Howard S. Schwartz: Politische Korrektheit als Entwicklungsstörung [Rezension]

von Dr. habil. Heike Diefenbach

Howard S. Schwartz, 2010: Society Against Itself: Political Correctness and Organizational Self-Destruction. London: Karnac. 232 Seiten, EURO 28.99 bei Amazon.de (Paperback)

In diesem, sieben Kapitel und ein kurzes abschließendes Kapitel umfassenden Buch  bringt der Philosoph und Organisationsforscher Howard Schwartz die These vor, dass in westlichen Staaten im Zuge politischer Korrektheit eine Entwicklung stattfindet, die die Existenzberechtigung und die Funktionsgrundlage von Organisationen grundlegend in Frage stellt. Dabei bezeichnet Schwartz als „Organisation“ ein Muster von Austauschbeziehungen im Rahmen eines übergreifenden Musters („patterning of exchange relationships within a wider patterning“; Schwartz 2010: 17). Das „übergreifende Muster“ ist die Gesellschaft, die selbst als Organisation aufgefasst werden kann, in die andere Organisation eingebunden sind und innerhalb derer sie eine Funktion erfüllen. Diese Funktion besteht darin, bestimmte Bedürfnisse zu befriedigen, die Menschen in der Gesellschaft und andere Organisationen in der Gesellschaft haben (Schwartz 2010: 17).

Nach Schwartz sind die Organisationen im Westen, wie wir sie (noch) kennen, auf die effiziente Bereitstellung von materiellen Gütern und Dienstleistungen ausgerichtet, und die in der Organisation Beschäftigten funktionieren dementsprechend: sie erledigen Aufgaben innerhalb der Organisation und erhalten dafür Lohn und Anerkennung:

„The relationships within the organization … may be considered to be expressions of what the organization believes it needs to do in order to maintain its status as an agent by satisfying external demands. It expresses these patterns in the form of a structure it imposes upon its participants, beginning with the specifications and standards for … individual jobs. Organizational participants generally grant the legitimacy of the organization’s structure as part of their objective self-consciousness, and agree to be bound by it in their activity within the organization …” (Schwartz 2010: 17).

Politische Korrektheit trägt nach Schwartz an Organisationen einen anderen, diesem Sinn verbundene, Maßstäbe, z.B. den Maßstab der „Diversität“ innerhalb der Organisation, heran, und diese Maßstäbe verdrängen diejenigen, an denen sich die Organisation bislang zum Zweck der bestmöglichen Funktionserfüllung orientiert hat. Schwartz nennt das die „reformulation of organizational meaning“ (Schwartz 2010: 22) bzw. die Neu-/Umformulierung der organisatorischen Aufgabe aufgrund einer veränderten Vorstellung von Sinn und Bedeutung der Organisation. Organisationen sind nicht mehr vorrangig möglichst effiziente Bereitsteller von Gütern und Dienstleistungen, sondern Instrumente zur Herstellung einer „guten“ Gesellschaft, wie sie Vertretern der politischen Korrektheit vorschwebt, und das bedeutet: eine Gesellschaft, die der angeblich existierenden „‘white male power structure‘ or ‚Patriarchal hegemony‘“ (Schwartz 2010: 14), d.h. der Machtstrukturen der weißen Männer oder der patriarchalischen Hegemonie Abhilfe schafft und die (deshalb) anti-sexistisch, anti-rassistisch, anti-kapitalistisch und zumindest im Prinzip anti-heterosexuell ist:

„We can see here that the operative element in PC [Political Correctness] is the use of emotionally charged accusations: racism, sexism, etc. This is quite different from the original use of the term [“political correctness”], which was as a cognitive critique. In its earlier usage, the charge of being politically incorrect, which was never applied to anyone who was not presumed to hold a basic leftist analysis, meant that the accused has misapplied theory, that he was wrong. The contemporary use is an accusation of badness. The first was directed at a thought, the second at a person” (Schwartz 2010: 5-6).

