Klassenkampf 2.0!? Symbolische Erwerbstätigkeit für die prekäre Mittelschicht

von Dr. habil. Heike Diefenbach

In seiner Einleitung zum von ihm im Jahr 2007 herausgegebenen Buch mit dem Titel „Sozialstruktur und Gesellschaftsanalyse“ beschreibt Gerd Nollmann (u.a.) das Konzept der Klassenstruktur in gegenwärtigen Gesellschaften in engem Anschluss an die entsprechenden Auffassungen des britischen Soziologen John H. Goldthorpe (Goldthorpe 2000). Er schreibt: „Klassen leiten sich demgemäß aus der organisatorischen Spezifizierbarkeit von Arbeitsverträgen und deren Konsequenzen für praktisches berufliches Verhalten ab“ (Nollmann 2007: 14). Würde man es bei dieser Beschreibung belassen, würde der Klassenbegriff Verschiedenheit, aber nicht notwendigerweise sozialstrukturell vertikale Ungleichheit bezeichnen. Aber Nollmann schreibt weiter:

„Der ‚einfache‘ Arbeitsvertrag ist angemessen, wenn eine relativ hohe Kontrollierbarkeit eine einfache Austauschbeziehung zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer auf der Grundlage erbrachter Stückzahlen oder der verbrachten Zeit am Arbeitsplatz etabliert. Dieser ‚spot contract‘ ist umgekehrt [?!] nicht für Mitarbeiter realisierbar, die der Organisation ihr Expertenwissen zur Verfügung stellen und stellvertretend Entscheidungen treffen. Auch sind deren Arbeitsleistungen nicht so einfach messbar wie die eines Arbeiters [sic!].Goldthorpe spricht in diesem Zusammenhang von einem ‚Dienstverhältnis‘. Im Gegensatz zum einfachen Austausch von Arbeitsleistung und Gegenleistung sieht es neben der monetären Vergütung in Form eines Gehalts – anstatt eines … [auf] der erbrachten Leistung beruhenden Arbeitslohns – für den Beschäftigten Karrieremöglichkeiten vor. Ferner wird diesen Arbeitnehmern auch ein längerfristig angelegtes Dienstverhältnis angeboten, weil die Organisation auf spezifische Qualifikationen angewiesen ist und oft Investitionen in betriebsspezifisches Expertenwissen getätigt hat, die nicht an andere, etwaige Konkurrenten verloren werden dürfen“ (Nollmann 2007: 14).

Nollmann bzw. Goldthorpe halten fest, dass es in der Realität „Mischformen“ (Nollmann 2007: 15) gebe, „[aber] „[g]rundsätzlich führt […] die Form des Beschäftigungsverhältnisses zu einer Differenzierung von Arbeitsverträgen, die Goldthorpe als Grundlage des Klassenschemas betrachtet“ (Nollmann 2007: 15).

Die oben zitierte Beschreibung sollte hinreichend deutlich gemacht haben, dass die „Differenzierung“ von Arbeitsverträgen auf einer Vorstellung von unterschiedlicher Wertigkeit von Erwerbstätigkeiten beruht, wobei das „Dienstverhältnis“ von Angestellten als von höherer Wertigkeit betrachtet wird als der „Arbeitsvertrag“ von Arbeitern. Erstere sind angeblich Inhaber von „Expertenwissen“, denen „Karrieremöglichkeiten“ angeboten werden und die „stellvertretend Entscheidungen“ treffen. Letztere haben/tun dies alles nicht, sie werden für konkrete Arbeiten bezahlt, die angeblich keines „Expertenwissens“ bedürfen, und – deshalb? – ist ihre Arbeitsleistung leicht zu kontrollieren. Es scheint, dass Letztere diejenigen sind, die von Ersteren gerne als „die Menschen“ bezeichnet werden, wenn Erstere meinen, sich aufgrund des angeblich vorhandenen „Expertenwissens“ über Letztere äußern zu können – oder zu müssen.

Und hier liegt für meine eigene Gesellschaftsanalyse der springende Punkt: M.E. beruht die formale Hierarchie in der gegenwärtigen Sozialstruktur westeuropäischer Gesellschaften – und ob man in diesem Zusammenhang von Klasse oder Schicht sprechen will, ist mir in diesem Zusammenhang egal – nicht oder jedenfalls nicht hauptsächlich auf den von Nollmann/Goldthorpe benannten Faktoren, sondern genau auf der schlichten Praxis des Sich-über-„die Menschen“-Äußerns, auf der selbst- oder fremdzugeschriebenen Fähigkeit oder Möglichkeit, „die Menschen“ angeblich charakterisieren und beurteilen zu können, ganz so, als sei das „Expertentum“ eine Form akademischen Tratschens.

