Pass the Parcel – Die Kunst Verantwortung so lange zu verschieben, bis sie “verschwunden” ist

Moderne Politiker scheinen sich vornehmlich damit zu beschäftigen, Schuld zu verteilen. Wo vor-moderne Politiker damit beschäftigt waren, reale Zustände zu verändern, sind moderne Politiker mit der Schuldfrage und vor allem, mit der verbalen Verhinderung von Unbill aller Art, beschäftigt. Schuld sind immer die anderen, die Banker, die Neoliberalen, die Migranten, die Jungen, die bildungsfernen Schichten, die Egoisten, die Muslime. Es dürfte dem erfolgreich konditionierten Betrachter der politischen Szene kaum Probleme bereiten, die Schuldigen den entsprechenden “Schulden” zu zu ordnen.

martin-wolf-pass-the-parcelMan kann sagen, der moderne Politiker ist eine Art “Maulheld”, der seinen Wert daraus nimmt, die Schuld anderer an Zuständen seiner Wahl zu beklagen. Dabei ist ein guter Maulheld ein Maulheld, der sich erfolgreich vor der Übernahme von Verantwortung drückt. Dementsprechend spielen Politiker (nicht nur) in Deutschland vornehmlich ein Spiel, das im Englischen als “pass the parcel” bekannt ist: Man verschiebt die Verantwortung so lange untereinander bis die Frage, wer an einem bestimmten Missstand Schuld ist, nicht mehr zu klären ist. Diese Form der Verschiebung von Verantwortung hat zudem den positiven Effekt, Arbeitsplätze zu schaffen, wie Parkinson, mit seinem Gesetz gezeigt hat (Parkinson’s Law). Parkinson zeigt, dass die Arbeit, die früher einer gemacht hat, heute von fünfen gemacht wird, wobei die Qualität des Gearbeiteten mit der Anzahl derjenigen, die dafür zuständig sind, sinkt, weil nämlich die Verantwortung zwischenzeitlich auf so viele Schultern verteilt wurde, dass niemand sich mehr verantwortlich fühlt. In der Ökonomie ist dieses Phänomen auch als Trittbrettfahren bekannt, wobei Trittbrettfahren nur dann erfolgreich ist, wenn einer die Arbeit macht, das haben die modernen Politiker vergessen und deshalb fordern ihre verbalen Schuldkampagnen immer dann Opfer, wenn Sie auf die Realität treffen, in der dann deutlich wird, dass die vielen Maulhelden nicht einmal um einen gemeinsamen Brei versammelt stehen.

traveling on trainDass Bürger dann, wenn sie sich auf die Politiker und deren versprochene Übernahme von Verantwortung verlassen, oft im Regen stehen gelassen werden, ist eine Erfahrung, die Dr. Johannes C. Kerner gerade am eigenen Leib gemacht hat. Die Erfahrung ist in Überlegungen transformiert und in Worte geronnen, denn eine erzwungene vierstündige Bahnfahrt lässt den Gedanken freien Lauf. Herausgekommen ist ein interessanter Beitrag, den wir gerne auf ScienceFiles veröffentlichen.

Das Problem mit der Verantwortung

von Dr. Johannes C. Kerner

Politiker nehmen sehr gerne das Wort “Verantwortung” in den Mund. Im Grundsatzprogramm der SPD wird der Begriff 50 mal verwendet, bei der CSU sogar 140 mal. Verantwortung ist offensichtlich positiv besetzt und man reklamiert gerne für sich, dass man Verantwortung übernimmt, von anderen, zu deren Nutzen und natürlich ist das gerade passend, denn wir leben ja in einer repräsentativen Demokratie, in der die Verantwortung per Wahlurne delegiert werden soll.

In einem anderen Sinn von “Verantwortung” übernimmt der Staat bestimmte Aufgaben, Juristen nennen sie hoheitliche Aufgaben. Zu diesen gehören beispielsweise die Landesverteidigung, Polizei, Feuerwehr, die schulische Bildung. Diese Liste könnte man, wenn man sich denn Argumente dafür ausdenkt, warum denn die Aufgabe so wichtig ist, dass der Staat sie an sich ziehen muss, beliebig erweitern. Zur Zeit gibt es in der EU eine große Kampagne gegen die Privatisierung und für die öffentliche Verantwortung der Wasserversorgung – weil Wasser so wichtig ist. Auf der anderen Seite hat der Staat aber schon seit langer Zeit die Verantwortung für Teile der Aufgaben, die er für sich reklammiert hat, wieder abgegeben: Es gibt zwar ein Gesetz, das vorschreibt, dass Fahrzeuge in einem ordentlichen Zustand sein müssen, aber die Überprüfung wird Dritten überlassen – in diesem Fall dem TÜV und ähnlichen Vereinen. Auch die Luftraumüberwachung des zivilen Flugverkehrs erledigt keine Behörde, sondern die Deutsche Flugsicherung GmbH.

