Fremdschämen: Einbildung ist auch eine (moralische) Bildung
Wir schämen fremd (Präsens, Plural, Indikativ); Ich schäme fremd (Präsens, Singluar, Indikativ); Du schämest fremd (Präsens, Singular, Konjunktiv I); Wir schämten fremd (Präteritum, Plural, Indikativ); Fremdschämend (Partizip I); Fremdzuschämen (Infinitiv); Schäme Dich fremd (Indikativ).
Haben Sie sich schon einmal fremd geschämt?
Seit 2009 ist das in korrektem Deutsch möglich und seit 2010 sogar mit einer entsprechenden Belobigung, war das Wort “Fremdschämen” doch Wort des Jahres 2010 in Österreich.
Fremdschämen besteht darin, dass man sich z.B. für etwas schämt, was ein anderer getan hat, der sich nicht notwendiger Weise selbst dafür schämt. Fremdschämen kann auch dann gegeben sein, wenn man sich schlicht für jemand anderen schämt. Der (sprachliche) Zweck des Fremdschämens besteht also offensichtlich darin, sich schämen zu können ohne sich eigentlich zu schämen, ohne die Verwantwortung für den Anlass des Schämes übernehmen zu müssen.
Undeutsches Verhalten?
Schämen (de)light, wie man auch sagen könnte, denn das, was die Scham eigentlich ausmacht, nämlich die persönliche Involviertheit, die persönliche Betroffenheit vom dem, was die Scham verursacht, die eigene Verantwortung für das Beschämende, diese Verantwortung kann beim Fremdschämen abgegeben werden. Entsprechend wird das Fremdschämen zu einer Form der Surrogatexistenz, in der man seine Identität nicht mehr durch Grenzen für die eigene Handlung zieht, sondern dadurch, dass man Grenzen für die Handlungen anderer zieht, sich angeblich für das schämt, was andere getan haben, auch wenn man diese Anderen nur vom Hörensagen kennt und in den wenigsten Fällen auch nur ansatzweise negative Externalitäten durch den vermeintilch beschämenden Akt hat.
Im Gegenteil: Fremdschämen hat den Vorteil, dass man sich nicht peinlich berührt in ein Loch verkriechen will, ob einer beschämenden eigenen Aktion, nein, man kann sich durch fremdschämen moralisch erhöhen und gleichzeitig Handlungen Dritter als beschämend deklarieren, ob sie das nun sind, oder nicht.
Fremdschämen scheint entsprechend der neueste Versuch einer sich zur moralischen Elite zählen wollenden Bevökerungsschicht, ihre moralische Überlegenheit dadurch zu demonstrieren, dass sie andere erniedrigt, sich stellvertretend für diese anderen und angeblich schämt.
Angeblich deshalb, weil die Fremdschämer natürlich eines nicht tun: sich schämen. Wer sich schon einmal geschämt hat, der weiß, dass man froh ist, wenn die Umwelt die Ursache der eigenen Scham wieder vergessen hat oder doch zumindest keinen Anlass gibt, zu denken, sie wäre sich des Beschämenden noch bewusst. Wie ist also eine Scham zu werten, die in die Welt posaunt wird, die anderen aufgenötigt wird, ohne dass sie das wissen wollten, darum gebeten hätten?
Die Antwort ist offensichtlich: Fremdschämen hat nichts mit Scham, aber viel mit dem Versuch, sich selbst eine moralische Oberhoheit gegenüber allem, was einem gerade nicht passt, einzuräumen. Es ist abermals einer dieser jämmerlichen Versuche, sich ohne eigene Leistung und auf Kosten Dritter zu profilieren und sich eine moralisch überlegene Position zuzuweisen. Dies wird schnell deutlich, wenn man z.B. die Einträge durchstöbert, die sich bei #fremdschämen auf Twitter angesammelt haben:
Was denken sich angesichts dieses Theaters (bewusst langsames Raus- und Reingehen beim Hammelsprung) wohl die Zuschauer? #Fremdschämen
Ein weiteres wird deutlich, wenn man diese beiden Beispiele betrachtet. Fremdschämen hat ein kollektives Fundament, denn wie sollte man sich für andere schämen, wenn man keine seltsame, transzendente und über eingebildete Variablen bestehende Verbindung herstellen würde? Man schämt sich fremd, weil man sich einer Gruppe zuordnet (z.B. der Gruppe der Schweizer) und nun denkt, das Verhalten aller, die zu dieser Gruppe gezählt werden (von wem auch immer), falle auf einen zurück.
Wie kommt man auf die Idee, man müsse sich für das Verhalten von anderen, unbekannten anderen, räumlich getrennten anderen, für die man nicht verantworlich ist, schämen? Man kann deren Verhalten kritisieren, man kann es bedauern, aber man kann sich nicht dafür schämen. Man muss schon eine stark übersteigerte soziale Identität ausgebildet haben, wenn man denkt, das Verhalten von Gruppenmitgliedern, die ein Merkmal aufweisen, das man selbst auch trägt, wirke auf einen selbst zurück. Das erinnert fast schon an den Hexenglauben des Mittelalters oder Erzählungen über den bösen Blick.
Fremdschämen, das ist der Schluss, zu dem wir kommen, spricht zwei soziale Störungen an, die durch das Fremdschämen behoben werden sollen:
Wanna feel the difference?
