Wissenschaft (?) hat festgestellt … Homosexuelle wählen Grüne (in Berlin)

Die Vielfalt und der Pluralismus, sie tragen seltsame Blüten. Eigentlich gedacht, um unter einem gemeinsamen Dach unterschiedliche Lebensentwürfe zu ermöglichen, werden Vielfalt und Pluralismus in Deutschland regelmäßig von einem Essentialismus überlagert, der den Unterschied über das Gemeinsame stellt.

Und so wissen wir seit heute, dank einer “innovativen Studie”, die unter Beteiligung der Justus-Liebig-Universität in Gießen durchgeführt wurde, auch über „einen Teil der Gesellschaft, der in klassischen Wahlstudien in Deutschland und Europa bislang unter den Tisch fällt: die LGBTIQ-Community“ Bescheid, also darüber was sie wählen und warum sie das, was sie wählen wählen, in Berlin jedenfalls, denn die LGBTIQ-Wahlstudie, wie sie hochtrabend von denen genannt wird, die in Wien und Gießen daran gearbeitet haben, sie ist eigentlich keine Wahlstudie, u.a. weil die Auswahl der Befragten nicht zufällig erfolgt ist. Sie ist auch keine LGBTIQ-Wahlstudie, weil von all den Buchstaben sich nur LG, also Homosexuelle in relevanter Anzahl an der Studie beteiligt haben.

1.058 Mitglieder der Berliner Queer-Community haben sich an der vermeintlichen Wahlstudie beteiligt, 87,5% davon bezeichnen sich als homosexuell, 8,3% als bisexuell, 1,7% denken von sich, sie seien transexuell, zu höherem fühlen sich 0,6% Pansexuelle berufen, 0,5% sind queer und 1,5% so queer in ihrer sexuellen Selbstbestimmung, dass sie nicht kategorisierbar sind. In Zahlen wurden befragt: 926 Homosexuelle, 88 Bisexuelle, 18 Transsexuelle, 5 Pansexuelle, 5 Queere und 16 Andere. Die Auswahl erfolgte durch Selbstselektion, d.h. wir haben es hier mit einem Querschnitt der entsprechenden Berliner Szene zu tun

Die Mehrzahl der nicht-Heterosexuellen hat einen Hochschulabschluss (58,2%), eine Schule und eine anschießende Lehre haben 1,5% der Befragten absolviert. Hochschulen sind anscheinend Umgebungen, die manche vor allem dazu anregen, über die eigene sexuelle Identifikation nachzudenken – immerhin nachdenken.

Die „innovative Studie“ hat Ergebnisse produziert, die eine ganze Präsentation füllen und die Wahlforschung vermutlich auf eine neue Stufe katapultieren, denn bei dem ständigen Versuch, die Theorie der Konfliktlinien oder der Parteiidentifikation oder des Issue Votings oder der politischen Ökonomie weiterzuentwickeln wissen wir nun endlich, was uns die ganze Zeit gefehlt hat: Das Wahlverhalten von Homosexuellen aus Berlin.

lgbtiq-berlin

Homosexuelle aus Berlin wählen in erster Linie die Grünen/B90 (33%), in zweiter Linie LINKE (24%), dann die SPD (17%). Es folgen die FDP (9%), die AfD (7%) und die CDU (4%) gleichauf mit den Piraten (4%). Für die befragten Berliner Homosexuellen sind Themen aus dem Bereich der Homosexualität oder LGBTIQ-Themen bei ihrer Wahlentscheidung sehr wichtig oder wichtig (93,6%), Kandidaten, die sich mit der LGBTIQ-Community solidarisieren werden von 86,6% der befragten Berliner Homosexuellen bevorzugt. Kurz: die befragten Berliner Homosexuellen wählen diejenigen, die ihre ihre Sexualität betreffenden Interessen (andere wurden wohl nicht erfragt) am intensivsten verbalisieren und vertreten wollen, die Partei, die ihrer Lobby-Arbeit am zugänglichsten ist. Dass die Grünen der Lobby-Arbeit der LGBTIQ-Aktivisten am zugänglichsten sind, ist ein Ergebnis, zu dem man auch ohne angebliche Wahlstudie z.B. durch schlichtes Beobachten hätte kommen können. Aber bitte: Manche laufen lieber einmal ums Quadrat, als dass sie die Diagonale benutzen.