Solange diese Dienstleister ihre Arbeit erledigen, ist das für den normalen Bürger auch unproblematisch. Was aber, wenn die Mitarbeiter dieser Organisationen ihre Arbeit nicht erledigen, beispielsweise, weil sie ihr (gesetzlich garantiertes) Recht auf Streik ausüben? Dann sehen sich Bürger plötzlich damit konfrontiert, dass eine, von Politikern als enorm wichtig deklarierte staatliche Leistung, nicht mehr verfügbar ist.

Konkret bedeutete dies für Fluggäste wie mich und 20.000 weitere Menschen, die aus Düsseldorf abfliegen wollten, dass wir nicht zu unseren Flugzeugen kamen. Für die Sicherheit von wichtigen Verkehrsinfrastrukturpunkten wie Bahnhöfe oder Flughäfen ist die Bundespolizei zuständig. Politiker haben also beschlossen, dass die Sicherheit von Flughäfen und Flügen eine so wichtige Aufgabe ist, dass staatliche Hoheitsträger dafür Verantwortung übernehmen müssen. Das schreibt auch das Luftfahrtbundesamt auf seiner Internetseite. Und auch die Bundespolizei selbst scheint ihre hoheitliche Aufgabe gut zu kennen – hier schreibt sie:

Diesen Schutzauftrag erfüllt die Bundespolizei insbesondere durch:

– Kontrolle der Fluggäste sowie des von ihnen mitgeführten Hand- und Reisegepäcks unter Einsatz speziell geschulten Personals und moderner Luftsicherheitskontrolltechnik

Und während ich in einem völlig überfüllten ICE nach Nürnberg saß, hatte ich vier Stunden Zeit, darüber nachzudenken, warum denn die Bundespolizei, eine Behörde, für die ich ja nicht wenige Steuern zahle, ihre Aufgabe nicht erledigt hat. Beziehungsweise, was es für die hoheitliche Aufgabe der Bundespolizei und die Verantwortung der Bundespolizei heißt, dass der Dienstleister, an den die Bundespolizei ihre wichtige, hoheitliche Aufgabe delegiert hat, seine Aufgabe nicht erfüllt hat, seine Mitarbeiter stattdessen in den Streik getreten sind.

responsibilityDie Delegation ihrer hoheitlichen Aufgabe an private Sicherheitsfirmen spart der Bundespolizei Geld: Wenn ich ordentliche Sicherheit (ich finde deutsche Flughäfen sehr sicher) für 8,33 Euro die Stunde bekomme, warum nicht? Gut, ein Streik bringt  natürlich Unannehmlichkeiten für die Passagiere mit sich, aber muss das wirklich so sein? Stellt sich nicht bei einem Streik der privaten Sicherheitsfirmen, an die die Bundespolizei ihre Aufgaben delegiert hat, die Frage, ob die Bundespolizei mit immerhin 41.000 Mitarbeitern es nicht irgendwie zustande bringen sollte, zwei Dutzend Beamte an die Kontrollstellen zu setzen, um den Flugbetrieb aufrecht zu erhalten?

Mit dieser Überlegung war ich nicht allein, wie ich kurz nach Köln feststellte, wo die dort zusteigenden, ebenfalls gestrandeten Fluggäste den ICE zu einem nunmehr hoffnungslos überfüllten Zug machten: Der Chef des Köln-Bonner Flughafens teilt meine Überlegung und will den Bundesinnenminister wegen Amtspflichtverletzung auf Schadensersatz verklagen: Bundespolizisten, so sagt er, hätten für die Streikenden einspringen müssen, schließlich liegt die Gewährleistung der Sicherheit  in der Verantwortung der Bundespolizei. Nein, sagt aber die Bundespolizei, den Beamten fehle die nötige Qualifikation.

Ich persönlich finde ja, dass es ein sehr schlechtes Licht auf das speziell geschulte Personal der Bundespolizei wirft, dass ihre Beamten nach eigenen Angaben nicht in der Lage sind, wildfremde Menschen abzutasten, ihnen zu sagen, sie sollen wahlweise ihren Pullover, ihren Gürtel und/oder die Schuhe ausziehen und das Notebook aus der Tasche nehmen sowie ihnen alle gefährlichen Getränke, Shampoos und Nagelfeilen zu “entziehen”.