Einerseits soll die eigene Identität darüber geschaffen werden, dass man sich durch das Fremdschämen zu einer moralisch höheren Existenzform erklärt. Fremdschämen als Mittel sozialer Differenzierung, das die Unmöglichkeit, die eigene Identität positiv, durch eigene Leistung und vor allem mit eigener Verantwortung zu definieren, vertuschen soll.
Andererseits ist das Fremdschämen Ausdruck eines übersteigerten Zugehörigkeitsbewusstseins zu einem Kollektiv, das fast schon als Paranoia zu bezeichnen ist, was letztlich dazu führt, dass man aus Gründen der Differenzierung vorgibt, zwar unausweichlich zum entsprechenden Kollektiv zu gehören, aber sich dafür zu schämen, dass manche aus diesem Kollektiv sich verhalten, wie sie das tun.
Kurz: Wer sich fremdschämt, der hat ein Problem.
Und wie immer, wenn in der deutschen Sprache affektbeladene Worte auftauchen, werden sie genutzt, um alles, was einem nicht passt, zu diskreditieren.
Ein Journalist des Kölner Stadtanzeigers findet ein Video, in dem Christiano Ronaldo Werbung für eine japanische Kosmetikfirma macht, zum Fremdschämen.
Sabine Hockling findet auf ZEIT Online Tipps, die den Erfolg von Präsentationen sichern sollen und dabei z.B. auf eine Fahrradklingel setzen, vermutlich um die Zuhörer zu wecken, zum Fremdschämen.
Schließlich lädt die Berliner Zeitung ihre Leser unter der Überschrift, “Für Geld zum Affen gemacht” zum Fremdschämen ein, und treibt damit die Unlogik auf die Spitze, denn wenn Fremdschämen darin besteht, sich vermeintlich peinliche Situationen anderer anzusehen und sich darüber zu ereifern, dann ist Fremdschämen von Schadenfreude oder schlichter Missgunst kaum mehr zu unterscheiden. Einzig der Versuch, sich selbst und dadurch, dass man sich für andere angeblich schämt, als moralisch überlegen zu klassifizieren, bleibt als Unterschied, quasi der Versuch des kleinen Wichts, seine Fiesheit als etwas Besseres auszugeben. Das nennt man auch Heuchelei.
Folgen Sie uns auf Telegram.
Anregungen, Hinweise, Kontakt? -> Redaktion @ Sciencefiles.org
Wenn Ihnen gefällt, was Sie bei uns lesen, dann bitten wir Sie, uns zu unterstützen.
ScienceFiles lebt weitgehend von Spenden.
Helfen Sie uns, ScienceFiles auf eine solide finanzielle Basis zu stellen.Wir haben drei sichere Spendenmöglichkeiten:
Hier will ich doch etwas widersprechen – Ihre Anaklyseist, dank passender Beispiele, zweifellos richtig, as diese beispiele betrifft.
ABER: Ich halte “sich fremdschämen” für einen treffenden Neologismus, der nicht unbedingt so moralisch aufgeladen sein muss, wie in diesen Beispielen.
BEISPIEL: M. ist zu einem offiziellen Empfang eingeladen und nimmt eine ausländische Geschäftsfreundin mit, die er persönlich nicht sonderlich gut kennt. Die trinkt etwas zuviel und wird ausfällig guten Bekannten M.s gegenüber. Alle wissen, dass er nichts dafür kann, dennoch ist ihm die Situation peinlich. Er schämt sich fremd. Nicht, weil er sich moralisch besser vorkommt, sondern weil es ihm leid tut, wie seine Bekannhten angegangen werden. Auch wenn er die Dame rasch hinauskomplimentiert: Er schämt sich für sie in etwa (vielleicht nicht ganz sostark) so, wie er sich schämen würde, hätte er selbst im angetrunkenen Zustand die Kontrolle über sich selbst in ähnlicher Weise verloren.
DESHALB: Das Phänomen ist richtig erkannt, aber ob wirklich das von den Analysierten bennutzte Wort “fremdschämen” dran schuld ist? Ich denke, Ihre Haltung ist dran schuld – egal mit welchem Wort sie sie ausdrücken.
DAS Wörter nichts dafür können, zeigt uns ja schon ein Blick auf political correctness: Nicht das Wort “Neger” ist bös, sondern die Haltung kann unfreundlich sein, mit der ich jemand bezeichne – egal wie die konkrete Bezeichnung lautet.
Da M seine Bekannte selbst mitgebracht hat, ist er auch zumindest mitverantwortlich und entsprechend reicht ein Schämen, bei Fremdschämen würde er sich für unverantwortlich erklären, qed.
Definiere ich “sich fremdschämen” so, dass Verantwortungsabschiebung Teil der Bedeutung ist, haben Sie recht. Und sicherlich wird das Wort AUCH so gebraucht.
Problem ist nun aber, dass Wörter fluktuierende Laute sind, deren alltäglicher Gebrauch außerhalb mit klaren Definitionen arbeitenden wissenschaftlichen Texten sich nicht so einfach festnageln lässt. (Das nicht zu erkennen ist ja der Hauptirrtum der Anhänger der political correctness).
“Fremdschämen” KANN auch anders gebraucht werden – da hilft dann jede Definition nicht mehr.
Um das Problem nochmal klar zu machen: In der Sache haben Sie recht, nur liegt das Problem NICHT am Wort, sondern daran, wie es gebraucht wird. Und wenn M. es so gebraucht, wie im Beispiel, dann gebraucht er es so (und natürliche verteidige ich damit, dass ich das Wort so gebrauchen würde, weil es so meinem Sprachverständnis entspricht).
