Von der schädlichen Leidenschaft, die vermeintliche Gier anderer zu beschreiben

Im neuen Leviathan ist ein Aufsatz mit dem Titel “Der Gefühlskapitalismus der Banken: Vom Ende der Gier als “ruhiger Leidenschaft” enthalten, für den Sighard Neckel verantwortlich zeichnet. Der Artikel setzt sich, oh Wunder, mit der 2008 beginnenden Finanzkrise auseinander und mutmaßt über das Verhalten von Bankern auf Grundlage einer seltsamen Mischung von Soziologie und populär-Neurowissenschaft. Aus der Soziologie entnimmt der Autor die Erkenntnis, dass Randbedingungen individuelles Handeln beeinflussen. Aus der Neurowissenschaft (die später im Artikel zur Neuroökonomie wird) stammt die Weisheit, dass die “Antizipation auf neue Gewinne … einen neuronalen Schaltkreis in Gang setzt” (Neckel, 2011, S.48), quasi ein neuronales perpetuum mobile, das den armen Banker nach immer neuen Wetten auf (hoffentlich) steigende Aktien suchen lässt. Dies erkennt die Neuroökonomie, die von Neckel für sich in Anspruch genommen wird, anhand von Verfärbungen im Gehirn wie sie unter kontrollierten Bedingungen und mit Hilfe der Computertomographie sichtbar gemacht werden können.

Die ganze Erkenntnis basiert also bislang auf der Annahme, dass Dinge, die ein Computertomograph sichtbar machen kann, eine benennbare externe Ursache haben. Quasi getrieben von einer Leidenschaft, die Tragfähigkeit dieser Grundlage auf Äußerste auszutesten, fügt ihr Neckel noch eine mindestens ebenso wackelige Bewertung hinzu: “Als eine Überfunktion [gemessen wurde bestenfalls eine Funktion, keine Überfunktion] des neuronalen Belohnungssystems umschließt die Symptomatik der Gier all jene Phänomene von Sucht, die der Gefräßigkeit ebenso eigen sind wie der Geldgier, dem Alkoholismus oder dem Drogenkonsum” (Neckel, 2011, S.48). In seiner unglaublichen Undifferenziertheit sagt dieser Satz schlicht und ergreifend aus, dass Investmentbanker (um die geht es in Neckels Text, wie man ganz zum Ende erfährt) krank sind, sie sind wie Kokainsüchtige, Junkies oder andere adicts.

Das sind sie jedoch nicht von sich aus, wie Neckel anfügt, sondern wegen des Finanzsystems. Das Finanzsystem ermöglich es den Investmentbankern, sich auszuleben. Also sind sie doch krank… Im verquasten Deutsch mancher Soziologen heißt das: “Die Flüchtigkeit seiner Identifikationsobjekte wirft den Spekulanten auf sich selbst zurück” (Neckel, 2011, S.49). Mittlerweile ist der Investmentbanker zum Spekulanten  geworden, der selbstreferentiell ist, was einfach nur heißt, dass er seine Befriedigung nicht von außen erhält, sondern aus sich heraus. Und da er, wie Neckel meint, krank ist, kann er nicht anders als immer weiter auf Aktien zu wetten, oder auf was auch immer, hauptsache, es verspricht eine dicke Rendite.

Wenn mich der Text bis hier ob seiner verquasten Sprache, die einzig dazu dient, die Plumpheit der Argumentation zu vernebeln, befremdet hat, dann haben die folgenden Sätze mich einfach nur ägerlich gemacht. So schreibt Neckel: “Gier ist eine Begleiterscheinung und das Nebenprodukt eines Wettbewerbs, der schließlich in einer Art Leerlauf übersteigerter Selbstreferenz nur noch davon negiert wird, die stets lauernde Chance auf den jeweils noch besseren Deal nicht zu verpassen” (Neckel, 2011, S.51).  Da Gier von Neckel wie oben zitiert als Selbstreferentialität definiert wurde, steht in diesem Satz also in Deutsch, dass der Wettbewerb daran schuld ist, dass aus Gier Gier wird. Das ist blanker Unsinn.

Nicht genug damit: einige Zeilen weiter weiß Neckel Folgendes: “…die “herrschende Wirtschaftswissenschaft behauptete mit ihrer vielfach preisgekrönten ‘Theorie effektiver Märkte”, die vollständige Rationalität der Preisbildung auf den Finanzmärkter nachweisen zu können” (Neckel, 2011, S.51). Es ist kaum möglich, seine absolute Ahnungslosigkeit in ökonomischen Theorien besser unter Beweis zu stellen als in diesem Satz. Die Theorie, die Neckel meint, ist eine Hypothese effizienter Märkte und wurde von Eugene Fama in den 1970er Jahren eingeführt. Die Hypothese behauptet, dass der Preis für z.B. eine Aktie alle Informationen enthält, die man über das Unternehmen, dessen Aktie man gerade kaufen will, benötigt – anders formuliert, dass der Markt dazu tendiert, die Aktie eines Unternehmens richtig zu bepreisen. Deshalb ist die Hypothese effizienter Märkte eine Hypothese, die einen idealtypischen Prozess beschreibt, denn der richtige Preis fällt nicht einfach vom Baum, er muss gefunden werden. Zuweilen gibt es Abweichungen vom richtigen Preis, die von Akteuren, die Neckel vermutlich mit Spekulanten meint (die man gemeinhin aber als Arbitrageure bezeichnet), ausgenutzt werden. In der Hypothese effizienter Märkte sind Arbitrageure wichtige Akteure, denn sie helfen dabei, den richtigen Preis herzustellen.

Wenn man so oft das Adjektiv “richtig” liest, dann könnte einem eigenlich (sofern man die Texte von Fama kennt) der Gedanke kommen, dass die Hypothese effizienter Märkte eine normative Hypothese ist, d.h. sie beschreibt einen Idealtypus im Max Weberschen Sinne, der in der Realität nicht vorkommt. Wer Aussagen darüber machen will, wie sich individuelle Akteure tatsächlich verhalten, braucht eine deskriptive Theorie, die an der individuellen Realität auch scheitern kann. Entsprechend bieten sich die Modelle der behavioristischen Ökonomie an, die Neckel natürlich nicht kennt, da er sein Wissen über Ökonomie, wie man der Literaturliste entnehmen kann, aus zwei Artikeln entnommen zu haben scheint, die Paul Krugman in der New York Times veröffentlicht hat.

Dass Neckel trotz seiner mangelhaften Kenntnis über das, was an Finanzmärkten passiert, sich berufen fühlte, dieses im Leviathan veröffentlichte Werk zu schreiben, kann man dann wohl nur mit einer “in einer Art Leerlauf übersteigerten Selbstreferenz” erklären, die ihre Befriedigung aus dem zu-Papier-Bringen ideologischen Unsinns nimmt …

Literatur

Fama, Eugene (1991). Efficient Capital Markets II. Journal of Finance 46(5): 1575-1617.
Fama, Eugene (1970). Efficient Capital Markets: A Review of Theory and Empirical Work. Journal of Finance 25: 383-417.
Neckel, Sighard (2011). Der Gefühlskapitalismus der Banken: Vom Ende der Gier als ‘ruhiger Leidenschaft’. Leviathan 39(1): 39-53.

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