Enteignung “unsoziale[r] Hausbesitzer” und “Leerstandsschnüffler” – politische (Un-)Kultur in Deutschland

Politische Kultur, das ist ein geflügelter Begriff der Politikwissenschaften, der im Verlauf der letzten Jahrzehnte leider entkernt und wie viele Begriffe der willkürlichen Benutzung preisgegeben wurde.

Wir beziehen uns, wenn wir den Begriff der politischen Kultur verwenden, immer auf seine Grundlegung durch Gabriel Almond und Sidney Verba, die politische Kultur zunächst als subjektive Orientierung gegenüber Politik definiert haben, die sie im nächsten Schritt als Ergebnis von Einstellungen und Wertorientierungen spezifizieren.

Wichtig für die politische Kultur ist, dass die Einstellungen, als kognitive, evaluative und verhaltensrelevante Orientierungen der Bürger mit Blick auf Ihren Staat angesehen werden. Entsprechend kann man sich die Beziehung zwischen Politik und Bürger in drei Weisen denken:

  • civic cultureDie Bürger nehmen in ihrem täglichen Handeln nur am Rande wahr, dass es einen Staat oder eine Regierung gibt. Letztere macht vor sich hin, und die Bürger machen vor sich hin, “and seldom their twain shall meet”. Das nennen Almond und Verba eine parochiale politische Kultur.
  • Die Bürger sind sich sehr bewusst darüber, dass eine Regierung, ein Staat vorhanden ist, denn ihr tägliches Leben ist in allen Bereichen der Einflussnahme durch diesen Staat oder die Regierung ausgesetzt. Die politischen Beziehungen zwischen Staat und Bürger sind als Einbahnstraße definiert, von oben nach unten. Bürger haben keinen Einfluss auf die Maßnahmen von Staat und Regierung, denen sie unterworfen sind. Diese Form der politischen Kultur nennen Almond und Verba eine subject political culture – Untertanenkultur wäre vielleicht die beste Übersetzung.
  • Die Bürger sind sich der Existenz eines Staates und einer Regierung bewusst und nehmen Einfluss auf das, was dieser Staat und seine Regierung regieren will. Der politische Prozess ist keine Einbahnstraße, sondern ein Dialog zwischen Bürgern und Regierung, es ist eine partizipative eine Civic Culture in den Worten von Almond und Verba vorhanden.

Almond und Verba haben ihr Konzept von politischer Kultur nicht nur entwickelt, sie haben es auch angewendet, u.a. auf Deutschland und Deutschland als irgendwo zwischen Untertanen- und partizipativer Kultur verortet.

Und da ist Deutschland immer noch, wobei die Tendenz nach unserer Ansicht dahingeht, dass Personen, die sich selbst gerne als politische Eliten begreifen, eine subject political culture eine Untertanenkultur durchzusetzen versuchen, z.B. indem sie vorschreiben wollen, wie man zu sprechen, zu schreiben, was man zu sprechen und zu schreiben hat, wen man wie zu bezeichnen hat, was wer wie oft essen darf und neuerdings, wie man sein Eigentum benutzen darf.

Und damit sind wir zurück in Stuttgart, wo nach Erkenntnissen der Stuttgarter Nachrichten OB Fritz Kuhn (Grüne) und Erster Bürgermeister Michael Föll (CDU) “ins Kreuzfeuer von Kritik und Beifall geraten sind”.

Es geht um die beabsichtigte Enteignung von so genanntem Wohnraum, über die wir bereits berichtet haben. Grundlage dieser Enteignung ist das Zweckentfremdungsverbot, das im “Gesetz über das Verbot der Zweckentfremdung von Wohnraum (Zweckentfremdungsverbotsgesetz ZwEWG)“ niedergelegt ist.

Neben dem Begriff “Wohnraum”, der einen erheblichen DDR-Stallgeruch ausdünstet, steht der Begriff “Zweckentfremdung”, ein Begriff, der eine klare Prämisse mitbringt, die da lautet: Wenn ein Gebäude oder mehrere Räume in einem Gebäude errichtet wurden, um Personen zu beherbergen, dann ist dieses Gebäude bzw. die mehreren Räume für immer und ewig Wohnraum. Wer per Dekret zu ewigem Leben ernannten Wohnraum verändert, handelt entsprechend und nach § 5 dieses denkwürdigen Gesetzes für die Ewigkreit, ordnungswidrig und kann mit bis zu 50.000 Euro zur Kasse gebeten werden.

Und genau das wollen der OB und sein Erster Helfer von der CDU tun, Eigentümer von umbautem Raum, die denselben nicht vermieten, zur Kasse bitten. Dabei erhalten sie Schützenhilfe von Ralf Gaßmann, der dem Mieterverein Stuttgart vorsteht und sich ansonsten (vermutlich nicht zufällig) auf der Liste der SPD für die Landtagswahl in Baden-Württemberg befindet. Ralf Gaßmann will daher wissen, wovon er redet, gibt es doch nach seinen Angaben mindestens “11.291 leere Wohnungen”, die  “wenig unsoziale Hausbesitzer” leerstehen lassen, und zwar “aus Gründen von Spekulation oder Wohlstand” und dies obwohl “Vermietern jede Wohnung aus den Händen gerissen” wird, wie Gaßmann auch wissen will.