GRUNDSÄTZLICH sollte M.E. nicht Bezeichnungen (in diesem Fall: einer bloßen Lautfolge) die Schuld an ihren Bedeutungen gegeben werden, sondern den Menschen, die die Bezeichnung mit dieser Bedeutung aufladen. Jemand anderer kann sie ganz anders aufladen (Musterbeispiel das Wort”Jude”, dessen Bedeutungsumfang von der positiven Selbstbezeichnung einer Menschengruppe für sich selbst bis zum antisemitischen Schimpfwort reicht).
LETZTLICH geht es hier also nicht mehr nur um das eine Wort “fremdschämen”, sondern darum, wie analytisch mit Worten und Zeichen umgegegangen wird: Magisch (der Inhalt ist Bestandteil des Zeichens wie im katholischen Gottesdienst, wo die Hostie, so dieAnnahme der Gläubigen, tatsächlich Jesus IST) oder strukturalistisch (Saussure: Bedeutungen sind arbiträr – die gesamte moderne Linguistik beruht darauf – mit Ausnahme der feministischen, die letztlich noch immer sprachmagisch argumentiert und glaubt, durch Veränderung der Bezeichnung auch das Bezeichnete ändern zu können).
Sprache ist eine Konvention, die nur dann klappen kann, wenn sich hinlänglich viele an die Konvention halten und nicht Gefahr laufen, die Besatzung eines Irrenhauses geliefert zu bekommen, wenn sie eine Regierung bestellen. Das macht Sprache so nützlich für Manipulation, weil man unter einem sprachlichen Etikett etwas ganz anderes verkaufen kann, hier: Fremdschämen aus Versuch, sich moralisch besser darzustellen, was nur wirkt, wenn man lauthals verkündet, dass man sich fremd schämt (eine entsprechend wichtige Zutat). Dass es daneben noch den üblichen Abweichler gibt, der fremdschämen anders verwendet, kann gut sein, aber er wird damit leben müssen, dass die etablierte Bedeutung von Fremdschämen und somit die Bedeutung eine andere ist, nämlich: sich auf Kosten Anderer selbst zu etwas besserem zu stilisieren.
“Sprache ist eine Konvention, die nur dann klappen kann, wenn sich hinlänglich viele an die Konvention halten und nicht Gefahr laufen, die Besatzung eines Irrenhauses geliefert zu bekommen,” – das klassische Argument, das aber übersieht, dass erst die Fluktubalität der Zeichen Menschen dazuzwingt, sich darüber auszutauschen, was sie meinen. In wissenschaftlicher (und juristischer) Kommunikation führt dies zu einem Festklopfen der Termini um den Preis sprachlicher Sterilität, im Alltag sind Missverständnisse unvermeidlich, führen aber zu intensivierter Kommunikation, die im Glücksfall dazu führt, dass man sich gegenseitig versteht (was wiederum Auswirkungen auf den Sprachgebrauch hat).
HIER überschneidet sich dies mit einem anderen (ebenfalls Klassischen) Kommunikationproblem: Ihnen geht es um ein bestimmtes Phänomen – bei dessen Analyse ich Ihnen recht gebe – mir um den Einwand, dass das Problem aber nicht im Wort, sondern im Wortgebrauch – und mithin bei den Sprechern liegt (nicht in der Sprache). Die tragen nämlich sehr wohl Verantwortung dafür, ob sie Worte – egal welche – missbrauchen zur Verantwortungsabschiebung, oder ob sie Verantwortung dafür auf sich nehmen, wie sie ihre Worte gebrauchen.
mir um den Einwand, dass das Problem aber nicht im Wort, sondern im Wortgebrauch – und mithin bei den Sprechern liegt (nicht in der Sprache). Die tragen nämlich sehr wohl Verantwortung dafür, ob sie Worte – egal welche – missbrauchen zur Verantwortungsabschiebung, oder ob sie Verantwortung dafür auf sich nehmen, wie sie ihre Worte gebrauchen.
Nein, uns, denn die einzige Möglichkeit, die Bedeutung eines Wortes zu bestimmen, verläuft über den Wortgebrauch, schließlich ist Menschen-Sprache ein Kommunikationsinstrument zwischen Menschen. Letztlich ist es ja genau die Verantwortung für den Gebrauch von Worten, die wir im Beitrag thematisieren und deren Vermengung mit dem Interesse, ein affektiv beladenes Wort in einer bestimmten Weise für sich zu operationalisieren. Wer sich für etwas schämen will, der braucht kein “Fremd schämen”, Fremd schämen braucht nur, wer sich gerade nicht für etwas schämen will, sondern wer eine moralische Überlegenheit reklamieren und dazu einsetzen will, Dritte, die sich nicht so verhalten, wie er es gerne hätte, zum sich schämen zu zwingen.
“Sprache ist eine Konvention, die nur dann klappen kann, wenn sich hinlänglich viele an die Konvention halten und nicht Gefahr laufen, die Besatzung eines Irrenhauses geliefert zu bekommen,” – das klassische Argument, das aber übersieht, dass erst die Fluktubalität der Zeichen Menschen dazuzwingt, sich darüber auszutauschen, was sie meinen”
Glauben Sie im Ernst, dass sich die meisten Gespräche zwischen Menschen auf diesem Planeten geführt wurden und werden, darum drehen, was sie mit bestimmten Aussagen meinen oder gemeint haben? ich glaube nicht.
