Unschärfen, Irreführung, Sinnentstellung: Vorsicht vor Übersetzungen!
von Dr. habil. Heike Diefenbach
In unseren Texten berichten wir sehr oft über Studien oder Bücher, die in englischer Sprache verfasst und veröffentlicht wurden, und es gibt normalerweise keine Übersetzungen dieser Studien oder Bücher in die deutsche Sprache. Mit Bezug auf Bücher oder einzelnen Aufsätze sehr bekannter Autoren liegen aber manchmal Übersetzungen vor, und weil wir wissen, dass es unter unseren Lesern Menschen gibt, die die englische Sprache nicht beherrschen bzw. nicht gut genug beherrschen, um englischsprachige Texte, zumindest der wissenschaftlichen oder philosophischen Art, lesen und verstehen zu können, benutzen wir dann, wenn es uns möglich ist, gegebenenfalls vorliegende Übersetzungen ins Deutsche.
Es gibt Übersetzungen, die so gelungen sind, dass man meint, die Übersetzung träfe den „Geist“ des Originalwerkes besser als das Originalwerk selbst. Es ist aber vielleicht kein Zufall, dass es sich dann, wenn ich selbst diesen Eindruck von einer Übersetzung habe, meistens um ein literarisches Werk handelt. Für mich ist das beste Beispiel einer perfekten, vielleicht treffender: perfektionierten Übersetzung literarischer Werke die Übersetzungen ins Deutsche, die Friedrich Polakovics von den in englischer Sprache verfassten Geschichten von Algernon Blackwood (besonders „Der Wendigo“ und „Die Weiden“) vorgenommen hat.
Wir haben es auf ScienceFiles aber typischerweise nicht mit literarischen Werken zu tun. Die Lektüre von Übersetzungen von Texten, wie wir sie hier auf ScienceFiles normalerweise vorstellen, hat gewöhnlich ihren Preis. Manchmal mag dieser Preis vernachlässigbar sein, nämlich dann, wenn ein Text hauptsächlich Konkretes bzw. Sachinformationen enthält und es für den Leser genügt, die grundlegend wichtigen Inhalte, die der Text gibt, zu erfassen. Dann gibt es Verständnisprobleme vielleicht mit Bezug auf bestimmte verwendete Methoden oder Verfahrensweise und vielleicht mit der Operationalisierung des ein oder anderen Konzeptes; aber das sind fachlich bedingte Verständnisschwierigkeiten, keine in erster Linie sprachbedingten.
Der Preis des Lesens einer Übersetzung ist um so höher, je stärker in einem Text abstrakte Begriffe vorkommen und je stärker diese abstrakten Begriffe auf Denkgewohnheiten oder eine Vorbildung aufbauen, die unter den Sprechern der Originalsprache verbreitet sind, aber nicht oder kaum unter den Sprechern einer anderen Sprache. Ein Übersetzer kennt deshalb idealerweise nicht nur beide Sprache, also die, in der ein Text abgefasst ist, und die, in die der Text übertragen werden soll, sondern auch die Geschichte und Kultur sowohl der Gesellschaft, in der der Autor des Textes gelebt hat, als auch derjenigen, in der die potentiellen Leser des übersetzten Textes leben. Und selbst dann, wenn er sie tatsächlich kennt, steht er beim Übersetzen oft vor der Entscheidung, ob er sozusagen dem Wort treu bleiben will oder dem Wort um des Gemeinten willen sozusagen untreu werden will. Im letzten Fall muss er versuchen, Worte zu finden, die möglichst die Assoziationen bei den (meisten) Lesern der Übersetzung auslösen, die der im Original gewählte Begriff bei den (meisten) Lesern des Originalwerkes auslöst.
Wir sind sehr selten mit Übersetzungen der Texte, über die wir schreiben, ins Deutsche, sofern sie überhaupt vorliegen, zufrieden, und deshalb lassen wir am liebsten unübersetzt oder übersetzen kurze Textstellen selbst. Bei längeren Textstellen wäre eine eigene Übersetzung mit so großem Aufwand verbunden, dass wir es – mit einigem Bedauern – dabei belassen, die existierende Übersetzung zu übernehmen oder eben das Original zu zitieren – ebenfalls mit einigem Bedauern, weil wir wissen, dass ein Teil unserer Leser diese Zitate nicht oder nur unvollständig verstehen wird.
Sie mögen denken, dass es immer Unschärfen beim Übersetzen gibt, sie ohnehin unvermeidlich sind, dass niemand wirklich wissen kann, was genau ein Leser mit bestimmten Worten assoziiert, und wie dem auch sei, die resultierenden Annäherungen an den Originaltext gewöhnlich keine erhebliche Sinnentstellung darstellen würden. Wenn Sie das denken, mögen Sie im Prinzip Recht haben, aber in der Praxis häufig Unrecht.
Wir alle mögen uns voneinander darin unterscheiden, was wir als Unschärfe und was als Sinnentstellung einstufen, und dementsprechend darin, für wie wichtig oder (relativ) unwichtig wir es halten, Texte in der Originalsprache zu lesen. Aber wir sollten jedenfalls wissen, dass Übersetzungen einen Preis haben, und eine Vorstellung davon, was das in der Praxis bedeuten kann.
Und was das in der Praxis bedeuten kann, illustriere ich im Folgenden anhand eines kleines Teiles von „On Liberty“ von John Stuart Mill (über das ich vor zwei Tagen hier auf ScienceFiles geschrieben habe LINK) bzw. zwei verschiedenen Übersetzungen dieses Werkes ins Deutsche.
Für diejenigen, die das Folgende überprüfen möchten, gebe ich hier an, was genau vergleichend betrachtet wird:
John Stuart Mill, 1859: On Liberty. London: John W. Parker and Son.