Dies ist der Prozess, durch den sich Personen in der sozialen Hierarchie über anderen Personen verorten. „Die Menschen“ werden von „Experten“ beschrieben, beurteilt, bemaßnahmt etc., während sich die „Experten“ dem Urteil „der Menschen“ systematisch zu entziehen versuchen, gewöhnlich durch Formeln, die „die Menschen“ gar nicht erst als selbstständig Handelnde auftreten lässt, sondern als „Opfer“ böser Mächte oder Personen, die nicht „Experten“ sind, sondern eine Art falsche Propheten, denen „die Menschen“ in ihrer mentalen Einfachheit auf den Leim gehen. Ein gutes Beispiel hierfür ist die neueste „Mitte-Studie“ aus dem Hause der Stiftung, die sich Friedrich Eberts Namen bemächtigt hat.

Diese Praxis stellt nicht nur den Versuch dar, sich in der sozialen Hierarchie über der Arbeiterschicht und in der Mittelschicht zu verorten, sondern sie dient auch der psychischen Hygiene: sie ist eine Art symbolische Verkehrung der Realität, wie sofort klar wird, wenn man sich probeweise vorstellt, LKW-Fahrer für Speditionen oder Busfahrer würden allesamt beschließen, für nicht absehbare Zeit in Streik zu treten, oder wenn man sich eingesteht, dass man sehr froh ist, wenn der Installateur sich bereit findet, angesichts des heimischen Wasserrohrbruchs doch noch am selben Abend oder überhaupt in den nächsten Tagen zu kommen. Im Vergleich dazu wird man die Abwesenheit einer großen Anzahl von „Experten“ kaum bemerken, und in vielen Fällen wäre ihre Abwesenheit, würde man sie bemerken, für die Mehrheit der Bevölkerung ein erfreulicher Umstand: man stelle sich nur vor, die Angestellten der Heinrich-Böll-Stiftung oder des Bundesministeriums für Familien, Senioren, Frauen und Jugend (aber nicht für erwachsene Männer!) würden streiken oder würden alle entlassen und die entsprechenden Einrichtungen umstandslos geschlossen – wer außer den dort Angestellten und den mit ihnen finanziell Vernetzten würde es bemerken? Und von denjenigen, die es bemerken, wie viele würden es bedauern?

Die Verortung in der Mittelschicht erfolgt m.E. also vorrangig – und vor dem Hintergrund eines Mangels an materiellen und immateriellen Ressourcen – dadurch, dass man sich über Andere, gewöhnlich als „die Menschen“ Bezeichnete, charakterisierend und bewertend äußern zu können glaubt und dass man die reale eigene Abhängigkeit von „den Menschen“ möglichst vollständig ausblendet und sie statt dessen als ein „Problem“ behandelt, mit dem irgendwie umzugehen ist, z.B. als Rassisten, Homophobe, Rechtsextreme o.ä.. Dass dies so ist und Faktoren wie formale Bildungsabschlüsse oder berufliche Qualifikationen bei der Verortung in der sozialen Hierarchie bei Weitem nicht mehr die Wichtigkeit haben können, die sie in früheren Zeiten (vielleicht) hatten, hat mit der Inflationierung formaler Bildungstitel zu tun, begleitet von der Tatsache, dass mit den Titeln bzw. formalen Qualifikationen in vielen Bereichen eine sinkende inhaltliche Qualifikation einhergeht. Die Person der Frau Doktor, die Gender Studies studiert hat und keinerlei Kenntnisse oder Fähigkeiten von den Methoden der empirischen Sozialforschung oder von soziologischen Theorien, geschweige denn nennenswerte über Sozialwissenschaften hinausgehende Fähigkeiten, hat, illustriert diesen Punkt vielleicht am besten: Sie hat – wie die anderen 40 Prozent ihres Jahrganges – ein Abitur erreicht, vermutlich unter weitgehender Abwahl unliebsamer Fächer wie Physik und Mathematik, und hat danach ein Studium aufgenommen, das die Beschränkung auf sehr spezifische Inhalte und die Ablehnung des Erwerbs von Wissen um andere Inhalte geradezu zum Programm erhoben hat. Ihr akademischer Titel ist in keiner Weise mit anderen akademischen Titeln (anderer Personen in anderen Fächern an anderen Universitäten in anderen Bundesländern) vergleichbar und qualifiziert sie im Wesentlichen dazu, Forderungen nach weitergehenden Qualifikationen als „hegemonial“, „weiß“, was auch immer, abzuweisen. Man kann also sagen, dass sie einen akademischen Titel dafür erhält, dass sie Leistungsstandards abweist und keine Qualifikationen hat, jedenfalls keine, die außerhalb des sehr, sehr engen und inhaltlich definierten Raumes, den „Gender Studies“ bevölkern, nachgefragt werden.