Kommunikation ist zum größten Teil phatisch. Dort, wo es auf sprachliche Präzision zum Zwecke möglichst missverständnisfreier VERSTÄNDIGUNG (also nicht: Kommunikation schlechthin) ankommt, z.B. in der Wissenschaft, werden wichtigen Begriffen Definitionen beigegeben.
niemand hier bei sciencefiles ist der Auffassung, dass Wörter “schuld” an irgendetwas sind oder Schuld haben können. Ich glaube, das haben wir auch nicht in unserem Text (oder irgendwo sonst) behauptet.
Worte können aber einen Sachverhalt mehr oder weniger zutreffend beschreiben, und manchmal werden Worte geschaffen, die ein bereits vorhandenes, treffendes Wort ersetzen sollen und dabei eine Konnotation tragen oder suggerieren, die das ersetzte Wort nicht hatte. DAS war unser Punkt in unserem Artikel.
Wenn Sie schreiben:
“dennoch ist ihm die Situation peinlich. Er schämt sich fremd”,
dann betrachten Sie es anscheinend als identisch, wenn man eine Situation peinlich findet und wenn man sich für das Verhalten von jemandem schämt, für dessen Verhalten man aber in keiner Weise verantwortlich ist. Wie man das identisch finden kann, ist mir ein Rätsel. Ich finde, die Situation, die Sie beschreiben, ist völlig angemessen und ausreichend mit
“dennoch ist ihm die Situation peinlich”
bezeichnet.
Diese Formulierung braucht keine Doppelung (falls man Ihren Nachsatz als synonym empfindet), und sie braucht auch keine Ergänzung, die suggeriert, jemand sei für das (hier: Fehl-)Verhalten einer anderen erwachsenen Person verantwortlich und hätte insofern Grund zur Scham.
Und deshalb ist “Sich-Fremdschämen” eine neudeutsche Konstruktion, die – wie in unserem Artikel beschrieben- einen Kollektivismus, ein “Mitgefangen – Mitgehangen”, voraussetzt, der der newspeak bei Orwell würdig ist. Was kommt denn als nächstes? Blutfehde zwischen Kollektiven, weil sich ein Mitglied der einen Gruppe für das Verhalten einer Person aus der anderen Gruppe fermdschämt? Oder alternativ: weil sich ein Mitglied der einen Gruppe für das Verhalten eines Mitgliedes derselben Gruppe fremdschämt?
Wer sich FÜR JEMANDEN FREMDschämt statt EINE SITUATION oder EIN KONKRETES VERHALTENS peinlich oder albern (oder was auch immer) zu finden, der öffnet den Möglichkeiten, eine Ent”zwei”ung zu verhindern oder sie eskalieren zu lassen, Tür und Tor.
Mein Eindruck ist ohnehin, dass viele Leute gut daran tun würden, erst einmal zu prüfen, wofür sie sich vielleicht SELBST schämen sollten, bevor sie sich FREMDschämen.
Ich kann den Artikel absolut nicht unterschreiben. Es ist doch wohl eher so, dass wenn man sich für einen anderen schämt, der andere etwas tut, was so niedriges Niveau hat, dass es sogar die eigene Würde und Ehre ankratzt. Wenn es jemand schafft, dass die Leute sich fremdschämen, dann hat er gesellschaftliche Normen weit unterschritten, und das muss man erstmal schaffen. Es geht hier nicht darum dass man sich Überlegen fühlt, weil z.B. ein Obdachloser in seinen Zeitungen schläft.
Aber wenn man so etwas wie Promi Big Brother sieht(was ich aufgrund des absolut unterirdischen Niveaus nicht tue), oder Leute, die Nackt durch die Stadt laufen, dann MUSS man sich fremdschämen. Ich würde es eher sehr beängstigend finden, wenn sich da Jemand nicht schämt.
Fremdschämen muss man sich erst erarbeiten…so wie Anerkennung, nur negativ.
Ich gebe Ihnen recht, nur gibt es ja noch eine andere Seite: Die Produzenten haben das Niveau dieser Sendung ja absichtlich so weit heruntergeschraubt, dass sich ein normaler Mensch dabei fremdschämt – ob er nur absichtlich einschaltet oder zufällig – . Das bedeuetet, dass das Niveau einfach eine natürliche, menschliche Reaktion auslöst.
Das dies alles gewollt, und Menschen die sich so etwas absichtlich anschauen, moralisch nicht weit oben stehen ist ja eine ganz andere Geschichte.
Ich teile Ihre Ansicht über die Rollenverteilung hier nicht, schon weil ich ziemlich sicher bin, dass der Großteil der Bevölkerung intelligenter ist als die Produzenten von Junk. Wer also Junk betrachtet, um sich fremdzuschämen, warum sonst sollte man es betrachten, außer vielleicht, weil man junk mag und sich entsprechend nicht dafür schämt, der befriedigt damit ein anderes Bedürfnis, denn niemand wird gezwungen, sich diesen Junk anzusehen.
Ich sehe das so: Es gibt natürliche (Fremd)Scham und es gibt das Bedürfnis nach Überlegenheit auf Kosten von dritten, was hier beschrieben ist. Ersteres finde ich absolut ok und auch wichtig. Für letzteres hab ich auch kein Verständnis.
