Herz-Schmerz-Opus: Die ARD verfälscht munter Daten

Armut macht krankHeute findet sich auf Tagesschau.de ein Herz-Schmerz-Opus, in dem sich Sandra Stalinski über die fetten und diabetischen Armen auslässt. Die selbsternannte Reglementiererin der Armen wartet in ihrem Beitrag mit einer Reihe von Behauptungen, Daten und vermeintlichen Erkenntnissen auf, die allesamt eines gemeinsam haben: Sie sind falsch. Einmal mehr zeigt sich, dass Journalismus in Deutschland zum Betroffenheits-Fabulieren selbsternannter Möchtegern-Weltverbesserer geworden ist, einmal mehr zeigt sich, dass es derzeit in bestimmten Kreisen schick zu sein scheint, auf die fetten und rauchenden Unterschichtler zu schimpfen. Das ist natürlich meine deutliche Sprache, im Tagesschau.de geeigneten Deutsch heißt das: “Rauchen und Fettleibigkeit sind inzwischen ein Schichten und Bildungsproblem”, so wird Frank Ulrich Montgomery zitiert, der darüber hinaus alarmiert darüber sein soll, dass die “Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auseinander” gehe, was wie er woher auch immer weiß, dazu führen müsse, dass sich “die Gesundheitsprobleme” [Gesundheitsprobleme halt, arme Unterschichtler werden schon ein Gesundheitsproblem haben, das man vermarkten kann] verschärfen.

Fangen wir damit an, dass “Armut krank macht”, wie der unsinnige Titel des ARD-Beitrags behauptet. Nun ist Armut ein Zustand, der als Zustand nicht krank machen, also einen anderen Zustand herbeiführen kann. Man muss die unsinnige Überschrift also transferieren, etwa in: “Arme sind häufiger krank als Nicht-Arme” oder “Kranke sind häufiger arm als Nicht-Kranke”. Beide Aussagen sind voneinander verschieden, und beide Aussagen geben keine Kausalität an. Genau das behauptet aber die Überschrift: Armut sei kausal für Krankheit. Entsprechend war schon meine Operationalisierung ein Entgegenkommen, denn die im unlogischen Raum frei flottierende Autorin impliziert allen Ernstes, dass wer nicht arm ist, nicht krank werden kann, denn Armut macht krankt, nicht Nicht-Armut.

Da es Kranke gibt, die nicht arm sind, ist diese Aussage offenkundig falsch. Mehr noch: Sie stimmt nicht einmal für Arme, denn, wie das Statistische Bundesamt endgültig festgestellt hat:

„Armut ist eine Situation wirtschaftlichen Mangels, die verhindert, ein angemessenes Leben zu führen. Da das Wohlstandsniveau in Deutschland deutlich über dem physischen Existenzminimum liegt, werden in Deutschland und in der EU meist die ‚relative Armut‘ und die ‚Armutsgefährdung‘ betrachtet“ (Deckl, 2011, S.151). Mit anderen Worten, die Armut, von der Stalinski in der ARD fabuliert, gibt es in Deutschland wenn überhaupt, so nur in verschwindend geringem Ausmaß und weil dem so ist, die Armutsforschung aber einen Gegenstand benötigt, behilft man sich mit dem Konzept der „relativen Armut“. Relativ arm sind diejenigen, die weniger als „60% des mittleren Nettoäquivalenzeinkommens zur Verfügung haben“ (Deckl, 2011, S.151). Diese “relative Armut” ist der Gegenstand der “zahlreichen Studien” von denen Stalinski im ersten Absatz fabuliert, nicht absolute Armut wie Stalinski suggeriert.

Aber Stalinski beruft sich nicht auf die “zahlreichen Studien” zu relativer Armut: Um ihre unsinnge Behauptung zu stützen, dass nämlich Armut krank macht, missbraucht sie Daten aus der “Studie zur Gesundheit Erwachsener in Deutschland” (DEGS1), wobei interessanter Weise kein Beleg angegeben ist, damit niemand nachprüft, vermutlich. Hier zunächst, was Stalinski der “soeben veröffentlichten Studie des RKI [Robert Koch Institut] zum Thema [Armut macht krank]” entnommen haben will:

ARD Datenfaelschung“36,2% Prozent der Frauen mit niedrigem sozialen Status [sind] adipös, also fettleibig (Männer 28,8 Prozent), während es bei den Frauen mit höherem soziale Status nur 10,5 Prozent (Männer 15,5 Prozent) sind. Ähnlich verhält es sich bei Diabetes mellitus. 11,8 Prozent der sozial benachteiligten Frauen erkranken daran (Männer: 11 Prozent), während es bei den Frauen mit höherem sozialen Status nur 3,2 Prozent sind (Männer: 6,3 Prozent).” Weitere Ergebnisse finden sich in einer Tabelle, die ich hier als Abbildung eingefügt habe.