John Stuart Mill, 1860: Über die Freiheit. Aus dem Englischen übersetzt von E. Pickford. Frankfurt/M.: J. D. Sauerländer’s Verlag.
John Stuart Mill, 2020: Über die Freiheit. Aus dem Englischen übersetzt von Bruno Lemke. Stuttgart: Reclam-Verlag.
Der Einfachheit halber werde ich öfters schreiben: „Bei Mill“, womit ich das englischsprachige Original meine, oder „bei Pickford“, womit ich die Übersetzung von Pickford meine, oder „bei Lemke“, womit ich die Übersetzung ins Deutsche von Bruno Lemke meine.
Wenn ich z.B. „Pickford: 1“ schreibe, sollte klar sein, dass Pickford nicht der Autor des Textes ist (das ist in jedem Fall John Stuart Mill), sondern hier aus Seite 1 der Übersetzung des Buches von Mill durch Pickford zitiert wird.
Nun zum Vergleich:
1. Unschärfe
Tatsächlich beginnen die Schwierigkeiten schon beim Titel. Nicht, dass etwas Grundsätzliches dagegen einzuwenden wäre, wenn „On Liberty“ mit „Über die Freiheit“ übersetzt wird – und beide Übersetzungen ins Deutsche, diejenige von Lemke und diejenige von Pickford, tragen diesen Titel. Die Schwierigkeit liegt darin, dass es im Englischen einen deutlichen Unterschied zwischen „liberty“ und „freedom“ gibt, während die Übersetzung beider Begriffe ins Deutsche durch das deutsche Wort „Freiheit“ erfolgen würde. Im Englischen ist „freedom“ eher ein psychologisches, wenn man so sagen will: auf das Innenleben bezogenes, Konstrukt, etwas, was man empfindet. In diesem Sinn hat man einen freien Willen, etwas frei gewählt, man fühlt sich frei, seinem Leben diese oder jene Richtung zu geben, die Gedanken sind frei, etc. „Liberty“ ist dagegen ein auf das Außen gerichtetes Konstrukt. Es bezeichnet „Frei-Sein“ mit Bezug auf Beschränkungen, Auflagen oder Ansprüchen von außen. Man ist in diesem Sinn frei von Hunger, frei, seine Meinung zu sagen, frei, einen bestimmten Beruf zu erlernen, frei, für diesen, aber nicht für einen anderen, Arbeitgeber zu arbeiten, frei, seinen Ehepartner zu wählen, etc. „Liberty“ bezeichnet also eine soziale oder politische Freiheit, während „freedom“ eher eine persönliche Freiheit bezeichnet. Manchmal wird „freedom“ auch als Oberbegriff über beides benutzt, aber wenn ein Englisch-Sprecher von „liberty“ spricht, ist klar, dass er damit eine bestimmte Art bzw. einen bestimmten Aspekt von dem meint, was im Deutschen einfach „Freiheit“ wäre.
Man könnte „liberty“ statt einfach mit „Freiheit“ mit „Bürgerfreiheit“ übersetzen. Auch das wäre nicht grundsätzlich falsch. Aber erstens ist „liberty“ nicht unbedingt an die Idee des Bürgertums gebunden, sofern man mit ihr die Französische Revolution und ihre Folgen verbindet, und zweitens ist „Bürgerfreiheit“ in den deutschsprachigen Ländern, zumindest in Deutschland, im Vergleich zu „liberty“ in englischsprachigen Ländern ein eingermaßen unüblicher und intellektualistisch gefärbter, deshalb einigermaßen „gestelzter“ Begriff. Dementsprechend wäre, so vermute ich, ein Buch mit dem Titel „Über die Bürgerfreiheit“ auf (deutlich?!) weniger Interesse bzw. einen kleineren Kreis von Interessenten gestoßen als ein Buch mit dem Titel „Über die Freiheit“.
Fakt ist jedenfalls, dass der Titel „Über die Freiheit“ weit weniger informativ für den potentiellen deutschsprachigen Leser mit Bezug auf den zu erwartenden Inhalt des Buches ist als es der Originaltitel „On Liberty“ für englischsprachige Leser ist; Ersterer ist gegenüber dem Originaltitel unterspezifiziert.
Zugegebenermaßen handelt es sich hier für mich (wie für Sie vermutlich auch) „nur“ um eine Unschärfe. Das kann man verschmerzen, besonders vor dem Hintergrund, dass Mill gleich zu Anfang seines Buches festhält, dass
„The subject of this Essay is not so-called Liberty of Will, … but Civil, or Social Liberty …” (Mill: 7)

bzw. bei Pickford:
„Der Gegenstand dieser Untersuchung ist nicht die sogenannte Willens-Freiheit, … sondern die bürgerliche oder gesellschaftliche Freiheit …“ (Pickford: 1).
bzw. bei Lemke:
„[d]er Gegenstand dieser Abhandlung ist nicht die sogenannte Freiheit des Willens …, sondern bürgerliche oder soziale Freiheit …“ (Mills in der Übersetzung von Lemke 2020: 7).
Aber was für Mill sozusagen eine doppelte Versicherung darüber war, dass der Leser tatsächlich – und wie im Titel schon angekündigt – von Anfang an versteht, dass er über „liberty“ und nicht über „freedom“ schreibt, liest sich in der deutschen Übersetzung – bei Pickford wie bei Lemke – wie eine Einschränkung des Themas gegenüber dem, was im Titel angekündigt war, so, als ob der Titel eine allgemeine Abhandlung über „Freiheit“ ankündigen würde (was er in den deutschen Übersetzungen ja auch tut), die dann im ersten Satz des Textes gleich wieder eingeschränkt wird. Dieser Eindruck, den die deutschen Übersetzungen schaffen, wird dem englischsprachigen Original aber wie beschrieben nicht gerecht.