Woher nehmen Sie die Gewissheit, dass es Fremdschämen gibt? Wie kann man es unabhängig messen, also ohne dass jemand behauptet, er würde sich fremd schämen?
” dass es sogar die eigene Würde und Ehre ankratzt”
– genau! Und das war unser wichtigstes Argument in unserem Text: mit “fremdschämen” wird ein Begriff geschaffen, der auf einer sozialen Identifikation beruht. Wenn die erst einmal geschaffen ist und man Leuten erfolgreich vermittelt hat, sie wären für das Verhalten anderer erwachsener Menschen, selbst solcher, die sie nicht kennen, irgendwie mitverantwortlich bzw. es würde dadurch ihre eigene “würde und Ehre” angekratzt, dann kann man natürlich immer dann an dieses Gefühl appellieren, wenn man jemanden braucht, der anderen Leuten gegenüber die Schmutzarbeit macht.
Denunziationskulturen wie z.B. in Nazi-Deutschland oder im Hexengeplaten Europa des Mittelalters werden durch so etwas befördert.
Von daher kann ich dem Kommentar absolut nicht zustimmen.
Und auch deshalb nicht, weil ich Ihre Beispiel nicht überzeugend finde: wenn jemand nackt durch die Stadt läuft, dann finde ich das irgendetwas zwischen lächerlich, peinlich und besorgniserregend, aber ganz bestimmt ist es für mich kein Anlass, mich fremdzuschämen – was habe ich denn damit zu tun, wenn jemand anderes so durch die Stadt rennen möchte?!?
Sie müssen mich/meine Existenz, wenn ich Ihren vorletzten Satz ernst nehmen soll, jetzt wohl “beängstigend” finden. Und sehen Sie: wenn das “Fremdschämen” dazu führt, dass man andere Menschen und ihre Überzeugungen “beängstigend” findet, dann finde ich diesen Mechanismus beängstigend.
Was bedeutet es, wenn jugendliche ihre eltern peinlich finden, sich für sie schämen? Verspüren sie verantwortung für ihre eltern, oder identität mit ihnen?
… oder ist es vielleicht eine Strategie, um aus den Eltern etwas herauszupressen?
Das genau ist der Punkt: Die Formel vom “Sich-für-andere-Menschen-schämen” sagt überhaupt nichts über das Verhalten der anderen Menschen aus, aber etwas über denjenigen, der meint sich für andere Menschen schämen zu müssen oder zu können:
“Sich-für-andere-Menschen-schämen” setzt nämlich voraus, dass man für das Verhalten anderer Menschen, sagen wir: zuständig ist, sich also eine Verantwortung für ihr Tun zuschreibt. Aber begründet und thematisiert wird nicht die eigene Verantwortung bzw. werden nicht die eigenen Versäumnisse mit Bezug auf diese Verantwortung thematisiert (wie sich z.B. Eltern fragen könnten, wie sie dazu beigetragen haben, dass sich ihr Kind auf eine Weise benimmt, die sie selbst nicht gut heißen). Vielmehr wird das Tun zumeist völlig fremder Anderer negativ bewertet. Der eigene Anteil besteht allein darin, sich von diesem Tun abzusetzen. Von da aus ist es nur ein kleiner Schritt dazu, sich zum Kontrolleur des Verhaltens auch fremder Menschen zu machen, auch dann, wenn man von diesem Verhalten nicht oder nur sehr am Rande oder nur indirekt betroffen ist. Man fühlt sich dann berufen, zu bespitzeln, zu denunzieren, Sanktionen zu fordern etc. etc. Das ist ein ziemlich direkter Weg in den Faschismus wie beispielsweise Nazi-Deutschland oder die DDR illustrieren.
Vielen Dank, dass Sie ScienceFiles unterstützen! Ausblenden
Wir sehen, dass du dich in Vereinigtes Königreich befindest. Wir haben unsere Preise entsprechend auf Pfund Sterling aktualisiert, um dir ein besseres Einkaufserlebnis zu bieten. Stattdessen Euro verwenden.Ausblenden
Liebe Leser,
gerade haben Sie uns dabei geholfen, eine Finanzierungslücke für das Jahr 2023 zu schließen, da ist das Jahr auch schon fast zuende.
Weihnachten naht.
Und mit Weihnachten das jährlich wiederkehrende Problem: Ein Weihnachtsmann, der im Kamin stecken bleibt, weil er zu viel anliefern muss.
Vermeiden Sie dieses Jahr diese Kalamität. Diversifizieren Sie Ihr Geschenkportfolio.
Z.B. indem Sie unsere Sorgen um die Finanzierung des nächsten Jahres mindern.
Unser Dank ist Ihnen gewiss! Und Sie können sicher sein, dass Sie auch im nächsten Jahr ScienceFiles in gewohntem Umfang lesen können.
Hier will ich doch etwas widersprechen – Ihre Anaklyseist, dank passender Beispiele, zweifellos richtig, as diese beispiele betrifft.
ABER: Ich halte “sich fremdschämen” für einen treffenden Neologismus, der nicht unbedingt so moralisch aufgeladen sein muss, wie in diesen Beispielen.