Auf die Frage danach, warum die politisch korrekte Gesellschaft eine Gesellschaft ist, die sich vorrangig durch den Kampf gegen alles, was als männliche, weiße Machtstrukturen interpretiert wird, insbesondere gegen Sachlichkeit, Rationalität, Reziprozität und (damit) das Leistungsprinzip und aus ihm resultierende soziale Ungleichheit auszeichnet, und statt dessen Emotionalität, Subjektivität und staatlichen Eingriffen wie z.B. Quotenregelungen zwecks bedingungsloser Herstellung von Ergebnisgleichheit das Wort redet, beantwortet Schwartz mit Hilfe der psychoanalytischen Entwicklungstheorie. Vereinfacht ausgedrückt ist politische Korrektheit ein Ergebnis einer kulturellen Entwicklung, die von Personen geprägt ist, die eine grundlegend wichtige Entwicklungsaufgabe nicht bewältigt haben. Diese nicht bewältigte Entwicklungsaufgabe ist die Integration des sogenannten Väterlichen in die Persönlichkeitsstruktur wie sie Sigmund Freud (und nach ihm viele andere Autoren – in vielen Varianten) im Zusammenhang mit dem ödipalen Grundkonflikt beschrieben hat: Während die (prototypische) Mutter für den Säugling und das Kleinkind die Quelle bedingungsloser Akzeptanz und Liebe sowie ständiger Aufmerksamkeit ist, die uns das Gefühl gibt, im Mittelpunkt der Welt zu stehen, d.h. unseren Narzissmus befriedigt, erscheint der Vater als Außenstehender, als Eindringling in die naturwüchsige Einheit der Mutter-Kind-Dyade. In seiner Beziehung zur Mutter erscheint er dem Kind als Konkurrent um die mütterliche Aufmerksamkeit und Liebe, die das Kind (weiterhin) als natürlicherweise ihm zustehend zu monopolisieren versucht, weshalb er bekämpft und möglichst ausgeschlossen werden muss. Die Entwicklungsaufgabe besteht für das Kind nun darin zu begreifen, dass der Vater es ebenfalls liebt, aber auf eine andere Weise als die Mutter, denn der Vater repräsentiert die über die Mutter-Kind-Beziehung hinausreichende Welt, dem Kind vorgegebene und insofern objektive Welt, in der das Kind keine besondere Rolle spielt, sondern bloß ein Lebewesen unter vielen ist, zeigt dem Kind aber auch einen Weg, wie es in dieser indifferenten Welt eine Platz für sich selbst, Anerkennung, Respekt oder eine andere Liebe als die mütterliche finden kann, und dieser Weg führt über Leistung bzw. über die Aneignung von Ressourcen, die anderen Menschen einen Grund dafür geben, warum sie sich für einen selbst interessieren sollten, Anteil an einem nehmen sollten. Folgt das Kind dem Weg, den der (prototypische) Vater vorgibt, oder anders gesagt: internalisiert das Kind die Vaterfigur, akzeptiert es die Ansprüche der Außenwelt als legitim, eignet es sich solche Ressourcen an, erzielt kleine oder große Erfolge, die sowohl dem Vater gefallen als auch der Mutter, die dem Kind mit dessen zunehmendem Alter für erzielte Erfolge dieselbe Wertschätzung oder Zuneigung zeigt wie dem Vater.

Folgt das Kind diesem Weg nicht, verbleibt es im Stadium der narzisstischen Persönlichkeit, die von der Wiederverschmelzung mit der bedingungslos akzeptierenden und liebenden Mutterfigur träumt, die sie zum Mittelpunkt der Welt gemacht hat, und die Ansprüche der Außenwelt als illegitim, als Zumutung, abzuwehren versucht: „Our idea of recreating fusion with the mother means destroying the father, not becoming like him“ (Schwarz 2010: 13), und diese Konstellation, in der die narzisstische Persönlichkeit dem Kampf gegen die Realität und alles männlich konnotierte, was mit ihr verbunden ist wie z.B. die Akzeptanz von Fakten oder messbare Leistungen, eine zentrale Bedeutung in ihrem Selbstverständnis und in ihrem Leben zuschreibt, bezeichnet Schwartz als „anti-ödipale Psychologie“ (Schwartz 2010: 12).

