Fach-)Hochschulreife  auch in der Zahl derer, die ein Studium aufnehmen, nieder. Auf die Anzahl derjenigen, die 2010 ein Studium aufgenommen haben, prozentuiert, waren 55,2% der Erstsemester weiblich, 44,8% männlich. Darüber hinaus zeigt die so genannte Erstabsolventenquote, dass der Anteil von weiblichen bzw. männlichen Absolventen eines Erststudiums gerechnet auf den Anteil der jeweiligen Erstabsolventen an der Gesamtbevölkerung seit dem Jahre 2000 einen deutlichen Anstieg für weibliche Erstabsolventen, von 16,2% im Jahre 2000 auf 31,5% im Jahre 2010 genommen hat. Dagegen ist die Erstabsolventenquote männlicher Absolventen von 17,5% im Jahre 2000 auf 28,3% im Jahre 2010 gestiegen. Die Zahl der weiblichen Akademiker wuchs demnach zwischen 2000 und 2010 um den Faktor 1,9, während die Zahl der männlichen Akademiker um den Faktor 1,6 wuchs und spätestens seit 2002 hinter der entsprechenden Zahl weiblicher Akademiker zurück bleibt.

Vor diesem Hintergrund, der immer mehr weibliche Schulabgänger mit (Fach-)Hochschulreife ein Studium aufnehmen sieht, der immer mehr weibliche Absolventen ein Studium abschließen sieht und der proportional dazu männliche Schulabgänger mit (Fach-)Hochschulreife, Studierende und Absolventen immer weiter ins Hintertreffen geraten lässt, hat es mich interessiert, wie sich die überproportionale Zahl von weiblichen Studierenden auf die von ihnen gewählten Fächer niederschlägt. Dies hat mich vor allem vor dem Hintergrund interessiert, dass BMFSFJ, BMBF und eine Unzahl von Institutionen, die sich dem Ziel verschrieben haben, mehr Mädchen in “Männerberufe” zu bringen, natürlich nicht Männerberufe als solche, sondern akademische Berufe, die man als Männerberufe ansehen kann und die durch Studienfächer wie Mathematik, naturwissenschaftliche Fächer oder Ingenieurswissenschaft (und Technik = MINT) vorbereitet werden, seit Jahren mit Aktion nach Aktion Steuergelder in Programme zur Förderung der MINT-Studierbereitschaft von weiblichen Abiturienten vergraben, ohne dass bislang eine Evaluation des Erfolgs der entsprechenden Programme vorgenommen worden wäre.

Zudem haben eine ganze Reihe von Hochschulen damit begonnen, weibliche Studenten in MINT-Fächern positiv zu diskriminieren (was immer damit einhergeht, dass die entsprechenden männlichen Studenten negativ diskriminiert werden) und Studiengänge z.B. in Informatik exklusiv für weibliche Studierende anzubieten. Angesichts der Vielzahl von Aktionen, mit denen versucht wird, weibliche Studierende zur Aufnahme der Studienfächer zu lotsen, die sie traditionell nicht studieren wollen, wäre eigentlich zu erwarten, dass  der Anteil weiblicher Studierender in den entsprechenden Fächern proportional zum Anteil männlicher Studierender gestiegen ist.

Also habe ich in der Publikation von Brugger und Wolters nach einer Antwort auf diese Forschungsfrage gesucht und keine gefunden. Die Publikation zeichnet sich durch eine ganze Reihe von Lücken aus. Das Fehlen einer Darstellung der  Studienfachwahl nach Geschlecht, ist angesichts des Trommelwirbels für weibliche Schulabgänger mit (Fach-)Hochschulreife  in MINT-Fächern kaum nachvollziehbar. Aber gut, wo nichts ist, kann man auch nichts finden, und entsprechend muss man es selber machen. Also habe ich mir die Daten des Statistischen Bundesamts für Studierende an Hochschulen, Fachserie 11 Reihe 4.1, für das Wintersemester 2011/2012 zur Hand genommen und bin gleich auf das erste Problem gestoßen: die Studierendenzahlen sind explodiert, weil manche Länder zwei Abiturientenjahrgänge auf einmal an die Universitäten schicken (Umstellung auf 8 gymnasiale Schuljahre), und sie sind explodiert, weil der männliche Aderlass, der jährlich von der Bundeswehr vorgenommen wurde, nicht mehr erfolgt. Das Ergebnis sind im Zeitverlauf verzerrte Zahlen und daraus ergibt sich die Notwendigkeit, einen Weg zu finden, um die Verzerrung herauszurechnen. Ich habe folgenden Weg gefunden:

