Warum und wie die AfD in Wahlumfragen systematisch unterschätzt wird

Manchmal flattern uns Pressemeldungen auf den Tisch, die zunächst zu einem Runzeln von Stirnen führen, dann zu erhöhter Neuronen-Aktivität, um schließlich in der Erkenntnis zu münden, dass wir hier etwas haben, das es ermöglicht, Fragen zu beantworten, die die Pressemelder gar nicht im Sinne hatten als sie ihre Meldung verfasst haben.

YouGov hat eine solche Pressemeldung verfasst.

Was haben Sie bei der letzten Bundestagswahl gewählt?
Das wissen Sie doch noch, oder?
Es wäre gut, wenn Sie das wüssten, denn die entsprechende Frage ist ein fester Bestandteil vieler Wahlumfragen und von Befragungen, die sich mit der Erklärung von Wahlverhalten befassen.
Der Gedanke, dass die Antworten von Befragten zu ihrem Wahlverhalten willkürlich sind oder nicht der getroffenen Wahl entsprechen …
All hell would break lose

39% der von YouGov im Rahmen einer Wahlumfrage 2013 und 2017 Befragten, geben 2017 dann, wenn sie danach gefragt werden, was sie 2013 bei der Bundestagswahl gewählt haben, eine andere Antwort als sie 2013 gegeben haben.

39%, die nicht wissen, was Sie gewählt haben?
Oder es nicht mehr wissen wollen?

Wir versuchen, Sinn aus diesem Ergebnis zu machen.
Vier mägliche Erklärungen drängen sich auf:

(1) Befragte haben 2013 darüber gelogen, welche Partei sie gewählt haben und erinnern sich nicht mehr daran, dass sie gelogen haben.
(2) Befragte lügen 2017, wissen also genau, welche Partei sie 2013 gewählt haben.
(3) Befragte machen 2013 und 2017 spontane Angaben, die mit ihrer Wahlentscheidung nichts zu tun haben, lügen also beide Male.
(4) Befragte wissen tatsächlich nicht mehr, welche Partei sie 2013 gewählt haben.

Jede der vier Möglichkeiten ist für die Wahlforschung ein Problem, das sich zur Katastrophe entwickeln kann:

(1)
Dass Befragte direkt nach einer Wahl in einer entsprechenden Befragung angeben, eine andere Partei gewählt zu haben als sie tatsächlich gewählt haben, ist ein aus vielen Wahlumfragen der 1980er Jahre bekanntes Phänomen. Es hat eine eindeutige Richtung, denn die Anteile der Parteien, die die Wahl gewonnen haben, sind regelmäßig in Nachwahlumfragen und verglichen mit dem tatsächlichen Wahlergebnis zu hoch. Das Phänomen wird gemeinhin so interpretiert, dass die entsprechenden Befragten lieber auf der Seite der Gewinner als auf der Seite der Verlierer stehen. Anstelle der Annahme, dass Befragte lieber auf der Seite des Siegers stehen wollen, kann man auch die Annahme machen, dass Befragte Angst davor haben, nicht auf der Seite des Siegers zu stehen.

(2)
Wenn Befragte 2013 eine korrekte Angabe über die Partei ihrer Wahl gemacht haben und 2017 lügen, dann stellt sich die Frage: Warum? Drei Antworten fallen uns ein:
a) Die Parteipräferenz hat sich zwischenzeitlich geändert. Wie die Sozialpsychologie wieder und wieder zeigt, streben Menschen nach Konsistenz in ihrem Verhalten. Entsprechend wäre die Lüge eine Anpassung an die neue Parteipräferenz.
b) Angesichts der Entwicklung, die die Partei der Wahl aus dem Jahre 2013 genommen hat, sind die entsprechenden Befragten entfremdet oder beschämt und wollen nicht mehr zugeben, diese Partei gewählt zu haben.
c) Die Befragten haben mittlerweile Angst, ihre Wahlentscheidung korrekt anzugeben.

(3)
Befragte, die sowohl 2013 als auch 2017 eine falsche Angabe zu der Partei gemacht haben, die sie 2013 gewählt haben wollen, lassen sich auf vier Wegen erklären:

a) Das Wahlgeheimnis ist den Befragten zu wichtig, als dass sie es in einer Befragung lüften würden. Sie trauen sich aber nicht oder haben keine Gelegenheit, dem Interviewer genau das zu sagen.
b) Die Befragten hören in den zumeist telefonisch geführten Interviews nicht richtig zu und geben irgendwelche Antworten, die letztlich nicht ihr Wahlverhalten wiedergeben.
c) Die Befragten machen sich einen Spass mit dem Interviewer und geben willkürliche Antworten.
d) Die Befragten haben Angst, ihre tatsächliche Wahlentscheidung kund zu tun.

(4)
Für Befragte, die tatsächlich nicht mehr wissen, welche Partei sie 2013 gewählt haben, spielen Bundestagswahlen keine Rolle. Ihre Wahlentscheidung ist spontan, folgt keinerlei Regelmäßigkeit und hat keinerlei Inhalte zum Gegenstand, denn wäre das Gegenteil der Fall, die Befragten würden sich erinnern. Da sie sich nicht erinnern, kann die Bundestagswahl für sie mit keinerlei relevanten Inhalten verbunden gewesen sein.

Die Erklärungen, die wir zusammengetragen haben, lassen sich auf die folgenden Kategorien verallgemeinern:

• Befragte haben Angst, ihre Wahlentscheidung anzugeben;
• Die Bundestagswahl hat für die Befragten keinerlei Relevanz, ihre Stimmabgabe ist spontan, eine Laune des Augenblicks.
• Die Abweichungen zwischen den Angaben der Jahre 2013 und 2017 ergeben sich aufgrund methodischer Mängel, die sich mit den Befragungen verbinden;

Und irgendwie scheinen sich Angst, Irrelevanz und methodische Mängel auf 39% der Befragten zu summieren. Egal, wie diese 39% zu Stande kommen, sie haben zur Konsequenz, dass die Ergebnisse der derzeitigen Wahlumfragen kaum einen Pfifferling wert sind. Stellt man die 39% in Rechnung, dann müsste man z.B. in die neueste Umfrage von Infratest dimap einrechnen, dass im Ergebnis Befragte enthalten sind, die aus Angst eine andere Partei angeben, als sie zu wählen beabsichtigen. Die einzige Partei, bei der sich eine Wahlentscheidung mit Angst verbinden kann, ist die AfD. Methodische Mängel, die dazu führen, dass Befragte irgendwelche Angaben machen, sind aufgrund der Gewichte der verschiedenen Parteien nicht zufällig verteilt. Sie führen vielmehr dazu, dass die Anteile der beiden großen Parteien überschätzt werden. Welche Partei die Partei der Wahl ist, die aus einer Laune des Augenblicks benannt wird, ist eine Frage, die systematisch nicht zu beantworten ist. Warum? Weil es sich um eine Laune des Augenblicks handelt.

Bleibt festzustellen, dass in den derzeitigen Wahlumfragen dann, wenn das Ergebnis von YouGov zutrifft, die Anteile von CDU und SPD überschätzt und die Anteile insbesondere der AfD unterschätzt werden. Wir haben auf Grundlage der letzten Umfrage von Infratest dimap und unter Berücksichtigung der Entwicklung, wie sie sich in den Wahlumfragen der letzten beiden Jahre niederschlägt, versucht, die Größenordnung dieses Fehlers zu bestimmen.

Dabei sind wir zu dem folgenden Ergebnis unserer konservativen Schätzung gekommen:

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