Wir wissen nun also, dass homosexuelle Berliner Befragte die Parteien wählen, die ihre Interessen vertreten und dass homosexuelle Berliner Befragte in erster Linie Interessen haben, die sich aus ihrer Selbstdefinition als Homosexuelle ergeben. Entsprechend stehen Homophobie oder Diskriminierung bei ihnen ganz oben auf der Themenagenda, während Themen wie Arbeitslosigkeit oder Kriminalität eine deutlich geringere Prominenz genießen. Und wir wissen, dass sich selbst unter homosexuellen Berliner Befragten schon welche mit AfD-Wahlabsicht eingeschlichen haben, wohl ein Verstoß gegen das entsprechende Reinheitsgebot, wie die Autoren der Studie zu denken scheinen.

Wie dem auch sei: „Die Wahlstudie gibt … neue Impulse für die Politikwissenschaft und für politische Debatten“, so schreiben die Autoren in ihrer Pressemeldung und wir fragen uns: Welche?

american-voterWelche Impulse für die Politikwissenschaft, für die Wahlforschung können der „Wahlstudie“, die keine ist, obwohl sie von den Autoren so bezeichnet wird, gewonnen werden? Wir haben überlegt, lange überlegt, die Theorien gewichtet, bei Lipset und Rokkan, Downs, Campbell, Converse, Miller und all den anderen nachgelesen und: nichts. Uns fällt nichts ein. Kein Impuls kommt bei uns an. Das mag daran liegen, dass Wahlstudien auf Wahltheorien basieren, also auf generellen Aussagen darüber, welche Kriterien von einem Wähler benutzt werden, wenn er sich überlegt, welche Partei er wählen könnte.

Lipset und Rokkan setzen auf die Tradition, auf Konfliktlinien, die Parteien hervorgebracht haben: Der Konflikt zwischen Arbeit und Kapital ist entsprechend dafür verantwortlich, dass Arbeiter SPD wählen und Arbeitgeber die CDU oder die CSU. Downs ist am realen Leben orientiert und geht davon aus, dass außer Aktivisten niemand ein wirkliches Interesse an Politik hat. Entsprechend wird man die Partei wählen, zu deren Ideologie man eine entsprechende Nähe sieht. Andere, Campbell oder Converse verweisen auf die Bedeutung der Parteibindung, die sie psychologisch fassen und über Überzeugungssysteme modellieren, d.h. Menschen bilden sich ein, eine Partei sei ihnen nahe und finden die entsprechende Partei nachfolgend wählbar und mit der Wahl bilden sie eine Identifikation für die entsprechende Partei, eine Parteibindung aus. Und dann gibt es natürlich noch Theorien des … Achtung: rationalen Wählers, der die Partei wählt, deren Themen seinen Interessen am nächsten kommen.

Alles zusammengenommen hat die Wahlforschung einen recht erquicklichen Korpus an Theorien des Wahlverhaltens, einen Korpus, zu dem die Erkenntnis, dass homosexuelle Wähler eher linke Parteien wählen, nicht wirklich etwas beiträgt. Und damit sind wir wieder beim Beginn dieses Beitrags angekommen, bei der Partikularisierung oder Zersäbelung der Gesellschaft, die derzeit vorgenommen wird.

Einmal ehrlich: Warum, wenn man nicht versucht, Steuergelder für Maßnahmen, die Homosexuelle zum Gegenstand haben, zu akquirieren, sollte es interessant sein, die Wahlabsicht von Homosexuellen zu untersuchen? Was ist daran interessanter als an der Wahlabsicht von Grünäugigen, Glatzköpfen, Wassersportlern, Kleinkaliberschützen, Bundeswehrsoldaten, die in Afghanistan waren, Männern mit Prostata-Krebs, Besuchern vom Musikanten-Stadl usw?

Nichts ist daran interessanter, es sei denn, man ist (a) der Ansicht, Homosexualität sei eine essentielle Eigenschaft, die die Träger der Eigenschaft zu anderen, abweichenden Menschen macht, sie von denen, die nicht essentiell homosexuell sind, unterscheidet, z.B. beim Wahlverhalten (dazu müsste man allerdings erklären, wieso die essentiellen Unterschiede vor allem an Hochschulen aufzutauchen scheinen) oder man ist (b) am Versuch beteiligt, Steuergelder in die Kanäle zu leiten, an deren Ende die Verbände und Organisationen der Homosexuellen sitzen und von denen sie leben.

Beides hat mit Wissenschaft nichts zu tun. Beides trägt dazu bei, eine Gesellschaft entlang der neuen Konfliktlinien von Essentialismus oder Realismus und Nutznießung oder Eigenleistung zu teilen.


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