Auch dies mag man unter der Rubrik „Unschärfen“ oder „unvermeidliche Missverständnisse“ zu verbuchen bereit sein. Aber angesichts der Tatsache, dass wir in der kleinen Analyse noch nicht über den Titel und den ersten Satz des Buches hinausgekommen sind, sollten wir schon eine vage Ahnung darüber haben, was uns „blühen“ könnte, wenn es um die eigentlichen Inhalte des Buches geht.
Also betrachten wir ein Beispiel dafür, wie Übersetzungen inhaltlich irreführend sein können.
2. Irreführung
Am Anfang seines vierten Kapitels „mit dem Titel „Of the Limits to the Authority of Society Over the Individual“ (Mill: 134)” beschreibt Mill, inwieweit (und warum)
„… each should be bound to observe a certain line of conduct towards the rest“ (Mill: 134).
Pickford übersetzt dies als “… wird es … unumgänglich, dass sich ein Jeder in seinem Verfahren gegen alle Übrigen gewissen Regeln unterwerfe” (Pickford: 105-106),
und Lemke übersetzt: „… macht es jedem unbedingt zur Pflicht, eine bestimmte Linie des Benehmens gegen die anderen einzuhalten“ (Lemke: 108).
Auffällig ist der Unterschied im Grad der Verbindlichkeit der Verhaltensrichtlinie, der „line of conduct“, der in den Übersetzungen von Pickford und Lemke besteht: Was bei Pickford die Notwendigkeit ist, sich „gewissen Regeln“ zu unterwerfen, wird bei Lemke zur „unbedingt[en] Pflicht, eine bestimmte Linie des Benehmens … einzuhalten“. Im englischen Original hat Mill den Ausdruck „to be bound to oberserve“ gewählt, und „to be bound to observe“ bedeutet, dass man etwas bindend beachten muss. Das entspricht nicht ganz dem deutschen „Verpflichtet-Sein“, was man schnell erkennt, wenn man rückübersetzt: „Verpflichtet-Sein zu“ würde man am ehesten mit „to be required to“ oder „to be obliged to“ ins Englische übersetzen, und „Verpflichtet-Sein, etwas einzuhalten“, würde man am ehesten übersetzen mit „to be required/obliged to comply with“ oder „to be required/obliged to stick with“. „To be bound to observe“ ist demgegenüber ein schwächerer Ausdruck, und Pickford hat dem in seiner Übersetzung Rechnung getragen: „… dass sich ein Jeder in seinem Verfahren gegen alle Übrigen gewissen Regeln unterwerfe“ entspricht in Konkret- bzw. Vagheit und Verbindlichkeitsgrad recht gut dem englischen Original „… each should be bound to observe a certain line of conduct“. Die Übersetzung von Lemke mit „..macht es jedem unbedingt zur Pflicht“ ist gegenüber dem englischen Original deutlich überzogen.
Selbst dann, wenn man die Übersetzung von „to be bound to oberserve“ mit „Verpflichtet-Sein, … einzuhalten“ akzeptieren will, stellt sich die Frage, wie Lemke dazu kommt, aus der Pflicht eine „unbedingt[e]“ Pflicht zu machen. Das englische Original enthält nicht nur keinerlei qualifizierendes Adjektiv wie z.B. „unconditional“ oder „strict“, das die „observance“ „unbedingt“ oder „streng“ machen würde, sondern es gibt auch im Kontext des Satzes keinerlei Anlass, eine solch starke Verbindlichkeit in der deutschen Übersetzung formulieren zu wollen. Hätte Mill eine „unbedingte Pflicht“ ausdrücken wollen, dann hätte er vermutlich eine Formulierung wie „unconditional duty“ oder „absolute obligation“ oder „imperative duty“ gewählt.
Hier hat sich Lemke gegenüber dem englischen Original eindeutig verselbständigt, und zwar in irreführender Weise insofern Lemke das Kapitel für den Leser auf eine Weise rahmt, die nicht dem Rahmen entspricht, den Mill selbst setzt. Tatsächlich ist nicht nur das gesamte vierte Kapitel, sondern auch und vor allem das fünfte Kapitel von „On Liberty“ ein einziges Ringen mit der Frage, wer was wann warum – aber fast nie: wie genau – sanktionieren könnte oder sollte – aber nie: muss. Um „unbedingte Pflichten“ geht es darin jedenfalls nicht.
3. Sinnentstellung
Es könnte sein, dass diese Verselbständigung gegenüber dem englischsprachigen Original den eigenen Überzeugungen des Übersetzers geschuldet ist. Dafür, dass dies so ist, spricht auch, wie Lemke weiter übersetzt. Mill zählt auf, worin die „line of conduct“, also die Verhaltensrichtlinien, die jedermann beachten soll, bestehen:
“This conduct consists first in …; and secondly in each person’s bearing his share (to be fixed on some equitable principle) of the labours and sacrifices incurred for defending the society or its members from injury and molestation” (Mill: 135).
In seiner Übersetzung wählt Lemke nicht nur wieder den Begriff “Verpflichtung”, wo Mill “conduct”, also „Verhalten(sweise) wählt“, sondern macht aus dem unspezifizierten Gerechtigkeitsgrundsatz oder –prinzip („some equitable principle“), von dem Mill spricht, kurzerhand eine „Umlage“, und aus „injury“, also einem „Schaden“, eine „Beleidigung“:
„Diese Verpflichtung besteht erstens darin, …. Zweitens darin, dass jeder seinen Teil (durch Umlage) zu den entstehenden Arbeiten und Kosten beiträgt, um die Gesellschaft oder ihre Mitglieder gegen Beleidigung und Belästigung zu schützen“ (Lemke: 108).