Wie gesagt, Frau Stalinski gibt die Quelle ihrer Erkenntnis, die entsprechende Veröffentlichung des RKI, der sie den Zusammenhang zwischen Armut und Krankheit entnommen haben will, nicht preis. Wer die Reihe DEGS1 des RKI kennt, weiß, dass sie eine Vielzahl von Einzelpublikationen enthält, so dass man das Fehlen eines konkreten Belegs im Beitrag von Frau Stalinski als bewusste Unterschlagung werten muss. Unter diesen Einzelpublikationen findet sich eine Publikation mit dem Titel “Sozioökonomischer Status und Gesundheit”, von T. Lampert et al. und im Bundesgesundheitsblatt 56 (Mai 2013) veröffentlicht. Und es ist auf Seite 816 dieser Publikation, dass die Suche nach dem Ursprung der Daten von Stalinski erfolgreich ist.

Zunächst zum Gegenstand. Aufmerksame Leser werden bemerkt haben, dass Lampert et al. ihren Beitrag mit “Sozioökonomischer Status …” überschrieben haben und eben nicht mit “Armut”. Sozioökonomischer Status oder SES wiederum ist aus Veröffentlichungen von WHO und OECD bestens bekannt und wird, wie Lampert et al. in ihrem Beitrag so deutlich schreiben, dass es selbst Frau Stalinski gelesen haben könnte, wie folgt berechnet:

Armut
Armut

“Der sozioökonomische Status wird in DEGS mithilfe eines Index erfasst … Der sog. SES-Index wird auf Basis von Informationen zur schulischen und beruflichen Bildung, zur beruflichen Stellung sowie zum Netto-Äquivalenzeinkommen als mehrdimensionaler Punktsummenscore berechnet. Dabei werden die 3 Ausgangsvariablen zunächst in metrische Skalen überführt, die Werte zwischen 1,0 und 7,0 annehmen können. Da die 3 Dimensionen mit dem gleichen Gewicht in die Berechnung des SES-Index eingehen, reicht der Wertebereich von 3,0 bis 21,0. Ausgehend von dem Index wird für die Analysen eine verteilungsbasierte Abgrenzung von 3 Statusgruppen vorgenommen, wobei die niedrige und hohe Statusgruppe jeweils 20% der Bevölkerung und die mittlere Statuusgruppe 60% der Bevölkerung umfasst” (815) [Hervorhebung von mir].

Es ist eine Eigenart dieser Berechnung, dass eine Hausfrau mit Abitur, die – weil auf Elterngeld und in der Ausbildung – unter 60% des Median-Einkommens liegt, zu den unteren 20% im SES-Index zählt, ebenso wie der Bundeswehrsoldat, der Hauptschulabschluss hat und knapp über der 60%-Grenze des Nettoäquivalenzeinkommens liegt. Auch Studenten, die von Bafög und Gelegenheitsjobs leben, haben eine gute Chance, sich in der niedrigen Kategorie von SES wiederzufinden. Kurz: Ein niedriger sozio-ökonomischer Status hat mit Armut überhaupt nichts zu tun. Man sollte von einer Journalistin erwarten können, dass sie in der Lage ist, diesen Unterschied zu erkennen bzw. erkennen zu wollen. Aber natürlich ist dazu eine Transferleistung vonnöten und wie die PISA-Studien gezeigt haben, hapert es mit Transferleistungen bei deutschen Schülern und offensichtlich, so muss man ergänzen, auch oder gerade bei Journalistinnen.