Vor diesem Hintergrund erklärt Schwartz die Neigung, die Realität zugunsten eines mehr oder weniger radikalen Konstruktivismus zu bestreiten, und gleichzeitig den Hass auf alles, was männlich bzw. väterlich konnotiert ist:

„ … we must observe that the reason the father is seen as an intrusion into the perfect linkage of mother and child is that he represents the fact that there is a world outside ourselves that does not revolve around us. Reality is what causes the downfall of the idea of living our lives within the perfect circle of mother’s goodness. The father did not cause our separation, he is just scapegoated for it” (Schwartz 2010: 12).

Die kulturelle Erzählung (“cultural narrative“), die aus der anti-ödipalen Psychologie resultiert, fasst Schwartz wie folgt zusammen: „… the cultural narrative becomes that you are entitled to love, but it has been stolen from you by those hateful, oppressive authorities who now tell you what you are supposed to do. Get rid of him [dem “Vater” als den Ansprüchen der Außenwelt], the narrative continues, take away his power, which is only the power to take from us, and you usher in the power of the mother, which is the power to give to us” (Schwartz 2010: 14). Organisationen können wir im Rahmen dieser kulturellen Erzählung nicht neutral gegenüberstehen, „… as having some aspects that are congenial to us and some that are not” (Schwartz 2010: 17). Sie werden nicht mehr als Orte betrachtet, an denen bestimmte Funktionen erfüllt werden. Gemessen am Maßstab der allumfassend guten, „mütterlichen“ Welt, die alles bereitstellt, was man braucht oder sich nur wünschen kann, werden die Ansprüche, die Organisationen zwecks Funktionserfüllung erheben, als Unterdrückung erfahren: „… the organization is seen as a locus of oppression, properly the focus of rage, envy, and resentment, and deserving to be destroyed“ (Schwartz 2010: 17).

Diese veränderte Sicht auf Organisationen ist nach Schwartz unvereinbar mit derjenigen, die Organisationen bislang zugrunde lagen und die sie legitimiert haben. Der Druck auf Organisationen von innen wie von außen, politische Korrektheit zu adaptieren, steigt, und je mehr sie politische Korrektheit adaptieren, desto weniger können sie ihre jeweiligen Funktionen erfüllen: „My contention is that the forces of political correctness are antagonistic to the business of organization, and may undermine its capacity to carry out its function, largely regardless of the relative cost of doing it” (Schwartz 2010: 5). Beispielsweise führt die „reformulation of organizational meaning“ (Schwartz 2010: 22), d.h. diese Neu-/Umformulierung der organisatorischen Aufgabe im Zuge der anti-ödipal geprägten kulturellen Erzählung dazu, dass Organisationen dafür sorgen sollen oder müssen, dass in ihr unterrepräsentierte Bevölkerungsgruppen stärker repräsentiert sind, auch dann, wenn das bedeutet, dass die Leistung der Organisation insgesamt sinkt (S. 23).

Nach Schwartz richten sich Organisationen und die Gesellschaft als übergreifende Organisation damit gegen sich selbst. Sie zerstören sich selbst durch die Adaption politischer Korrektheit. Und dies erklärt Titel und Untertitel des Buches von Schwartz: „Society against itself“ („Gesellschaft gegen sich selbst“ ) bzw. „Political Correctness and Organizational Self-Destruction“, was als „Politische Korrektheit und die Selbstzerstörung von Organisationen“ übersetzt werden kann oder als „Politische Korrektheit und organisierte Selbstzerstörung, denn „organizational“ kann sowohl „Organisationen betreffend“ meinen als auch „den Prozess des Organisierens betreffend“.

Schwartz beschreibt in seinem Buch anhand mehrerer Fallbeispiele, wie sich diese Selbstzerstörung durch die Adaption politischer Korrektheit vollzieht. Die Fallbeispiele betreffen Organisationen in unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen und in unterschiedlichen Funktionen, nämlich die Ford Motor Company, die städtische Polizei in Cincinnati und Seattle, die New York Times, die United Church of Christ und Antioch College in Ohio. Mit Blick auf die Gesamtgesellschaft behandelt Schwartz den öffentlichen Druck, dem Queen Elizabeth II of the United Kingdom aufgrund vermeintlich mangelnder Trauerbezeugungen nach dem Tod von Prinzessin Diana im Jahr 1997 ausgesetzt war. Ich persönlich fand die Fallbeispiele in den Kapiteln zwei und drei am überzeugendsten; sie scheinen mir am stringentesten vorgebracht.