Insbesondere finde ich die fehlende Kompetenz der Bundespolizei dann entsetzlich, wenn ich mir mein Flugticket ansehe. Das Flugticket kostete 73,68 Euro für Hin- und Rückflug. Kein nennenswerter Betrag, wenn man bedenkt, dass die Bahn für die selbet Strecke und die einfache Fahrt mit dem  ICE 117 Euro verlangt. Und die Lufthansa hat mir die Zugfahrt sogar bezahlt, was, betrachtet man den Anteil der Lufthansa am Ticketpreis, ein schlechtes Geschäft war. So steht auf dem Ticket etwas kryptisch:

EUR 11.00FARE
EUR 2.00YQ
EUR 17.86OY
EUR 31.05RD
EUR 11.77DE

Das macht 11,00 Euro für den Flug, 2,00 Euro Zulage der Lufthansa (YQ), 17,86 Euro Luftverkehrssteuer (OY), 31,05 Euro Passagiergebühren (RD) und 11,77 Euro Sicherheitsgebühren (DE). Zieht man von den 13 Euro, die die Lufthansa bekommen hat, noch die Umsatzsteuer ab, verbleiben dem Unternehmen 10,92 Euro, die Bundespolizei erhält für ihren “Service” 11,77 Euro (Umsatzsteuer bei staatlichen Leistungen abzuziehen halte ich für lächerlich). Der nächste Posten, 17,86 Euro, geht direkt als Steuern an den Staat, also in die direkte Verantwortung der Politiker, die Gesetze wie dieses hier verfasst haben, in dem geregelt ist, dass die Fluggesellschaften Verantwortung dafür übernehmen müssen, wenn Fluggäste aufgrund eines vermeidbaren Fehlers der Fluggesellschaft Unannehmlichkeiten erfahren. Für sich selbst übernimmt der Staat hingegen keine Verantwortung, zumindest nicht, wenn es um etwas Konkretes geht, beispielsweise darum, dass die 11,77 Euro kostenden Sicherheitskräfte der Bundespolizei auch anwesend sind, um für meine Sicherheit zu sorgen.

Staat als BeuteDass in Demokratien Verwantwortung verschoben wird, wie der Schwarze Peter im Kartenspiel, ist kein neues Problem. Es ergibt sich aus den Demokratien inhärenten Informationsasymmetrien, die eine Vielzahl schlecht informierter Bürger von wenigen Politikern regiert sieht, die Eigeninteressen haben. Um diese Eigeninteressen auszuleben haben die Politiker, statt sich um den Staat zu kümmern, auch noch die Möglichkeit, “nebenbei” Geld zu verdienen, beispielsweise dadurch dass sie  Vorträge halten oder Bücher schreiben. Das ist, wie Gagliarducci et al. (2010) festgestellt haben, ein zweischneidiges Schwert: So kommen hochqualifizierte Menschen, die auch in der freien Wirtschaft etwas erreichen können bzw. erreicht haben, in die Politik. Diese haben dann aber zu wenig Zeit, sich ordentlich um die Politik zu kümmern – werden aber eher gewählt, weil sie angesehener sind und zudem mehr Geld für den Wahlkampf ausgeben können. Begrenzt man das Einkommen von Politikern auf ihre Diäten, dann ist der Beruf für qualifizierte Gutverdiener unattraktiv; dafür aber umso gefragter für schlecht Qualifizierte, die auf dem freien Markt nicht unterkommen. Dies führt dann, wie die Autoren feststellen, zu einer Politikerkaste mit einer sehr heterogenen Zusammensetzung (S. 688):

The empirical evidence shows that bad but dedicated politicians come along with good but not fully committed politicians.

In den meisten Demokratien, auch in Deutschland, bekommen Politiker ihr Gehalt unabhängig davon, ob sie viel oder wenig arbeiten, ob sie gute oder schlechte Arbeit leisten. Entsprechend haben Politiker, ob gute oder schlechte, gar kein Interesse daran, Verantwortung zu übernehmen. Warum sollten Sie? Wer Verantwortung übernimmt muss sich um diejenigen denen gegenüber er Verantwortung übernommen hat, kümmern. Das schränkt die Möglichkeiten, eigene Interessen zu verfolgen, ein, und deshalb wollen Politiker Verantwortung zwar verbal reklammieren können, aber nicht aktiv übernehmen müssen. Uns so verwundert es dann auch nicht mehr, dass für die Fluggäste keiner verantwortlich ist – wenn man die Verantwortung, die man als Politiker hat, für ein wichtiges Thema, von dem man als Politiker beschlossen hat, es als Staat zu beanspruchen, wieder abgeben kann – nun, dann hat man zumindest mehr Zeit für seine Nebenbeschäftigungen.

Literatur:

Gagliarducci, Stefano/Nannicini, Tommaso/Naticchioni, Paolo (2010), Moonlighting politicians, in: Journal of Public Economics, Vol. 94, No. 9–10, S. 688-699

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