  • Für die Daten der Wintersemester 2007/2008 bis 2011/2012 habe ich lineare Steigerungsraten berechnet, die zeigen, um wie viel die Anzahl z.B. derjenigen, die ein Studium der Humanmedizin aufgenommen haben, im Durchschnitt gewachsen ist. (So ist im Zeitraum z.B. die Anzahl der Studierenden der Humanmedizin um durchschnittlich 4.901 Studierende pro Jahr gewachsen).
  • Im nächsten Schritt habe ich berechnet, wie sich die durchschnittliche lineare Steigerung auf die beiden Geschlechter verteilt. Als Ergebnis dieser Rechnung erhalte ich den Anteil, den z.B. männliche Studierende an der Zunahme der durchschnittlichen Anzahl der Studierenden haben. Für die Humanmedizin ergibt sich dabei z.B. ein Anteil von 27.01%, d.h. das Fach Humanmedizin wird vornehmlich von weiblichen Studierenden im Verhältnis von rund 3 zu 1 aufgenommen (3 weibliche Studierende auf einen männlichen Studierenden).
  • Sodann habe ich die Effekte, von denen ich oben berichtet habe, herausgerechnet und die Steigerungsanteile für die beiden Geschlechter auf die jeweiligen durchschnittlichen Steigerungsraten, die ich berechnet habe, wie oben bereits dargestellt, standardisiert. Als Ergbnis erhalte ich einen Koeffizienten, der um 1 variiert, wobei Werte oberhalb von 1 bedeuten, dass ein bestimmtes Studienfach im Zeitverlauf proportional häufiger aufgenommen wird, während ein Koeffizient, der kleiner als 1 ist, aussagt, dass ein bestimmtes Studienfach im Zeitverlauf proportional seltener aufgenommen wird. (Die Koeffizienten können transformiert und nach Transformation als Prozentzahl interpretiert werden, aber das nur nebenbei: (Koeffizient*100)-100).

Das Ergebnis der Berechnungen ist in der folgenden Abbildung dargestellt und kann wie folgt zusammengefasst werden:

    1. Weibliche Studierende nehmen weit überproportional ein Studium der Sprach- und Kulturwissenschaften, der Rechts-, Wirtschafts- und Sozialwissenschaften sowie der Humanmedizin auf.
    2. Männliche Studierende nehmen weit überproportional ein Studium der Ingenieurswissenschaften und der Mathematik und Naturwissenschaften auf.
    3. Vergleicht man die jeweiligen Anteile der Studierenden im ersten Semester mit den entsprechenden Anteilen aller Studierenden, dann ergibt sich seit dem Wintersemester 2007/2008 ein starker Trend für weibliche Studierende zur Aufnahme eines Studiums der Sprach- und Kulturwissenschaften sowie der Rechts-, Wirtschafts- und Sozialwissenschaften sowie ein mittelmäßiger Trend für männliche Studierende zur Aufnahme eines Studiums der Mathematik oder der Naturwissenschaften.
    4. Vergleicht man abermals die proportionalen Entwicklungen der Zahl der Studierenden mit der entsprechenden Entwicklung der Zahl der Erstsemester, dann zeigt sich, dass die Anzahl der weiblichen Studierenden, die ein Studium der Ingenieurswissenschaften oder ein Studium der Mathematik oder Naturwissenschaften aufnehmen, seit dem Wintersemester 2007/2008 proportional sinkt, während sie bei männlichen Studierenden zumindest im Fachbereich Mathematik und Naturwissenschaften proportional steigt.

Gilt natürlich nicht für sciencefiles

Gemessen an diesen Ergebnissen, die auf den Daten der amtlichen Statistik basieren, die also auf der Grundlage aller Studierenden und Erstsemester der letzten fünf Wintersemester berechnet wurden, muss festgestellt werden, dass alle Versuche, mehr weibliche Studierende zur Aufnahme eines MINT-Studienfaches zu bewegen, verpufft und im Hinblick auf die beabsichtigte Erhöhung des Anteils weiblicher Studierender in den MINT-Fächern komplett ohne Wirkung geblieben sind. Daher wäre es an der Zeit, die Verschwendung von Steuergeldern für Marketingaktionen, die den mit ihnen beworbenen Fächern offensichtlich nichts bringen, zu beenden und die entsprechenden Institutionen, die ihr Geld z.B. mit der Vermarktung des Girls-Day verdienen, von der Liste der durch Steuergelder am Leben erhaltenen Institutionen zu streichen. Und gerade weil der Nachweis der kompletten Unwirksamkeit der gesammelten MINT-Aktionen relativ einfach ist, frage ich mich, warum die entsprechenden Aktionen, die Millionen von Steuermitteln verschlingen, nach wie vor nicht evaluiert werden…

Einen Anhaltspunkt dafür, wie die Befunde erklärt werden können, hat mir Dr. habil. Heike Diefenbach gegeben, der ich die Ergebnisse kurz berichtet habe. Die Tatsache, dass ein proportionaler Rückgang der Studienneigung weiblicher Studierender für Fächer wie Mathematik und Naturwissenschaften sowie für Ingenieurswissenschaften zu verzeichnen ist, wird von ihr als perverser Effekt betrachtet, der z.B. durch die ständige Betonung der entsprechenden Fächer als “männliche” Fächer, die es von weiblichen Studierenden aufzunehmen gelte, hervorgerufen wird und Letztlich zu nichts anderem führt als einem crowding out, einer Verdrängung der vielleicht einmal vorhandenen Bereitschaft, das Studium eines entsprechenden MINT-Faches aufzunehmen. Entsprechend hätte das Trommelfeuer, mit dem weibliche Schüler zur Aufnahme eines Studiums in einem MINT-Fach bewegt werden sollen, doch einen Effekt, allerdings einen der der Intention der Trommler diametral entgegen steht.

Brugger, Pia & Wolters, Miriam (2012). Vor der Hochschulreife zum Studienabschluss, In: Statistisches Bundesamt (Hrsg.) Wirtschaft und Statistik, S.655-663.

Bildnachweis:
Uni Oldenburg
TU Chemnitz

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