Ist Schulpflicht sinnvoll? Von Kosten und Kontrolle

Bildung ist wichtig. Dieses Axiom ist unverrückbar und zig-fach bestätigt. Bildung, eine gute Bildung, ist die Voraussetzung für beruflichen Aufstieg, ohne Bildung kein guter Beruf und ohne einen guten Beruf kein hohes Einkommen. Bildung ist, weil sie so wichtig ist, Staatsaufgabe und entsprechend in den meisten Ländern durch eine Schulpflicht geregelt. In Ländern, die keine Schulpflicht kennen oder in denen die Schulbeteiligungsraten gering sind, mühen sich entsprechend internationale Organisationen wie UNICEF oder die World Bank darum, die Schulbeteiligungsraten zu erhöhen.

Dies ist die Geschichte von Bildung aus Sicht des Kollektivs erzählt. Schulbildung lohnt sich für Staaten, wie z.B. Theodore Schultz bereits 1961 gezeigt hat, aber Schulbildung lohnt sich auch individuell, wie Gary Becker (1962) mit Verweis auf den Zusammenhang von steigendem Einkommen und steigender Schulbildung gezeigt hat. Aber, Schulbildung kostet auch Geld. Rund 5.600 Euro geben die Kultusminister der Länder im Durchschnitt und pro-Schülerkopf für allgemeinbildende Schulen aus. In Schleswig-Holstein sind die pro-Kopf-Ausgaben mit 4.600 Euro unterdurchschnittlich, in Hamburg mit 6.200 Euro überdurchschnittlich (Statistisches Bundesamt, 2011, S.6).

Entsprechend der Schulpflicht fallen diese Kosten bis zum 16. Lebensjahr an, denn Schüler haben in Deutschland zehn Jahre lang eine Schule zu besuchen, ob sie das wollen oder nicht – tun sie es nicht, begehen sie eine Ordnungswidrigkeit, die mit einem Bußgeld geahndet wird. Trotz dieses offiziellen Charakters von Schulverweigerung, die es ermöglichen würde, z.B. bei Landkreisen, die für Verhängung von Bußgeldern gegen Schulverweigerer oder ihre Eltern zuständig sind, nachzufragen, wie hoch die Anzahl der Schulverweigerer eigentlich ist, hat sich bislang noch niemand gefunden, der systematisch nachfragt. Entsprechend weiß man in Deutschland, dass es Schulverweigerer gibt, dass ihre Zahl wohl beträchtlich ist und immerhin ein eigenes Projekt beim Bundesministerium für FSFJ motiviert hat. Wie viele Schulverweigerer es aber insgesamt gibt, weiß in Deutschland niemand.

Entsprechend hat sich in Deutschland auch noch niemand um die Frage gekümmert, wie groß der Nutzen ist, der daraus entsteht, dass man Jugendliche bis zu ihrem 16. Lebensjahr in eine Schule zwingt. Dieser Nutzen müsste dann mit den Kosten von durchschnittlich 5.600 Euro pro Schüler und Schuljahr gewichtet werden. Aber eine solche Untersuchung wäre politisch nicht korrekt, und deshalb wird sie in Deutschland nicht durchgeführt. Anders in Chile. Chilenische Wissenschaftler haben offensichtlich nicht dieselben Hemmungen oder sind nicht denselben Zugangsbeschränkungen zu öffentlichen Daten unterworfen wie deutsche Wissenschaftler. Entsprechend haben sich Ricardo Paredes und Gabriel Ugarte zwar nicht gefragt, ob sich Schulpflicht wirtschaftlich lohnt, aber sie haben untersucht, ob das Erzwingen des Schulbesuchs die schulische Leistung von Schülern verbessert. Ergebnis der Studie: Die Schulpflicht führt nicht dazu, dass die schulischen Leistungen von Schülern sich verbessern. Ab der magischen Stufe von 13 Fehlstunden pro Jahr findet bei chilenischen Schülern kein Wissenserwerb mehr statt. Mit anderen Worten, ob die entsprechenden Schüler in der Schule sitzen oder nicht, ist egal – egal, sofern man die Kosten der Schulpflicht nicht in Rechnung stellt. Tut man dies, dann kommt man unweigerlich zu dem Schluss, dass Schulpflicht bei denen, die nicht mehr in die Schule gehen wollen, zu Kosten führt, denen kein Nutzen gegenübersteht.

Dies gilt allerdings nur für den Bildungsnutzen. Schulen stellen jedoch zunehmend andere Nutzen bereit: Sie sind verstärkt Teilzeitarbeitsplatz für Frauen, Umerziehungsanstalt im Dienste staatlich gewünschter Ideologie und somit auch Kontrollinstanz wie dies Fiona Paterson bereits 1989 beschrieben hat: „Schools were constructed as mechanisms of discipline for the children of the working class people. They were predicated on the necessity of producing and sustaining hierarchical relations of authority in an ordered world. Diversity was construed as disorder, and consequently as threatening in so far as it could not be incorporated into the desired structure. Working class people were, by definition, a problem. This was why this form of schooling was aimed at them”(Paterson, 1989, S.178). Heute dienen Schulen nicht mehr nur der Kontrolle der “working class”, sondern auch der Kontrolle traditioneller Männlichkeitsbilder, die durch schulische Umerziehung beseitigt werden sollen. Angesichts dieser “Nutzen” ist es kein Wunder, dass in Deutschland niemand die Frage stellt, ob Schulschwänzern nicht dadurch mehr geholfen wäre, dass ihnen vorzeitig die Möglichkeit gegeben wird, einen Beruf zu erlernen, anstatt sie dazu zu zwingen, ihre Zeit in einer Schule abzusitzen, in die sie nicht mehr gehen wollen.

Literatur

Becker, Gary S. (1962). Investment in Human Capital: A Theoretical Analysis. The Journal of Political Economy 70(5): 9-49.

Paredes, Ricardo D. & Ugarte, Gabriel A. (2011). Should Students Be Allowed to Miss? Journal of Educational Research 104(2): 194-201.

Paterson, Fiona M. S. (1989). Out of Place: Public Policy and the Emergence of Truancy. London: The Farmer Press.

Schultz, Theodore, W. (1961). Investment in Human Capital. The American Economic Review 51 (1): 1-17.

Statistisches Bundesamt (2011). Bildungsausgaben. Ausgaben je Schüler/in 2008. Wiesbaden: Statistisches Bundesamt.


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