Der Duden gibt die Bedeutung von „Umlage“ als „umgelegte[n] Betrag“ an und als Synonyme für „Umlage“ „Verteilung, Ausbezahlung, Ausschüttung, Weitergabe“, und wir kennen den Begriff „Umlage“ vor allem im Kontext von „Umlageverfahren“, bei denen es sich um
„…ein Finanzierungssystem für die gesetzlich vorgeschriebenen Unfall-, Kranken- und Rentenversicherungen“ handelt.

Nun mag es sein, dass Lemke „Umlage“ in weiten Sinn von „Transfer“ bzw. „Umverteilung“ verwendet hat, aber er oder der Verlag hätte in neueren Auflagen dieser Übersetzung die Assoziation des Begriffs „Umlage“ mit staatlichen Zwangsversicherungen in Rechnung stellen müssen und eine andere, bessere Formulierung finden müssen. Und selbst die Wahl von Begriffen wie „Umverteilung“ oder „Transfer“ wären unnötig einschränkend und insofern irreführend gewesen, denn die englischsprachige Original-Formulierung legt nicht nahe, dass es Aufgabe des Staates wäre oder sein müsse, dafür zu sorgen, dass jeder seinen Teil dazu tut, von anderen Gesellschaftsmitgliedern Schaden abzuwenden.
Vielmehr lässt Mill bewusst offen, welches Prinzip dabei zur Geltung kommen soll, wenn er von „some equitable principle” schreibt, also „irgendeinem Fairnessprinzip“ bzw. gemäß dem, was als „recht und billig“ angesehen wird. Fairnessprinzipien können viele verschiedene Formen annehmen. Auch die soziale Norm, nach der man – besonders zu bestimmten Zeiten oder Anlässen – eine Spende im herumgereichten Kollektenkorb hinterlassen soll, wäre „irgendein Fairnessprinzip“. Auch, wenn Mill direkt im Anschluss an die zitierte Stelle schreibt:
„These conditions society is justified in enforcing, at all costs to those who endeavour to withhold fulfilment“ (Mill: 135),
so bedeutet dies keineswegs, dass die Durchsetzung “at all costs” durch den Staat erfolgen müsse. Mill sagt lediglich, dass „society“, also „die Gesellschaft“ das nicht näher spezifizierte Fairnessprinzip (s.E.) legitim gegenüber denjenigen, die sich ihm zu entziehen versuchen, durchsetzen darf. Hierunter könnte man sich z.B. vorstellen, dass die katholische Kirche jemanden, der sich systematisch weigert, eine Spende im Kollektenkorb zu hinterlassen, mit Exkommunizierung bedrohen darf.
Die Übersetzung von Pickford trifft das englischsprachige Orignal vor diesem Hintergrund sehr viel besser als diejenige von Lemke. Pickford übersetzt:
„Diese Regeln bestehen, … zweitens darin, dass ein Jeder – nach irgend einem billigen Maßstab der Vertheilung – seinen Antheil an den Mühen und Lasten trägt, deren es zur Vertheidigung der Gesellschaft oder ihrer Mitglieder gegen Schaden und Belästigung bedarf“ (Pickford: 106; Hervorhebungen d.d.A.).
Nun noch einmal die Übersetzung von Lemke zum Vergleich:
„Diese Verpflichtung besteht erstens darin, …. Zweitens darin, dass jeder seinen Teil (durch Umlage) zu den entstehenden Arbeiten und Kosten beiträgt, um die Gesellschaft oder ihre Mitglieder gegen Beleidigung und Belästigung zu schützen“ (Lemke: 108; Hervorhebung d.d.A.).
Ohne hier weiter ins Detail gehen zu wollen, sei mit Bezug auf die Formulierungen, die ich in beiden Zitaten kursiv gesetzt habe, noch bemerkt, dass weder Mill noch Pickford von „costs“ oder „Kosten“, sprechen, sondern von „sacrifices“ bzw. „Lasten“, während Lemke in seiner Übersetzung das Wort „Kosten“ wählt und damit eindeutig – Kombination mit dem Begriff „Umlage“ – die Assoziation einer finanziellen Umverteilung zwischen den Gesellschaftsmitgliedern weckt, also den Leser an Transferzahlungen denken lässt – zumindest solche Leser, die nicht mit Bezug auf die ökonomische Theorie (in der das Konzept der „Kosten“ weitergefasst wird und über finanzielle Kosten hinausgeht) vorgebildet sind, und das dürfte auf die Mehrheit der Leser zutreffen. Finanzielle Umverteilung wird durch die Formulierung im Original (und in der Übersetzung von Pickford) nicht explizit ausgeschlossen, aber gleichzeitig wird sie durch nichts nahegelegt. Von ihr ist im Original (ebenso wie in der Übersetzung von Pickford) einfach keine Rede.
Keine Rede ist im Original auch von „Beleidigung“, wie Lemke das Wort „injury“ bei Mill übersetzt. Für „Beleidigung“ gibt es eine Reihe von sinnentsprechenden englischen Worten – „insult“, „slur“, „offense“, „libel“, um nur einige naheliegende zu nennen –, aber „injury“ bedeutet nicht „Beleidigung“, sondern „Verletzung“, „Beschädigung“ oder „Schaden“. Und genauso hat Pickford das Mill’sche „injury“ übersetzt: mit „Schaden“ (s. oben im Zitat).
