Doppeltes Opfer – Arbeiter Märtyrer: gleiche Rentenbeiträge, kürzeres Leben

Dass man eine Korrelation zwischen dem Einkommen und der Lebenserwartung zeigen kann, ist unter Sozialwissenschaftlern seit langem bekannt: Mit einem geringeren Einkommen geht eine geringere Lebenserwartung einher. Je nach ideologischer Färbung wird das Ergebnis dann genutzt, um gegen „Bonzen“ zu Felde zu ziehen, die sich einem Mindestlohn widersetzen, um die Leistungen der gesetzlichen Krankenkasse zu beklagen oder um eine neue Anstrengung zu machen, um das Bildungsniveau der Bevölkerung zu heben. Wenig bekannt, jedenfalls wenig wissenschaftlich fundiert, ist dagegen, was die gemessene Korrelation zwischen Einkommen und Lebenserwartung eigentlich bedeutet. Ist ein geringes Einkommen das Ergebnis einer Reihe anderer Faktoren und somit nur mittelbar mit der geringeren Lebenserwartung verbunden, oder ist das geringere Einkommen ursächlich dafür, dass eine Reihe von lebenserhaltenden  Maßnahmen mangels finanzieller Mittel nicht getroffen werden können? Auf diese beiden Fragen lässt sich der Zusammenhang zwischen Einkommen und Lebenserwartung zuspitzen, und eine Untersuchung, die Martin Kroh, Hannes Neiss, Lars Kroll und Thomas Lampert mit den Daten des SOEP (Sozio-Ökonomisches Panel) durchgeführt haben, hat nun einige Antworten auf beide Fragen gegeben [Das SOEP ist ein Datensatz, der auf den Antworten individueller Befragter basiert, die im Zeitverlauf mehrfach befragt werden, so dass man Aussagen über Veränderungen machen kann.].

Die Untersuchung ist unter der Überschrift „Menschen mit hohem Einkommen leben länger“ im DIW-Wochenbericht veröffentlicht, und einer der ersten Aufschlüsse, den ein Leser des entsprechenden Beitrags gewinnt, ist: Die Überschrift ist wieder einmal politisch korrekt, denn: nicht Menschen mit hohem Einkommen leben länger, ist das eigentliche Ergebnis der Untersuchung, vielmehr gilt: Männer mit geringem Einkommen leben deutlich kürzer als Männer mit hohem Einkommen, und bei Frauen hat das Einkommen kaum einen Effekt auf die Lebenserwartung: „Männer aus armutsgefährdeten Haushalten [Das sind Haushalte, die weniger als 60% des Nettoäquivalenzeinkommens zur Verfügung haben. Derzeit beträgt das Nettoäquivalenzeinkommen im Jahr 18.856 Euro, d.h. wer 11.314 Euro pro Jahr und 942,80 Euro im Monat zur Verfügung hat, gilt in der Studie von Kroh et al. als „arm“] und solchen mit prekären Einkommen [Das sind Haushalte die zwischen 60% und 80% des Nettoäquivalenzeinkommens zur Verfügung haben] leben gemäß den SOEP-basierten Schätzungen durchschnittlich fünf Jahre weniger als Männer aus wohlhabenden Haushalten. … Bei Frauen sind die Unterschiede nach Einkommen weit weniger ausgeprägt“ (7).

Ich muss an dieser Stelle gleich eine methodische Kritik anbringen, die darauf basiert, dass Frauen derzeit eine um rund 5 Jahre höhere Lebenserwartung haben als Männer. Die von Kroh et al. durchgeführten Berechnungen berücksichtigen Personen, die heute 65 Jahre und älter sind, und somit eine Bevölkerungsgruppe, in der Frauen eine um gut drei Jahre höhere Lebenserwartung haben als Männer (dazu: Statistisches Bundesamt). Somit haben arme Männer, die im Vergleich zu wohlhabenden Männern durchschnittlich fünf Jahre früher sterben, eine um durchschnittlich acht Jahre geringere Lebenserwartung als arme Frauen, die um drei Jahre früher sterben als „wohlhabende“ Frauen, die wiederum eine um 11 Jahre höhere Lebenserwartung als arme Männer und eine um 6 Jahre höhere Lebenserwartung als wohlhabende Männer haben, während arme Frauen, durchschnittlich drei Jahre länger leben, als wohlhabende Männer. Diese Durchschnittswerte hätte man nach meiner Ansicht angeben müssen, um die Ergebnisse einzuordnen.

Aber gut, Kroh et al. geht es um eine Erklärung für den Zusammenhang zwischen Einkommen und Lebenserwartung und eine solche können sie, nach einem eher eklektizistischen par force Ritt durch die entsprechende Forschung auch angeben, jedenfalls für die fünf Jahre Unterschied in der Lebenserwartung von armen Männern im Vergleich zu wohlhabenden Männern. Die Erklärung hat im Wesentlichen zwei Komponenten:

  • das Niveau formaler Bildung: geringe formale Bildung, also z.B. ein Hauptschulabschluss wirkt sich negativ auf die Lebenserwartung aus.
  • das Niveau physischer Belastung im Beruf: je körperlich belastender der Arbeitsalltag von Männern ist, desto früher sterben sie.