Source

Mit der Inflationierung von Bildungstiteln und dem Gender Mainstreaming samt des Strebens nach Gleichverteilung von Männern und Frauen in Schreibtisch-Jobs ist das Problem entstanden, dass eine immer größere Anzahl von mehr oder weniger un- oder sehr eingeschränkt qualifizierten Personen mit dem Anspruch auf Mittelschichtszugehörigkeit und damit einen Schreibtisch-Job und möglichst „Experten“-Status produziert wird. Für sie gibt es keinen Arbeitsmarkt, denn sie werden mangels tatsächlicher und relevanter Qualifikationen und überprüfbarer Leistungen nicht gebraucht. Der Gang zum Arbeitsamt bzw. der „Agentur für Arbeit“ bzw. dem „Jobcenter“ kommt aber auch nicht in Frage, weil er mit dem Status des Experten, des Akademikers, des Mittelschichtlers und insbesondere mit dem der angeblich selbstständigen, formal gut gebildeten „power“-Frau, schwierig zu vereinbaren ist, bedeutet er doch, dass derjenige, der sich selbst als jemand verorten will, der „die Menschen“ beschreibt, berät, anleitet, erzieht, beurteilt, seinerseits beschrieben, beraten, angeleitet, ggf. erzogen, beurteilt wird – und dies angesichts schlechter Vermittlungschancen vermutlich für eine ziemlich lange Zeit.

Der Fehler am Bild: Alles Männer. Symbolische Erwerbstätigkeit ist eine Einrichtung vor allem für Frauen.

Die Flut von Instituten und An-Instituten, sogenannten Stiftungen, Beratungsstellen, Initiativen, Maßnahmen, Projekten etc., deren Finanzierung den Steuerzahlern aufgebürdet wird, ist m.E. ein direkter Ausdruck, wenn nicht ein direktes Ergebnis der Inflationierung von Bildungstiteln und der daraus folgenden Aufblähung der Mittelschicht bzw. derer, die den Anspruch erheben, ihr zuzugehören, sowie des Gender Mainstreamings, das mehr Personen auf Schreibtisch-Jobs hieven möchte, einfach, weil sie weiblich sind, und auch dann, wenn keine Nachfrage nach ihrer Tätigkeit besteht. De facto handelt es sich bei den entsprechenden, häufig befristeten, Jobs vorrangig um eine Form symbolischer Erwerbstätigkeit, die Mittelschichtszugehörigkeit suggerieren und auf Rente und Krankengeld anrechenbare Zeiten sowie bezahlten Mutterschaftsurlaub und Elternzeiten produzieren soll, damit die symbolisch Erwerbstätigen dieselben Vorteile haben wie tatsächlich Erwerbstätige – ohne einen angebbaren und überprüfbaren Nutzen erbringen zu müssen. Die „Karrieren“ symbolisch Erwerbstätiger beschränken sich auf ein Umher-Gereicht-Werden in immer demselben Netzwerk. Wer Glück hat, schafft es vom Projektmitarbeiter in einem befristeten Projekt über eine Sprecher-Tätigkeit für irgendeine Stiftung, irgendein Institut für irgendetwas zum Leiter derselben, wobei weder als Sprecher noch als Leiter Unabhängigkeit von politischem Willen besteht, der mehr oder weniger alle (relevanten) Entscheidungen vorwegnimmt. Wer Pech hat oder einfach dumm ist, läßt sich als Projektmitarbeiter in einem befristeten Projekt dazu verleiten, „die Menschen“ zu beschimpfen und zu beleidigen und findet sich vor Gericht wieder, vielleicht vorbestraft, so dass es schwierig wird, dieses klägliche Menschenopfer auch nur im eigenen Netzwerk symbolisch zu beschäftigen, sind solche Beschäftigungen doch gewöhnlich dem sogenannten Öffentlichen Dienst angelagert.

Die Zwangsfinanzierung symbolisch Erwerbstätiger durch den Steuerzahler ist de facto eine Finanzierung einer Variante des Arbeitslosengeldes, eine Art Hartz IV für Mittelschichtler und solche, die es gerne sein (oder bleiben) möchten. Es ist daher m.E. keine Überraschung, dass der Unmut unter „den Menschen“ gegenüber der zunehmenden Zahl von Akademisierten und „Experten“, deren Unterhalt sie finanzieren und von denen sie dann auch noch als bloße zu bemaßnahmende Verwaltungsmasse betrachtet und behandelt werden, immer größer wird. Wenn keine Wege gefunden werden, die künstlich geschaffene Mittelschicht entweder abzubauen oder nützlichen Beschäftigungen auf dem ersten Arbeitsmarkt zuzuführen, wird sie demnächst nicht mehr finanzierbar sein, bzw. „die Menschen“ werden sie nicht weiter finanzieren können oder wollen, je nachdem, ob zuerst die Höhe der Steuerlast „die Menschen“ in den Ruin treibt oder der Ärger „der Menschen“ über die „Experten“ dazu führt, dass die finanzielle Aushaltung der symbolisch Erwerbstätigen politisch unmöglich wird. Ein „Klassenkampf 2.0“ zwischen sozusagen real Erwerbstätigen und bloß symbolisch Erwerbstätigen, die tatsächlich vollständig vom Steuerzahler finanziert werden, ist dann vielleicht unausweichlich.


Literatur:

Goldthorpe, John H., 2000: On Sociology: Numbers, Narratives, and the Integration of Research and Theory. Oxford: Oxford University Press.

Nollmann, Gerd (Hrsg.): Sozialstruktur und Gesellschaftsanalyse: Sozialwissenschaftliche Forschung zwischen Daten, Methoden und Begriffen. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.


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