Aber Lemke nicht. Wie Lemke auf die Idee kommt, „injury“ mit „Beleidigung“ zu übersetzen, obwohl „injury“ „Schaden“ bedeutet und sich in aller Regel auf einen beobacht- bzw. messbaren Schaden bezieht und nicht auf Gefühltes, bleibt sein Geheimnis. In jedem Fall ist die Wahl des Wortes „Beleidigung“ hier äußerst bedauerlich: In einem gesellschaftlichen Klima, in dem das Gefühlte gegenüber der beobachtbaren Realität in den Hintergrund tritt und aufgrund des Gefühlten Schonräume eingerichtet und Gesetze über sogenannte Hassrede verabschiedet werden, kann es nicht anders als schwerwiegend irreführend bezeichnet werden, wenn Lemke suggeriert, Mill habe „Beleidigung“ als etwas angesehen, für dessen Abwendung die Gesellschaft sich nicht nur engagieren solle oder müsse, sondern die Gesellschaft dafür auch zur Kasse gebeten werden solle oder müsse. In Lemkes Übersetzung wird behauptet, durch die „Umlage“ von „Kosten“ müsse jeder dazu beitragen, die Gesellschaft oder ihre Mitglieder vor „Beleidigung“ zu schützen. Bei Mill findet man hiervon keine Spur, und solches wird durch seine Formulierung in keiner Weise nahegelegt.
Es steht zu befürchten, dass Lemke wusste, was er tat, als er hier für „injury“ „Beleidigung“ geschrieben hat, denn dasselbe Wort, „injury“, übersetzt Lemke an anderer Stelle korrekt als „Schädigung“ (Lemke: 92) und an wieder anderer Stelle falsch, aber doch gänzlich anders denn als „Beleidigung“ als „Unrecht“ (Lemke: 113).
Ein klarer Fall von Sinnentstellung durch „Umschreiben“ findet sich auf der dem oben genannten Zitat folgenden Seite, d.h. auf Seite 109 in der Übersetzung von Lemke. Dort schreibt er:
„Sobald irgend etwas in der Handlungsweise eines Einzelnen den Belangen anderer Abbruch tut, hat die Gemeinschaft Rechtsgewalt über ihn ,und die Frage, ob das Gemeinwohl dadurch gefördert wird oder nicht, wenn sie sich mit ihm befasst, steht zur Debatte“.
Im Original, bei Mill, heißt es:
„As soon as any part of a person’s conduct affects prejudicially the interests of others, society has jurisdiction over it, and the question whether the general welfare will or will not be promoted by interfering with it, becomes open to discussion“ (Mill: 135).
Der Unterschied mag gering anmuten, aber er ist in seiner Bedeutung erheblich:
Erstens wird bei Lemke aus „society“, das er in aller Regel als „Gesellschaft“ übersetzt, plötzlich „Gemeinschaft“, obwohl dieses Wort im Deutschen kein Synonym für „Gesellschaft“ darstellt, sondern die „Gemeinschaft“ der „Gesellschaft“ in Deutschland traditionell als Gegenentwurf oder Gegensatz gegenübergestellt wird.
Zweitens kann „jurisdiction“ „Rechtsgewalt“ bedeuten, muss es aber nicht unbedingt; es kann ebenso „Zuständigkeitsbereich“ oder „Geltungsbereich“ oder „Anordnungsbefugnis“ bedeuten, und wieder lässt sich nichts im englischen Original finden, das es naheliegen würde, dass die Gesellschaft (oder bei Lemke: die „Gemeinschaft“) die in Frage stehendes Handlungsweise mit Rechtsmitteln bedrohen solle oder müsse. Im Gegenteil: im englischen Original und in den beiden deutschen Übersetzungen von Pickford und von Lemke wird im Vorsatz festgehalten, dass diesbezüglich gerade nicht Rechtsmittel zu denken ist:
„The offender may then be justly punished by opinion, though not by law“ (Mill: 135; Hervorhebung d.d.A.);
“Ein solches Vergehen unterliegt füglich der Bestrafung, wenn auch nicht durch das Gesetz, so doch durch die öffentliche Meinung” (Pickford: 106;Hervorhebung);
„Der Schuldige mag dann gerechterweise durch die öffentliche Meinung bestraft werden, wenn auch nicht durch das Gesetz“ (Lemke: 109).
Warum übersetzt Lemke dann im Folgesatz „jurisdiction“ mit „Rechtsgewalt“!?
Drittens ist es bei Mill nicht „er“, also der Mensch, der der Beurteilung durch die öffentliche Meinung unterliegt, sondern „it“, d.h. speziell diejenige seiner Handlungsweisen, die anderen Menschen zum Nachteil gereicht. Pickford übersetzt Mill korrekt, wenn der schreibt, dass es das „Vergehen“ ist, das in Frage steht. Lemke jedoch schreibt hier den Text um und will „ihn“, den Menschen, der „Rechtsgewalt“ unterstellen, damit sich die anderen mit „ihm“ – nicht bloß mit der speziellen Handlung, die in Frage steht – befassen mag.
Man könnte Lemke insofern verteidigen wollen als Mill selbst (wie oben zitiert) vom „offender“ schreibt, aber dabei würde man erstens übersehen, dass ein „offender“ kein „Schuldiger“ ist und nur mit sehr viel gutem Willen ein „Täter“, sondern tatsächlich jemand, „who has given offense“, also jemand, an dessen Handlung jemand anderes Anstoß genommen hat. Und genau in diesem Sinn, als „offender“, als jemand, an dessen Handlung Andere Anstoß nehmen, will Mill die Beurteilung durch die Gesellschaft zur Geltung bringen und zur Diskussion – nicht zur Verurteilung – stellen („… becomes open to discussion“; Mill: 135). Das macht Mill unmissverständlich klar – so sollte man meinen –, wenn er schreibt: „As soon as any part of a person’s conduct affects …“ (Mill: 135; Hervorhebung d.d.A.). „Open to discussion“ ist eine bestimmte Handlungsweise einer Person, die „offense“ gegeben hat, weshalb er insofern als „offender“ bezeichnet werden kann, aber nicht seine ganze Person, nicht „er“, und schon gar nicht ist er ein „Schuldiger“, weder im juristischen noch im metaphysischen Sinn. Und beide Konnotationen, die juristische wie die metaphysische, hat das deutsche Wort „Schuld“ bzw. „Schuldiger“.