BEISPIEL: M. ist zu einem offiziellen Empfang eingeladen und nimmt eine ausländische Geschäftsfreundin mit, die er persönlich nicht sonderlich gut kennt. Die trinkt etwas zuviel und wird ausfällig guten Bekannten M.s gegenüber. Alle wissen, dass er nichts dafür kann, dennoch ist ihm die Situation peinlich. Er schämt sich fremd. Nicht, weil er sich moralisch besser vorkommt, sondern weil es ihm leid tut, wie seine Bekannhten angegangen werden. Auch wenn er die Dame rasch hinauskomplimentiert: Er schämt sich für sie in etwa (vielleicht nicht ganz sostark) so, wie er sich schämen würde, hätte er selbst im angetrunkenen Zustand die Kontrolle über sich selbst in ähnlicher Weise verloren.
DESHALB: Das Phänomen ist richtig erkannt, aber ob wirklich das von den Analysierten bennutzte Wort “fremdschämen” dran schuld ist? Ich denke, Ihre Haltung ist dran schuld – egal mit welchem Wort sie sie ausdrücken.
DAS Wörter nichts dafür können, zeigt uns ja schon ein Blick auf political correctness: Nicht das Wort “Neger” ist bös, sondern die Haltung kann unfreundlich sein, mit der ich jemand bezeichne – egal wie die konkrete Bezeichnung lautet.
Da M seine Bekannte selbst mitgebracht hat, ist er auch zumindest mitverantwortlich und entsprechend reicht ein Schämen, bei Fremdschämen würde er sich für unverantwortlich erklären, qed.
Ja, da liegt des Pudels Kern:
Definiere ich “sich fremdschämen” so, dass Verantwortungsabschiebung Teil der Bedeutung ist, haben Sie recht. Und sicherlich wird das Wort AUCH so gebraucht.
Problem ist nun aber, dass Wörter fluktuierende Laute sind, deren alltäglicher Gebrauch außerhalb mit klaren Definitionen arbeitenden wissenschaftlichen Texten sich nicht so einfach festnageln lässt. (Das nicht zu erkennen ist ja der Hauptirrtum der Anhänger der political correctness).
“Fremdschämen” KANN auch anders gebraucht werden – da hilft dann jede Definition nicht mehr.
Um das Problem nochmal klar zu machen: In der Sache haben Sie recht, nur liegt das Problem NICHT am Wort, sondern daran, wie es gebraucht wird. Und wenn M. es so gebraucht, wie im Beispiel, dann gebraucht er es so (und natürliche verteidige ich damit, dass ich das Wort so gebrauchen würde, weil es so meinem Sprachverständnis entspricht).
GRUNDSÄTZLICH sollte M.E. nicht Bezeichnungen (in diesem Fall: einer bloßen Lautfolge) die Schuld an ihren Bedeutungen gegeben werden, sondern den Menschen, die die Bezeichnung mit dieser Bedeutung aufladen. Jemand anderer kann sie ganz anders aufladen (Musterbeispiel das Wort”Jude”, dessen Bedeutungsumfang von der positiven Selbstbezeichnung einer Menschengruppe für sich selbst bis zum antisemitischen Schimpfwort reicht).
LETZTLICH geht es hier also nicht mehr nur um das eine Wort “fremdschämen”, sondern darum, wie analytisch mit Worten und Zeichen umgegegangen wird: Magisch (der Inhalt ist Bestandteil des Zeichens wie im katholischen Gottesdienst, wo die Hostie, so dieAnnahme der Gläubigen, tatsächlich Jesus IST) oder strukturalistisch (Saussure: Bedeutungen sind arbiträr – die gesamte moderne Linguistik beruht darauf – mit Ausnahme der feministischen, die letztlich noch immer sprachmagisch argumentiert und glaubt, durch Veränderung der Bezeichnung auch das Bezeichnete ändern zu können).
Sprache ist eine Konvention, die nur dann klappen kann, wenn sich hinlänglich viele an die Konvention halten und nicht Gefahr laufen, die Besatzung eines Irrenhauses geliefert zu bekommen, wenn sie eine Regierung bestellen. Das macht Sprache so nützlich für Manipulation, weil man unter einem sprachlichen Etikett etwas ganz anderes verkaufen kann, hier: Fremdschämen aus Versuch, sich moralisch besser darzustellen, was nur wirkt, wenn man lauthals verkündet, dass man sich fremd schämt (eine entsprechend wichtige Zutat). Dass es daneben noch den üblichen Abweichler gibt, der fremdschämen anders verwendet, kann gut sein, aber er wird damit leben müssen, dass die etablierte Bedeutung von Fremdschämen und somit die Bedeutung eine andere ist, nämlich: sich auf Kosten Anderer selbst zu etwas besserem zu stilisieren.
“Sprache ist eine Konvention, die nur dann klappen kann, wenn sich hinlänglich viele an die Konvention halten und nicht Gefahr laufen, die Besatzung eines Irrenhauses geliefert zu bekommen,” – das klassische Argument, das aber übersieht, dass erst die Fluktubalität der Zeichen Menschen dazuzwingt, sich darüber auszutauschen, was sie meinen. In wissenschaftlicher (und juristischer) Kommunikation führt dies zu einem Festklopfen der Termini um den Preis sprachlicher Sterilität, im Alltag sind Missverständnisse unvermeidlich, führen aber zu intensivierter Kommunikation, die im Glücksfall dazu führt, dass man sich gegenseitig versteht (was wiederum Auswirkungen auf den Sprachgebrauch hat).