Angesichts der intellektuellen Qualität der Beiträge derer, die sich berufen fühlen, für politische Ämter zu kandidieren, ist es wohl an der Zeit, das Konzept der politischen Kultur zu erweitern, denn Almond und Verba sind von einer Normalverteilung der Intelligenz auch unter Politikern und Repräsentanten des politischen Systems ausgegangen – eine kaum mehr haltbare Annahme in einem politischen System wie Deutschland, in dem nicht das Gehirn, sondern die Abneigung regiert, die Abneigung gegen “unsoziale Hausbesitzer”, die doch tatsächlich der Ansicht sind, das, was ihnen gehört, das gehört Ihnen, dessen Verwendung stehe ihnen frei.

WohnraumRalf Gaßmann, der sich nicht traut, den Begriff “asozial” zu verwenden, selbst dann nicht, wenn er “asozial” meint, trägt also die Prämisse mit sich herum, dass immer dann, wenn sich Eigentümer von etwas nicht in seinem Sinne sozial verhalten, im Moment sind es gerade Hauseigentümer, die sich nicht im Sinne Gaßmanns “sozial” verhalten, dass dann diese Eigentümer enteignet werden müssen, wegen “Unsozialität”. Unsozialität ist einer der Begriffe, die an die Stelle des Volksschädlings getreten sind und die die Möglichkeit lassen, so ziemlich alles, was einem nicht gefällt, als unsozial zu bezeichnen.

[Dass es nur “wenige unsoziale Hausbesitzer” sind, die “11.921 leere Wohnungen” zu verantworten haben, ist ein Euphemismus, der dem politischen Opportunismus von SPD-Listenplatzinhaber Ralf Gaßmann geschuldet ist. Da er gewählt werden will, kann er es sich nicht mit allen Hausbesitzern verscherzen und so kommt es, dass “wenige unsoziale Hausbesitzer” Hausbesitzer sind, denen 11.921 leere Wohnungen gehören. Offensichtlich gibt es in Stuttgart “wenige unsoziale Hausbesitzer”, die als Hobby viele leere Wohnungen sammeln.]

Dabei wirft die Gaßmannsche Hasspredigt und um eine solche handelt es sich, wenn mit dem Ziel der Herabsetzung und Verunglimpfung bestimmter Personen oder Personengruppen über diese Personen oder Personengruppen gesprochen wird, also über “unsoziale Hausbesitzer” zum Beispiel, einige Fragen auf, die wir Herrn Gaßmann stellen:

  • Wie spekuliert man als Hausbesitzer mit einer leerstehenden Wohnung, die laufende Kosten verursacht – also ein Zuschussgeschäft ist?
  • Wie kann man als Hausbesitzer aus einer leerstehenden Wohnung, die laufende Kosten verursacht, also ein Zuschussgeschäft ist, Wohlstand generieren?
  • Wie erklärt es sich Herr Gaßmann, dass 11.291 Wohnungen in Stuttgart leer stehen und dem Eigentümer laufende Kosten verursachen, wenn dem selben Eigentümer die Wohnung dann, wenn er sie zum Vermieten anbieten würde, aus den Händen gerissen würde?

Herr Gaßmann hat einen Listenplatz bei der SPD und ist Chef des Mietervereins Stuttgart, das ist doch ausreichend Qualifikation, um diese einfachen Fragen zu beantworten.

Ansonsten wird es die Hauseigentümer in Stuttgart freuen, dass niemand hinter ihnen herschnüffeln will – “Leerstandsschnüffler”, wie Jürgen Zeeb von den Freien Wählern die Angestellten der Stadt nennt, die sich dafür verkaufen wollen, um in anderer Leute Eigentum herumschnüffeln zu können, wird es nicht geben – so die in den Stuttgarter Nachrichten zitierte “Verwaltung”.

Nein, Leerstandsschnüffler gibt es nicht, es gibt Kontrolleure.
Kontrolleure werden nicht schnüffeln, nein, die Kontrollbesuche werden per Anmeldung erfolgen.
Und, naja, man will auf Internetportalen hinter leerstehenden Wohnungen, die als Ferienwohnungen angeboten werden, fahnden, nicht schnüffeln, und dann wird man die entsprechenden Hauseigentümer, deren Namen man nicht erschnüffelt, sondern aus dem Internet abgeschrieben und beim Grundbuchamt nachgefragt hat, anschreiben und um “eine Stellungnahme bitten”.
Das alles hat mit Schnüffeln nicht einmal entfernt etwas zu tun. Scließlich leben wir in einer Demokratie, und in Demokratien werden die Bürger nicht ausgeschnüffelt und sie werden dann, wenn sie sich nicht wohlverhalten, nicht enteignet – nicht einmal in Stuttgart. Nein, in einer Demokratie wird gefahndet und es werden Stellungnahmen “erbeten” und es werden Busgelder verhängt, für alle, die sich nicht wohlverhalten und ihr Eigentum so behandeln als sei es ihr Eigentum.

Nun, was denken die Leser von ScienceFiles, wie ist die politische Kultur in Deutschland am besten beschrieben, als Untertanenkultur oder als partizipative Kultur? Anders formuliert: Wo leben Sie denn eigentlich?

Wir bedanken uns bei einem Leser von ScienceFiles für den Hinweis auf den Beitrag in den Stuttgarter Nachrichten.

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