Möglicherweise haben wir es hier mit einer grundsätzlich anderen Art zu denken zu tun, die die konkretistische, rationale, empirische britische und die deutsche metaphysische, essentialistische Tradition unterscheidet. Und man mag es für bezeichnend halten, dass der Übersetzer ins Deutsche mit dem britischen Namen, Pickford, der, als er die Übersetzung vornahm, Dozent an der Universität Heidelberg gewesen ist, mit seiner Übersetzung sozusagen zwischen derjenigen von Mill und Lemke steht, denn an der Stelle, um die es hier geht, meint auch Pickford, übersetzen zu müssen, dass „er“, der Mensch, der Gerichtsbarkeit der Gesellschaft verfalle, aber im Großen und Ganzen ist seine Übersetzung fast durchgängig näher am englischsprachigen Original als diejenige Lemkes (was die Zitate, die hier wiedergeben wurden, illustriert haben sollen), ohne ihr jedoch durchgängig gerecht zu werden.
Um Missverständnissen vorzubeugen: Lemkes Übersetzung ist nicht rundum schlecht. Tatsächlich entspricht (auch) sie über weite Strecken dem englischen Original recht gut. Aber in ihr trifft man immer wieder einmal Stellen, von denen dem Leser, der Mill im Original kennt, einigermaßen unverständlich ist, wie Lemke dazu kommen ist, in der jeweiligen Weise irreführend oder sinnentstellend zu übersetzen. Man kommt schwerlich umhin, den Eindruck zu gewinnen, dass mit der Modernisierung der deutschsprachigen Übersetzung zumindest stellenweise eine Anpassung an die Ideologie des Zeitgeistes erfolgt ist, wie sie sich seit den 1980-Jahren in den westlichen Ländern geltend zu machen anschickt.
Inwieweit Lemke dafür verantwortlich ist und inwieweit der Verlag, sei dahingestellt. Entsprechend der britischen Tradition geht es hier nämlich nicht darum, „Schuldige“ auszumachen, sondern deutlich zu machen, woran ich in der deutschen Übersetzung durch Lemke bzw. bei Reclam Anstoß genommen habe, wovon ich warum „offended“ bin. Und nach Mill ist damit die Diskussion darum eröffnet, was von der Angelegenheit zu halten ist.
Weil diese Angelegenheit nach meiner Erfahrung keineswegs ein Einzelfall ist, geht es mir schlicht darum, zu illustrieren, dass es sehr irreführend sein kann, einem übersetzten Text zu vertrauen und zu meinen, man kenne nunmehr die Inhalte, die er Autor des Textes formuliert hat (einigermaßen zuverlässig).
Deshalb gilt:
Übersetzungen sind keineswegs unproblematisch, und eine neuere Übersetzung ist nicht unbedingt besser als eine ältere, nur, weil sie neuer ist. Übersetzungen sind mehr oder weniger unvollkommene Hilfsmittel. Sie sollten vermieden werden, wann immer es möglich ist. D.h. wann immer es möglich ist, sollte man Texte in der Sprache lesen, in der sie verfasst wurden, auch dann, wenn das bedeutet, dass man einen Text aus dem vergangenen Jahrhundert lesen muss, der vielleicht sprachlich etwas „angestaubt“ wirkt.
Gerade für Personen, deren Auseinandersetzung mit bestimmten Fragen, die die Zur-Kenntnisnahme von Texten, die in anderen Sprachen verfasst wurden, notwendig macht, sozusagen zum täglichen Brot gehört, also z.B. Wissenschaftler, Dozenten und Studenten, sollten sich darüber bewusst sein, dass und wie problematisch Übersetzungen sein können und nicht gewohnheitsmäßig auf sie zurückgreifen.
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In den 90er Jahren kaufte ich auf dem Londoner Flughafen einen Roman mit dem englischen Titel (- so ähnliche) The Expelled (- irgendwie ähnlich, er handelte von zur Nazizeit verdrängten, vertriebenen, durcheinander gewürfelten geflüchteten Menschen. Es war eher kein Roman, sondern eine Sammlung von Lebensgeschichten.
Ich las das Buch zügig (im Flug) durch und entdeckte erst hinterher, dass der Autor ein Deutscher war, das Buch eine Übersetzung. Der Autor war Germanist an einer englichen Uni. Starb vor etwa 10 Jahren (- oder nur 5?), noch relativ jung, noch kein Emeritierter.
Anschliessend kaufte ich das Buch auf deutsch, um es zu verschenken, und hat einen ähnlich starken Eindruck. Der Autor hatte das Buch auf deutsch gechrieben und NICHT selbst auf englisch übersetzt, obwohl er das wahrscheinlich hätte können. Aber Muttersprache ist eben Muttersprache.
(Leider kann ich mich nicht an dem Namen erinnern. Und meine Bücher sind … andeswo. Kann mir da jemand helfen?)
W. G. Sebald – Die Ausgewanderten. – Bissle gebaut nach Goethes Novellenzyklus Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten.
Hier finden Sie etwas über Sebald.
https://www.wgsebald.de/alias/alias.html
https://www.wikiwand.com/de/W._G._Sebald
W. G. Sebald war an einer britischen Provinzuni (Norwich) und – betrieb dort das Center for Translation, übrigens, passend zu Heike Dieffenbachs Mill-Betrachtungen.