HIER überschneidet sich dies mit einem anderen (ebenfalls Klassischen) Kommunikationproblem: Ihnen geht es um ein bestimmtes Phänomen – bei dessen Analyse ich Ihnen recht gebe – mir um den Einwand, dass das Problem aber nicht im Wort, sondern im Wortgebrauch – und mithin bei den Sprechern liegt (nicht in der Sprache). Die tragen nämlich sehr wohl Verantwortung dafür, ob sie Worte – egal welche – missbrauchen zur Verantwortungsabschiebung, oder ob sie Verantwortung dafür auf sich nehmen, wie sie ihre Worte gebrauchen.
Nein, uns, denn die einzige Möglichkeit, die Bedeutung eines Wortes zu bestimmen, verläuft über den Wortgebrauch, schließlich ist Menschen-Sprache ein Kommunikationsinstrument zwischen Menschen. Letztlich ist es ja genau die Verantwortung für den Gebrauch von Worten, die wir im Beitrag thematisieren und deren Vermengung mit dem Interesse, ein affektiv beladenes Wort in einer bestimmten Weise für sich zu operationalisieren. Wer sich für etwas schämen will, der braucht kein “Fremd schämen”, Fremd schämen braucht nur, wer sich gerade nicht für etwas schämen will, sondern wer eine moralische Überlegenheit reklamieren und dazu einsetzen will, Dritte, die sich nicht so verhalten, wie er es gerne hätte, zum sich schämen zu zwingen.
Glauben Sie im Ernst, dass sich die meisten Gespräche zwischen Menschen auf diesem Planeten geführt wurden und werden, darum drehen, was sie mit bestimmten Aussagen meinen oder gemeint haben? ich glaube nicht.
Kommunikation ist zum größten Teil phatisch. Dort, wo es auf sprachliche Präzision zum Zwecke möglichst missverständnisfreier VERSTÄNDIGUNG (also nicht: Kommunikation schlechthin) ankommt, z.B. in der Wissenschaft, werden wichtigen Begriffen Definitionen beigegeben.
@Hans Meier,
niemand hier bei sciencefiles ist der Auffassung, dass Wörter “schuld” an irgendetwas sind oder Schuld haben können. Ich glaube, das haben wir auch nicht in unserem Text (oder irgendwo sonst) behauptet.
Worte können aber einen Sachverhalt mehr oder weniger zutreffend beschreiben, und manchmal werden Worte geschaffen, die ein bereits vorhandenes, treffendes Wort ersetzen sollen und dabei eine Konnotation tragen oder suggerieren, die das ersetzte Wort nicht hatte. DAS war unser Punkt in unserem Artikel.
Wenn Sie schreiben:
“dennoch ist ihm die Situation peinlich. Er schämt sich fremd”,
dann betrachten Sie es anscheinend als identisch, wenn man eine Situation peinlich findet und wenn man sich für das Verhalten von jemandem schämt, für dessen Verhalten man aber in keiner Weise verantwortlich ist. Wie man das identisch finden kann, ist mir ein Rätsel. Ich finde, die Situation, die Sie beschreiben, ist völlig angemessen und ausreichend mit
“dennoch ist ihm die Situation peinlich”
bezeichnet.
Diese Formulierung braucht keine Doppelung (falls man Ihren Nachsatz als synonym empfindet), und sie braucht auch keine Ergänzung, die suggeriert, jemand sei für das (hier: Fehl-)Verhalten einer anderen erwachsenen Person verantwortlich und hätte insofern Grund zur Scham.
Und deshalb ist “Sich-Fremdschämen” eine neudeutsche Konstruktion, die – wie in unserem Artikel beschrieben- einen Kollektivismus, ein “Mitgefangen – Mitgehangen”, voraussetzt, der der newspeak bei Orwell würdig ist. Was kommt denn als nächstes? Blutfehde zwischen Kollektiven, weil sich ein Mitglied der einen Gruppe für das Verhalten einer Person aus der anderen Gruppe fermdschämt? Oder alternativ: weil sich ein Mitglied der einen Gruppe für das Verhalten eines Mitgliedes derselben Gruppe fremdschämt?
Wer sich FÜR JEMANDEN FREMDschämt statt EINE SITUATION oder EIN KONKRETES VERHALTENS peinlich oder albern (oder was auch immer) zu finden, der öffnet den Möglichkeiten, eine Ent”zwei”ung zu verhindern oder sie eskalieren zu lassen, Tür und Tor.
Mein Eindruck ist ohnehin, dass viele Leute gut daran tun würden, erst einmal zu prüfen, wofür sie sich vielleicht SELBST schämen sollten, bevor sie sich FREMDschämen.
Ich kann den Artikel absolut nicht unterschreiben. Es ist doch wohl eher so, dass wenn man sich für einen anderen schämt, der andere etwas tut, was so niedriges Niveau hat, dass es sogar die eigene Würde und Ehre ankratzt. Wenn es jemand schafft, dass die Leute sich fremdschämen, dann hat er gesellschaftliche Normen weit unterschritten, und das muss man erstmal schaffen. Es geht hier nicht darum dass man sich Überlegen fühlt, weil z.B. ein Obdachloser in seinen Zeitungen schläft.
Aber wenn man so etwas wie Promi Big Brother sieht(was ich aufgrund des absolut unterirdischen Niveaus nicht tue), oder Leute, die Nackt durch die Stadt laufen, dann MUSS man sich fremdschämen. Ich würde es eher sehr beängstigend finden, wenn sich da Jemand nicht schämt.
Fremdschämen muss man sich erst erarbeiten…so wie Anerkennung, nur negativ.
