Gibt es eine inoffizielle Jungenquote für Sonderschulen?

Dr. habil. Heike Diefenbach & Michael Klein

Sonderschueler201112Es gibt in Deutschland wohl kaum ein schlimmeres Verhängnis, das einen Schüler ereilen kann, als auf eine Sonderschule überwiesen zu werden. Wer auf eine Sonderschule abgeschoben wird, der ist nicht nur stigmatisiert, seine Bildungskarriere ist bereits zu Ende noch ehe sie begonnen hat.  So haben im Schuljahr 2011/2012 rund 75% der Absolventen von Sonderschulen dieselbe ohne jeglichen Schulabschluss verlassen, gut 23% haben einen Hauptschulabschluss, 2,5% einen Realschulabschluss und 0,2% eine Hochschulreife erreicht. Diese Zahlen, die den Euphemismus, der hinter der politisch korrekten Bezeichnung “Förderschule” steht, als eben solchen, nein als Zynismus entlarven, sind der Grund dafür, dass wir nicht von Förder- sondern von Sonderschulen sprechen. Es mag politisch korrekt sein, von Förderschulen zu reden, es ist empirisch korrekt, von Sonderschulen zu sprechen, denn gefördert wird hier niemand, hier wird lediglich ausgesondert: Am Ende der Sonderschule stehen 75% Absolventen ohne gültigen Abschluss, ein Ergebnis, dass sie mit Sicherheit auch ohne die vermeintliche  Förderung erreicht hätten.

Obwohl ein solches Ergebnis, wie es die Abbildung darstellt, eigentlich dazu führen müsste, dass Sonderschulen beseitigt werden, da sie ein Lebenschancen-Killer par excellence sind und darüber hinaus keinerlei positiver Nutzen bestimmbar ist, der daraus erwachsen würde, dass man Kinder auf Sonderschulen überweist, sind Sonderschulen ein fester Bestandteil des deutschen Schulsystems, und wie Dr. Diefenbach immer sagt: “Wenn erst einmal institutionelle Plätze für was auch immer geschaffen sind, dann werden diese Plätze auch gefüllt, egal, ob Bedarf besteht oder nicht”. Schließlich, so könnte man anschließen, hängen Arbeitsplätze von Sonderschullehrern davon ab, dass der Nachschub an Sonderschülern auch fließt.

Kottmann SonderschuleNun sollte man meinen, dass Lehrer dann, wenn sie Kinder auf Sonderschulen überweisen, besonders sorgfältig und verantwortungsbewusst sind. Immerhin geht mit der Überweisung so gut wie sicher ein Ende der beruflichen Karrieremöglichkeiten und ein erheblicher Einschnitt in die Lebenschancen,  des von der Überweisung betroffenen Kindes einher, wie die Zahlen oben deutlich belegen. Diese Annahme stellt sich jedoch als frommer Wunsch heraus, wie ein genauer Blick auf die Überstellung an Sonderschulen, den Brigitte Kottmann (2006) angestellt hat, zeigt. Die Überweisung auf Sonderschulen scheint sich auf soziale Determinanten wie Geschlecht, soziale Schicht und ethnische Zugehörigkeit und auf disziplinarische Erwägungen zu gründen. Das Wohl des betreffenden Kindes scheint eher keine, bis eine marginale Rolle zu spielen.

Dazu passen Ergebnisse, die Heike Diefenbach unlängst im von Michael Matzner und Wolfgang Tischner herausgegebenen Sammelband “Handbuch Jungenpädagogik” veröffentlicht hat. Die Ergebnisse zeigen, dass die Kritierien, die eine Überstellug auf eine Sonderschule rechtfertigen, über die letzten Jahrzehnte immer weicher geworden sein müssen, da u.a. eine Verlagerung stattgefunden hat, vom “Förderschwerpunkt Lernen” auf den “Förderschwerpunkt emotionale und soziale Entwicklung”. So werden zwischenzeitlich rund 40.000 Kinder jährlich wegen angeblicher Defizite ihrer emotionalen Jungenpaedagogik 2Auflund sozialen Entwicklung auf Sonderschulen abgeschoben, rund 85% davon sind Jungen. Dies ist nicht nur ein Indiz dafür, dass Sonderschulplätze zunehmend mit weichen und kaum nachvollziehbaren, weil nicht explizit formulierten Kriterien gefüllt werden, es ist auch ein Indiz dafür, dass die Institution “Sonderschule” ihren Anteil an den vorhandenen Ressourcen von Schulkinder fordert, koste es, was es wolle. Der Hunger nach Sonderschülern, den die Institution “Sonderschule” entwickelt, wird zu 67% mit Jungen gefüllt, und da Jungen diejenigen sind, denen in Schulen die größten disziplinarischen Probleme nachgesagt, zugewiesen oder angedichtet werden, liegt der Verdacht nahe, dass Sonderschulen regelrecht dazu genutzt werden, um Kinder abzuschieben, die dem, was Lehrer als Idealbild vom guten Schüler haben, nicht entsprechen.

Und obwohl wir angesichts dieser Vorgeschichte auf einiges gefasst waren und obwohl Heike Diefenbach bereits mehrfach darauf hingewiesen hat, dass der Anteil der Jungen unter den Sonderschülern bemerkenswert stabil ist, ist das, was wir im Folgenden darstellen werden, nicht nur unglaublich, sondern ein Ergebnis, das wir in unseren langen Karrieren als Sozialforscher in dieser Dramatik und Konsistenz bislang nur einmal gesehen haben.