Es würde nicht übertrieben gewesen sein, darauf hinzuweisen, dass J. S. Mill die Hauptreferenz von Jonathan Haidt und dessen nicht zu unterschätzender Heterodox Society ist. Die Heterodox Society Haidts ist eine wichtige und erfolgreiche Initiative gegen das freiheitszersetzende Gift der Political Correctness an den Unis der Anglosphere. Könnte man auch einen Deutschen Flügel gründen…
Danke – genau, das ist es.
Als ich nach der englischen Übersetzung das deutsche Original las, spürte ich an etlichen Stellen, dass eine andere Sprache anderes Denken evoziert.
“Ringe des Saturn” hatte mich in eine fremde Nähe zur englischen Provinz gezogen. (Was natürlich eine Illusion ist: eine fremde Gesellschaft verstehen zu meinen.)
Danke nochmal für die Hinweise.
Bitte, sehr gerne!
W. G. Sebald war ein Charakter und seine Grundmelancholie und Grundverzweiflung sorgten für irritierende Lektüren.
Seine Zürcher Bemerkungen Literatur und Luftkrieg haben merkliche Spuren in der literarischen Öffentlichkeit der Bundesrepubllik hinterlasssen.Siehe z. B. dieses Interview, das Denis Scheck im Deutschlandfunk mit Sebald über dieses Thema geführt hat:
https://www.deutschlandfunk.de/literatur-und-luftkrieg.700.de.html?dram:article_id=79521
Mein Schlüsselerlebnis mit guten Übersetzungen hatte ich mit Dieter E. Zimmer und Nabokov. Mit seinen Übersetzungen blühen dessen Romane regelrecht auf. Ein Problem von Unschärfe kommt meines Erachtens vom ideologischen Klima, in dem ein immer größerer Teil derer, die die veröffentlichte Meinung bestimmen, mutwillig das Wort im Mund rumdrehn.
Zu dem hervorragend gewählten Beispiel zwei Zitate:
“Übersetzung ist immer Exegese” (Prof. Vetter, Alttestamentler, Uni Bochum, 1976), und
“Traduttore — traditore” (“der Übersetzer ist ein Verräter”, italienisches Sprichwort).
Am besten finde ich die Übersetzung von ‘equality’ aus EU-Kommission, respektive EU-Parlament ins Deutsche bis in Gesetzgebungen. Statt ‘Gleichberechtigung’ wird das in den letzten Jahren zu ‘Gleichstellung’ und wird als das ‘verkauft’, was die EU wolle. ‘Gleichstellung’ ist aber nach dem Grundgesetz nicht gewollt, auch wenn es in Deutschland von Gleichstellungsbeauftragten noch so wimmelt.
@Martin
Ja. das ist dann wohl das, was Niels Dettenbach in seinem unten stehenden Kommentar “kreatives Übersetzen” genannt hat.
Tatsächlich bedeutet “equality” GleichHEIT – nichts anderes, was mit “Gleich-” anfängt. Will man im Englischen etwas anderes ausdrücken, was mit “Gleich-” anfängt, dann muss man entweder ein anderes Wort als “equality” wählen, oder dem “equality” irgendeine Spezifizierung spendieren wie z.B. “equality of SOMETHING”.
Tja. Ich habe ein Buch von Stephen Hawking, dessen deutscher Titel ,, Das Universum in einer Nußschale” ist.
Einer der häufigsten Übersetzungsfehler ist von ,,human race” in ,,menschliche Rasse. Wohl nicht ohne Grund sind Übersetzer oft Mitglied in der Künstlersozialkasse.
Wie bitte?
Das Problem ist allerdings, dass Texte in der Originalsprache lesen auch entsprechende Kenntnisse dieser Sprache voraussetzt. Ich traue mir halbwegs zu, englische Originaltexte zu lesen, aber schon bei Texten in französischer Sprache wäre ich, obwohl ich fünf Jahre Französischunterricht in der Schule hatte, aufgeschmissen. Ganz zu schweigen von anderen Sprachen.
@Eloman
Ja, natürlich muss man Mindestkenntnisse der Originalsprache haben.
Aber ich persönlich denke, dass es, wenn man die Originalsprache des Buches halbwegs kann, oft besser ist, nicht alles bei der Lektüre des Buches in der Originalsprache zu verstehen, aber die wichtigsten Inhalte und den “Geist” des Buches zu erfassen, als sich von Übersetzungen ggf. auf eine einfach falsche Bahn lenken zu lassen.
Und ‘mal ehrlich: die meisten europäischen Sprachen kann man als Muttersprachler einer europäischen Sprache relativ leicht so weit lernen, dass man Geschriebenes verstehen kann. Und heutzutage gibt es unzählige Möglichkeiten, sich Sprachen (oft unentgeltlich) anzueignen …..
Vielen Dank für diesen Artikel.
Warum tut sich Lemke die Arbeit einer Übersetzung an, wenn es doch eine gute schon gibt.? Weil ihm am Original etwas stinkt..Und das muß erheblich sein.
Als Katholik kann ich auf zwei Beispiele verweisen, wie ideologische Positionen das Ergebnis beeinflussen. Da wird >pro multisfür allecredowir glauben< und Paulus, den ich für den aufgeklärtesten Mann halte, nicht mehr geduldet: Schwestern und Brüder muß es heute heißen. Da haben Allerlösung, das Volk Gottes und der Zeitgeist gesiegt. Kleinkarierte Geister. Die Schöpfung war erst mit der Erschaffung Evas aus Adam vollendet. Eine völlig "inakzeptable" Schlagzeile ist mir in Erinnerung: Alle Töchter Evas haben den selben Großvater. In der WamS vor etlichen Jahren.
@Konrad Kugler
@Raro (Ihr unten stehender Kommentar)
Naja, meist geht die Initiative zu einer Neuübersetzung nicht vom Übersetzer, sondern vom Verlag aus, der vielleicht denkt, die bereits vorliegende entspräche nicht mehr den modernen Sprachgewohnheiten.