Über die Erläuterung seiner These in Kapitel eins und die Darstellung der Fallbeispiele hinaus enthält das Buch ein Kapitel (Kapitel fünf) mit dem Titel „Organization in the age of hysteria“ bzw. „Organisationen im Zeitalter der Hysterie“, in dem Schwartz seine These in einer etwas veränderten Terminologie und mit speziellem Bezug auf Hysterie als typisch weiblichem psychologischen Reaktionsmuster beschreibt. Während dieses Kapitel als solches m.E. durchaus von Interesse ist, fügt es sich nicht besonders gut in den Gesamtzusammenhang des Buches ein und ist für das, wofür Schwartz in diesem Buch argumentiert, auch nicht notwendig, so dass ich es eher störend fand. Ich würde dem interessierten Leser empfehlen, das Buch zunächst unter Auslassung des fünften Kapitels zu lesen, damit er das, wofür Schwartz argumentiert, als solches würdigen kann. Kapitel fünf wird m.E. besser anschließend und als eigenständiger Text gelesen und gewürdigt.

Die große Stärke dieses Buches ist m.E., dass es Schwartz gelingt, auf überzeugende Weise Zusammenhänge zu erklären, die wir vermutlich alle (mehr oder weniger) mit Bezug auf die Entwicklung von Organisationen aller Art und die Gesamtgesellschaft beobachten, ohne dass der Leser gezwungen wäre, Schwartz in jedem Aspekt der vorgebrachten Erklärung in einer bestimmten oder umfassenden Weise zu folgen. Beispielsweise ist es auch für Personen wie mich, die der Psychoanalyse in vieler Hinsicht kritisch gegenüberstehen, möglich, die Argumentationslinie von Schwartz zu akzeptieren, sofern sie nicht bestreiten wollen, dass sich allen Menschen aufgrund einer geteilten conditio humana spezifische Entwicklungsaufgaben stellen, deren Bewältigung oder Nicht-Bewältigung Folgen für ihr Selbstverständnis und ihre Weltanschauung im späteren Leben haben, und dass das „Mütterliche“ und das „Väterliche“ nicht notwendigerweise real existierenden biologischen Müttern und Vätern entspricht. Um Schwartz‘ Argumentation zu folgen, muss man auch nicht entscheiden, ob die von ihm so bezeichnete anti-ödipale Psychologie real existierende aggregierte Individualpsychologien bezeichnet oder ein Muster, das einer derzeit dominanten kulturellen Erzählung zugrundeliegt, oder beides. Schwartz‘ Argumentation läßt Raum für alle drei Möglichkeiten. Gleichzeitig ist Schwartz‘ Argumentation aber nicht so weit gefasst, dass sie Raum für alle möglichen, vom Leser selbst an das Buch herangetragenen Vorstellungen, lassen würde. Was Schwartz argumentiert, ist hinreichend klar, so klar, dass es ihm auf jeden Fall die Ablehnung und den Ärger, wenn nicht den Hass, der Protagonisten politischer Korrektheit einbringt – was wiederum aufgrund seiner eigenen Argumentation vollständig vorhersagbar ist. Insofern kann Schwartz‘ Argumentation als testbare Erklärung gelten; sie gibt aber zumindest eine elaborierte und treffende Beschreibung dessen, was „politische Korrektheit“ bedeutet.

Insgesamt gesehen ist Schwartz‘ Buch ein sehr interessantes Buch, das weit über die vordergründig behandelte Veränderung von Organisationen hinausgeht; es ist eine Analyse der zeitgenössischen westlichen Gesellschaften, die uns, die wir in westlichen Gesellschaften leben, nicht gleichgültig lassen kann, wenn sie zutrifft – und dass es sich um eine im Wesentlichen zutreffende Analyse handelt, ist aufgrund von Beobachtungsdaten schwerlich zu bestreiten. Lediglich hinsichtlich der Bewertung der beschriebenen Verhältnisse bzw. Veränderungen dürften sich Leser mit verschiedenen Perspektiven auf sich selbst und die Welt, die sie umgibt, voneinander unterscheiden.


 

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