Und warum sieht man es? Um eine Gelegenheit zu finden, sich fremdschämen zu können, weil es so schön ist? Ist Voyeurismus der Kern von Fremdschämen?
Ich gebe Ihnen recht, nur gibt es ja noch eine andere Seite: Die Produzenten haben das Niveau dieser Sendung ja absichtlich so weit heruntergeschraubt, dass sich ein normaler Mensch dabei fremdschämt – ob er nur absichtlich einschaltet oder zufällig – . Das bedeuetet, dass das Niveau einfach eine natürliche, menschliche Reaktion auslöst.
Das dies alles gewollt, und Menschen die sich so etwas absichtlich anschauen, moralisch nicht weit oben stehen ist ja eine ganz andere Geschichte.
Ich teile Ihre Ansicht über die Rollenverteilung hier nicht, schon weil ich ziemlich sicher bin, dass der Großteil der Bevölkerung intelligenter ist als die Produzenten von Junk. Wer also Junk betrachtet, um sich fremdzuschämen, warum sonst sollte man es betrachten, außer vielleicht, weil man junk mag und sich entsprechend nicht dafür schämt, der befriedigt damit ein anderes Bedürfnis, denn niemand wird gezwungen, sich diesen Junk anzusehen.
Ich sehe das so: Es gibt natürliche (Fremd)Scham und es gibt das Bedürfnis nach Überlegenheit auf Kosten von dritten, was hier beschrieben ist. Ersteres finde ich absolut ok und auch wichtig. Für letzteres hab ich auch kein Verständnis.
Woher nehmen Sie die Gewissheit, dass es Fremdschämen gibt? Wie kann man es unabhängig messen, also ohne dass jemand behauptet, er würde sich fremd schämen?
” dass es sogar die eigene Würde und Ehre ankratzt”
– genau! Und das war unser wichtigstes Argument in unserem Text: mit “fremdschämen” wird ein Begriff geschaffen, der auf einer sozialen Identifikation beruht. Wenn die erst einmal geschaffen ist und man Leuten erfolgreich vermittelt hat, sie wären für das Verhalten anderer erwachsener Menschen, selbst solcher, die sie nicht kennen, irgendwie mitverantwortlich bzw. es würde dadurch ihre eigene “würde und Ehre” angekratzt, dann kann man natürlich immer dann an dieses Gefühl appellieren, wenn man jemanden braucht, der anderen Leuten gegenüber die Schmutzarbeit macht.
Denunziationskulturen wie z.B. in Nazi-Deutschland oder im Hexengeplaten Europa des Mittelalters werden durch so etwas befördert.
Von daher kann ich dem Kommentar absolut nicht zustimmen.
Und auch deshalb nicht, weil ich Ihre Beispiel nicht überzeugend finde: wenn jemand nackt durch die Stadt läuft, dann finde ich das irgendetwas zwischen lächerlich, peinlich und besorgniserregend, aber ganz bestimmt ist es für mich kein Anlass, mich fremdzuschämen – was habe ich denn damit zu tun, wenn jemand anderes so durch die Stadt rennen möchte?!?
Sie müssen mich/meine Existenz, wenn ich Ihren vorletzten Satz ernst nehmen soll, jetzt wohl “beängstigend” finden. Und sehen Sie: wenn das “Fremdschämen” dazu führt, dass man andere Menschen und ihre Überzeugungen “beängstigend” findet, dann finde ich diesen Mechanismus beängstigend.
Was bedeutet es, wenn jugendliche ihre eltern peinlich finden, sich für sie schämen? Verspüren sie verantwortung für ihre eltern, oder identität mit ihnen?
… oder ist es vielleicht eine Strategie, um aus den Eltern etwas herauszupressen?
Das genau ist der Punkt: Die Formel vom “Sich-für-andere-Menschen-schämen” sagt überhaupt nichts über das Verhalten der anderen Menschen aus, aber etwas über denjenigen, der meint sich für andere Menschen schämen zu müssen oder zu können:
“Sich-für-andere-Menschen-schämen” setzt nämlich voraus, dass man für das Verhalten anderer Menschen, sagen wir: zuständig ist, sich also eine Verantwortung für ihr Tun zuschreibt. Aber begründet und thematisiert wird nicht die eigene Verantwortung bzw. werden nicht die eigenen Versäumnisse mit Bezug auf diese Verantwortung thematisiert (wie sich z.B. Eltern fragen könnten, wie sie dazu beigetragen haben, dass sich ihr Kind auf eine Weise benimmt, die sie selbst nicht gut heißen). Vielmehr wird das Tun zumeist völlig fremder Anderer negativ bewertet. Der eigene Anteil besteht allein darin, sich von diesem Tun abzusetzen. Von da aus ist es nur ein kleiner Schritt dazu, sich zum Kontrolleur des Verhaltens auch fremder Menschen zu machen, auch dann, wenn man von diesem Verhalten nicht oder nur sehr am Rande oder nur indirekt betroffen ist. Man fühlt sich dann berufen, zu bespitzeln, zu denunzieren, Sanktionen zu fordern etc. etc. Das ist ein ziemlich direkter Weg in den Faschismus wie beispielsweise Nazi-Deutschland oder die DDR illustrieren.
“Fremdschämen” ist eine “Erfindung” der Gutmenschen in Österreich und in der BRiD – damit ist hoffentlich alles klar! Oder?
Ja!