M.E. ist das aber gerade der Punkt: Texte aus anderen Zeiten (und ggf. Orten) sind ja gerade deshalb interessant, weil sie gewöhnlich NICHT auf den Prämissen aufbauen, die heute gemäß des aktuellen Zeitgeistes normal gefunden werden.
Gerade deshalb ist ihre Lektüre lohnend, und man hat beim Lesen nicht das Gefühl, dass das eine weitere Version dessen ist, was man überall lesen kann.
Und wenn ein Originaltext aus dem 19. Jahrhundert stammt, dann ist eigentlich nur plausibel, dass eine Übersetzung, die ebenfalls aus dem 19. Jahrhundert stammt, eine höhere Wahrscheinlichkeit hat, “näher dran” am Originaltext zu sein, als eine neuere.
So erkläre ich mir meinen eigenen Eindruck, nach dem ältere Übersetungen meist besser (d.h. treffener, dem Original eher entsprechend) sind als neuere, also den Eindruck den Sie, Raro, in Ihrem unten stehenden Kommentar schon formuliert haben.
Was speziell die Lemke-Übersetzung von Mill betrifft, so scheint es, dass seine Übersetzung keine ganz neue ist, sondern in der Mitte der 1980er-Jahre angefertigt wurde, aber leider konnte ich nichts näheres herausfinden, z.B. darüber, ob die Übersetzung in noch neuerer Zeit überarbeitet, angepasst o.ä. wurde bzw. die Redaktion sie irgendwann überarbeitet hat.
Ich würde prinzipiell auch nicht ausschließen, dass Verlage aus anderen Gründen als der sprachlichen “Modernisierung” Neuübersetzungen vornehmen (lassen) wollen oder dazu angeregt werden, dies zu tun. Gerade die gelben Reclam-Büchlein sind ja finanziell sehr erschwinglich und eigenen sich daher sehr gut, um z.B. im Schulunterricht gelesen zu werden oder jungen Leuten zur Lektüre empfohlen zu werden. So etwas bietet natürlich eine gute Gelegenheit, jungen Leuten “Klassiker” zu vermitteln – in einer “modernisierten” Version – die dann mehr oder weniger nicht den “Klassiker” als solchen darstellt.
Um Mißverständnisse zu vermeiden:
Ich sage NICHT, dass das im Fall des Reclam-Bändchens mit Lemkes Übersetzung so gewesen ist, also dass das Motiv war. Ich sage, dass man vernünftigerweiese NICHT AUSSCHLIESSEN kann, dass dort, wo es Gelegenheit gibt, etwas für bestimmte Interessen zu instrumentalisieren, diese Gelegenheit auch ab und an wahrgenommen wird.
Wie dem auch sei:
Es gibt keinen guten Grund dafür, Übersetzungen zu lesen, wenn man auch den Originaltext halbwegs gut lesen könnte, aber gute Gründe dafür, Übersetzungen NICHT zu lesen, wenn man nicht unbedingt muss.
Auweh! Da wird >pro multisfür allecredowir glauben<
Wer hat da was gegen mich? Also noch einmal: Da wird aus “pro multis” “für alle” und aus “credo” “wir glauben”.
„kreatives Übersetzen“ ist – wie „kreatives Zitieren“ (typischerweise Zusammenschnippeln von Aussagen, Video-/Audioschnippseln) und „kreatives Mastern“ von Videomaterial (Farbraummanipulationen, Audio-Dynamiktricks u.ä.) mit das wichtigste Instrument von Propagandisten.
Besonders breit und dreist kam „kreatives Übersetzen“ z.B. bei deutscher „Trump-Berichterstattung“ zur Anwendung…
@Niels Dettenbach
Ich weiß. was Sie meinen, aber wenn man dem Euphemismus mit Bezug auf das Wort “kreativ” nicht fraglos folgen will, muss man sich fragen, was an dem vorhersagbaren Krempel, den (u.a.) deutsche mainstream-Medien über Trump zu schreiben hatten, “kreativ” gewesen ist.
Sie bringen es ja auf den Punkt: das war einfach dreist, und zum großen Teil war es einfach dreistes Lügen.
Mir ist aufgefallen, dass bei älteren Werken aus dem Englischen auch die ältesten Übersetzungen meist die besten sind.
Zum Beispiel ist die Übersetzung des Ulysses von Joyce durch Goyert aus den 50ern noch immer die beste.
Das gilt allgemein, seit den 60ern ist die Qualität der Übersetzungen, vor allem von anspruchsvollen Werken, stark gesunken.
Das korreliert mit der Qualität von deutschen geistes- und sozialwissenschaftlichen Werken. Die Informationsdichte und Eloquenz aus Büchern bis in die 60er ist unerreicht.
Beispiel: Friedrich Ratzel, Völkerkunde Band 2 von 1890, in diesem Werk ist pro Zeile mehr Information enthalten, als in heutigen vergleichbaren Werken pro Seite, wenn nicht pro Kapitel, eine Informationsdichte, dass man öfter innehalten muss, um das Gelesene zu verarbeiten. Einen Precht lese ich dagegen so wie die Sandmännchengeschichten aus dem Kinderfernsehen.
Ein winziger Auszug aus dem Ratzel aus einem anderen Zusammenhang, der aber sehr gut zum heutigen Deutschland passt, quasi der Leitsatz der heutigen Politik:
“Vom Missverhältnis zwischen Schmuck und Kleid, Luxus und Notwendigkeit”
@Raro
“Mir ist aufgefallen, dass bei älteren Werken aus dem Englischen auch die ältesten Übersetzungen meist die besten sind.”
Ja, das ist auch mein Eindruck, und nicht nur bei Romanen! S. meinen Antwort-Kommentar auf Konrad Kuglers Kommentar (oben).