Diese beiden Variablen, von denen man erwarten kann, dass sie miteinander zusammenhängen [denn eine höhere Bildung qualifiziert in der Regel zu einem Bürojob, während eine geringe Bildung zum Fließband, auf den Bau oder zur Müllabfuhr führt], erklären die geringere Lebenserwartung von Männern. Im Klartext bedeutet dies, dass Arbeiter (Achtung SPD und Gewerkschaften: das war einmal eure Klientel), die einen körperlich belastenden Beruf ausüben, eine geringere Lebenserwartung haben als der Rest der Bevölkerung.

Dieses Ergebnis wirft interessante Fragen im Hinblick auf die Gerechtigkeit z.B. des Rentensystems auf, denn die entsprechenden Arbeiter zahlen in der Mehrzahl der Fälle beginnend mit spätestens ihrem 17. Lebensjahr und bis zum erreichen des Rentenalters oder der Arbeitsunfähigkeit in die gesetzliche Rentenkasse ein, aus der sie dann im durchschnitt fünf Jahre kürzer Leistungen beziehen als andere Männer und um durchschnittlich acht Jahre kürzer als Frauen. Das konstituiert eine Ungerechtigkeit, und zwar bereits dann, wenn man davon ausgeht, dass alle, die aus der Rentenkasse entnehmen auch in die Rentenkasse eingezahlt haben, was nicht der Fall ist. Dass es ungerecht ist, arme Männer, die früher sterben, mit Frauen und wohlhabenden Männern gleich zu behandeln, ist auch beim DIW erkannt worden. Entsprechend findet sich im Interview mit Martin Kroh die folgende Passage aus Frage und Antwort:

Frage: „Wenn Geringverdiener eine niedrigere Lebenserwartung haben, beziehen sie auch eine kürzere Zeit Rente. Könnte diese geringere Lebenserwartung nicht auch bei den Berechnungen der Bezugshöhe berücksichtigt werden?“
Antwort Martin Kroh: „Eine Risikodifferenzierung der Leistungen widerspricht der Grundphilosophie der gesetzlichen Rentenversicherung.“

Was könnte noch einmal die „Grundphilosophie“ der gesetzlichen Rentenversicherung sein? Was auch immer es ist, es muss dem Equity-Prinzip widersprechen, nach dem die Auszahlung in einem entsprechenden Verhältnis zur Höhe der Einzahlung steht. Die Grundphilosophie sieht es also vor, dass Personen, die sterben noch bevor sich ihre jahrzehntelange Beitragszahlung für sie in auch nur der geringsten Weise gelohnt hat, Pech haben. Ihre Beiträge werden entsprechend und ohne eine Dankesbekundung für das frühe Ableben der armen Männer (keine Geringverdiener, wie die Frage nahelegt, sondern Arbeiter mit einem geringen Einkommen, das bei einer Rente von rund 900 Euro irgendwo in Richtung 2000 Euro brutto gelegen haben muss), etwa durch eine Inschrift auf dem Grabstein: Hier liegt ein Märtyrer, der sein Leben für die Rente anderer hingegeben hat oder so, an die wohlhabenden Männer und arme wie wohlhabende Frauen umverteilt, die davon all die Jahre leben, die sie durchschnittlich länger leben.

Man sieht, die Grundphilosophie der gesetzlichen Rentenversicherung ist eine Opferphilosophie, die von armen Männer, also von ungelernten, angelernten und Arbeitern, die in körperlich anstrengenden, aber schlecht bezahlten Berufen arbeiten, Opfer gleich im doppelten Sinne erwartet: Das erste Opfer besteht darin, Abzüge vom eigenen Einkommen zuzulassen, um damit eine Rentenkasse zu füllen, die ihnen kaum zu Gute kommt. Das zweite Opfer besteht darin, früh zu sterben, ohne der Rentenkasse auch nur einen Bruchteil der Beiträge zu entnehmen, die sie eingezahlt haben. Man sieht „die Gerechtigkeit“ hinter der Gleichbehandlung, und natürlich sind alle, die in ihrem Leben kaum einen Pfennig in die Rentenkasse eingezahlt haben, die Rentenansprüche erworben haben, weil sie sich fortgepflanzt haben und die die armen Arbeiter um Jahre, wenn nicht Jahrzehnte überleben, den armen Arbeitern für ihren Opferakt dankbar. Und diese Dankbarkeit würde man überflüssig machen, zahlte man den armen Arbeitern eine Rente, die über ihren erworbenen Rentenansprüchen liegt, und der Tatsache Rechnung trägt, dass die entsprechenden armen Arbeiter eine hohe Wahrscheinlichkeit haben, vor allen anderen Rentenbeziehern zu sterben – oder nicht? Also: kein Risikoausgleich für die armen Arbeiter-Märtyrer.

Es stellt sich  jedoch abschließend die Frage, warum ein Forscher wie Martin Kroh, der an der Produktion eines wissenschaftlichen Ergebnisses beteiligt ist, das eine erhebliche Ungerechtigkeit zu Tage fördert, denkt, er müsse sich hinter wolkigen Begriffen wie „Grundphilosophie der Rentenversicherung“ verstecken und damit den Status Quo der Ungerechtigkeit, die er gerade beschrieben hat, rechtfertigen – ich meine, warum forscht der Mann, wenn er seine Ergebnisse nach Veröffentlichung selbst für belanglos erklärt?

Kroh, Martin, Neiss, Hannes, Kroll, Lars & Lampert, Thomas (2012). Menschen mit hohem Einkommen leben länger. DIW-Wochenbericht 33: 3-15.

Bildnachweis:
JSDStat
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