Die folgende Abbildung (links) zeigt die Entwicklung der Anzahl der Kinder, die sich auf Sonderschulen befinden, und zwar für den Zeitraum von 1993 bis 2012. Wie sich zeigt, sind die nominalen Schwankungen in der Anzahl der Kinder, die auf Sonderschulen überwiesen werden, beträchtlich, was die Abbildung auf der rechten Seite noch deutlicher macht.

Sonderschueler nach GeschlechtSonderschueler Veraenderung

Im Durchschnitt verändert sich die Anzahl der Sonderschüler im Beobachtungszeitrum um jährlich 6.986 Schüler. Die Schülerzahlen auf Sonderschulen verändern sich damit im Durchschnitt um jährlich zwei Prozent. Man sollte annehmen, dass sich diese Veränderung auch auf das Verhältnis von Jungen und Mädchen auf Sonderschulen auswirkt. Wie die nächste Abbildung zeigt, ist dies aber nicht der Fall.

Sonderschueler Anteile

Die Anteile von Jungen und Mädchen, die über einen Zeitraum von 20 Jahren auf Sonderschulen überwiesen wurden, sind stabil. Sie variieren lediglich im Nachkommabereich, zwischen 63,17% und 63,81% bei Jungen und zwischen 36,83% und 36,19% bei Mädchen. Der Mittelwert beträgt über 20 Jahre hinweg 63,47% für den Anteil männlicher und 36,53% für den Anteil weiblicher Sonderschüler. Die Standardabweichung beträgt für den Anteil männlicher und weiblicher Jugendlicher 0,20, über einen Zeitraum von zwanzig Jahren. Dies ist ein Ergebnis, dass einen empirischen Sozialforscher die Stirn runzeln lässt und wären die Daten keine amtlichen Daten, sondern Befragungsdaten, er würde nach einem Bias oder nach einer sonstigen Art von Fehler suchen, der bei der Erhebung bzw. der Erfassung der Daten gemacht worden sein könnte.

Hier handelt es sich aber um amtliche Daten. Jeder Sonderschüler, der über den betrachteten Zeitraum auf eine Sonderschule überwiesen wurde, ist hier erfasst. Die Tatsache, dass die Anteile von Jungen und Mädchen über den Beobachtungszeitraum standardisiert zu sein scheinen, muss also anders erklärt werden, aber wie?

Es ist weitgehend ausgeschlossen, dass ein Verlauf, wie ihn die letzte Abbildung zeigt, durch Zufall und ohne das standardisierende Zutun von Menschen zu Stande kommt. Wenn aber Zufall ausgeschlossen und sozial verursachte Systematik angenommen werden muss, dann bleiben nur die Erklärung, dass entweder die Stereotype, die von deutschen Lehrern landauf landab gepflegt werden, so erstaunlich identisch sind, dass die Anteile von Jungen, die bundesweit auf Sonderschulen überwiesen werden, in Bremerhaven wie in Hof weitgehend identisch sind, oder es bleibt die Erklärung, dass die Zuweisung auf Sonderschulen nach einem fest vorgegebenen Schlüssel, nach einer fest vorgegebenen Quote erfolgt, d.h. per Vorgabe an Schulen der Art: Im Schuljahr 2012/2013 müssen x Jungen und y Mädchen auf die Sonderschule überwiesen werden.

Was auch immer der Fall ist, angesichts der Tatsache, dass ein Sonderschulbesuch das Ende des Traums von der Berufskarriere bedeutet und die Lebenschancen der Betroffenen in umfassender Weise beeinträchtigt, ihnen ein Leben in Abhängigkeit von Jugend-, Sozial- und sonstigen -arbeitern vorgibt, sind die vorliegenden Ergebnisse wohl auf eine Form von Zynismus bzw. böser systemischer Banalität zurückzuführen,, die sprichwörtlich über Leichen geht, und der institutionellen Notwendigkeit, Sonderschüler zugewiesen zu bekommen, die Leben der entsprechenden Quoten-Sonderschüler opfert.

Rund 25.000 der gut 400.000 Schüler auf deutschen Sonderschulen wurden wegen Seh-, Hörbehinderung oder wegen einer nicht weiter spezifizierten Krankheit auf die Sonderschule überwiesen, d.h. rund 375.000 Sonderschüler finden sich auf Sonderschulen weil ihnen eine Lernschwäche, ein Rückstand in ihrer sozio-emotionalen, ihrer körperlichen oder ihrer geistigen Entwicklung attestiert wird. Wie oben bereits festgestellt, nehmen die Überweisungen wegen sozio-emotionaler Entwicklungsrückstände stetig zu, haben sich im Beobachtungszeitraum fast verdoppelt. Die Förderschwerpunkt übergreifenden Überweisungen auf Sonderschulen haben sich nahezu um das Sechsfache gesteigert. Allen den Überweisungsgründen, die wachsenden Überweisungszahlen trotz zurückgehender Schülerzahlen aufweisen, ist gemein, dass die Kritierien, die zur entsprechenden Überweisung auf eine Sonderschule führen, unbekannt und nicht objektivierbar sind. Es gibt keinerlei Vorgaben dazu, wann und warum eine Überweisung auf eine Sonderschule erfolgen soll und welche objektivierbaren Kriterien erfüllt sein müssen, um eine solche Überweisung zu veranlassen, schon weil es, wie gesagt, keine objektivierbaren Kriterien gibt. Angesichts der Folgen, die eine Sonderschulüberweisung für den Betroffenen hat, ist dieses Ausmaß an Willkür unglaublich, und es macht eigentlich nur Sinn, wenn man annimmt, dass es eben nicht darum geht, Schüler zu fördern, sondern darum, die Plätze an Sonderschulen zu füllen.

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