Nun zu den Daten, die belegen sollen, dass Armut krank macht. Ich bitte die Leser sich noch einmal die Tabelle anzusehen, in der von Frauen und Männern und von sozial benachteiligten Frauen und Männer die Rede ist. Es reicht, die Prozentwerte zum schlechten subjektiven Gesundheitszustand zu berücksichtigen. Dazu heißt es in der Publikation des RKI (Lampert et al., 2013):

“Nach den DEGS1-Daten schätzen 25,3% der 18- bis 79-jährigen Erwachsenen in Deutschland ihren allgemeinen Gesundheitszustand als “mittelmäßig”, “schlecht” oder “sehr schlecht” ein. Auf Frauen trifft dies mit 27,1% häufiger zu als auf Männer mit 23,4%.” Vermutlich sehen sie andere Prozentwerte in der Tabelle von Frau Stalinski – falsche! Denn: “Frauen mit niedrigem SES schätzen zu 43,5% ihren allgemeinen Gesundheitszustand als mittelmäßig bis sehr schlecht ein. In der mittleren und höheren Statusgruppe sind es 26,2% bzw. 11,8%. Bei Männern betragen die Vergleichswerte 36,7% in der niedrigen, 22,3 in der mittleren und 14,2 in der hohen Statusgruppe” (816).

Wie sich zeigt, werden auf Tagesschau.de entweder Daten mutwillig gefälscht oder es werden willkürlich irgendwelche Daten präsentiert, in der Erwartung, dass sie niemand nachprüft. So gibt es im Bericht des RKI keine Daten für “sozial benachteiligte” Männer oder Frauen, es gibt keine Daten für einen schlechten subjektiven Gesundheitszustand. Und die Werte, die in der Tabelle für Männer und Frauen angegeben werden, sind falsch, denn es handelt sich um die Werte für Männer und Frauen in der oberen 20%-SES-Gruppe.

Wer nun denkt, damit wäre die Verbreitung falscher Daten am Ende, der sei an das Zitat aus dem Bericht der ARD erinnert: “nur” 11,8% der sozial benachteiligten Frauen, so heißt es da, erkranten an Diabetes mellitus, nur 3,2 Prozent der Frauen mit hohem sozialen Status und die entsprechenden Zahlen für Männer sind 11 Prozent und 6,3%. Was nun steht im Original? Welche Ergebnisse haben die Forscher des RKI tatsächlich veröffentlicht:

“Die Lebensprävalenz für Diabetes mellitus liegt in der 18- bis 79-jährigen Bevölkerung bei 7,4%, wobei nur geringfügige Unterschiede zwischen Frauen und Männern bestehen (7,5% gegenüber 7,2%). Mit zunehmendem Alter steigt die Verbreitung von Diabetes mellitus deutlich an, bis auf 17,5% bei 65- bis 79-jährigen Frauen und 21,4% bei gleichaltrigen Männern”. Nun der vermeintlich von Stalinski zitierte Teil: “Von den Frauen mit niedrigem SES wurde bei 11,8% schon einmal Diabetes festgestellt. Die Vergleichswerte für Frauen mit mittlerem und hohem SES betragen 7,3% und 3,2%. Bei Männern lässt sich der Einfluss des sozioökonomischen Status an einer erhöhten Betroffenheit der niedrigen Statusgruppe festmachen. Die Prävalenz beträgt in dieser Gruppe 11,0%, während sie bei Männern mit mittlerem und hohem sozioökonomischen Status bei 6,1% bzw. 6,3% liegt” (816).

counterfeiterMan beachte, dass die zitierte Passage die Daten in einen Rahmen einordnet, der keine Unterschiede zwischen Männern und Frauen zeigt. Man beachte ferner, dass “soziale Benachteiligung” im Text des RKI nicht vorkommt. Beides entstammt der Phantasie von Frau Stalinski, die sich offensichtlich wünscht, dass Frauen stärker betroffen sind als Männer und es gerne sähe, würden Menschen aufgrund ihres sozioökonomischen Status benachteiligt. Außer Frau Stalinski wünscht sich das jedoch (hoffentlich) niemand, und deshalb beschreibt der soziale Status eine Lebenssituation (die sich ändern kann), er beschreibt einen gegenwärtigen Zustand und keine Handlung Dritter, die Inhaber des entsprechenden sozioökonomischen Status’ benachteiligen oder diskriminieren. Wie gesagt dies alles entspringt der erschreckenden Phantasie von Frau Stalinski.

So einfach ist Meinungsmache in Deutschland. Man stellt eine unsinnige Behauptung auf: Armut macht krank, zitiert dazu eine Person, die vielleicht als “kompetent” durchgeht, die etwas behauptet, was irgendwie unter das Rubrum “Armut macht krank” passt. z.B. weil ähnlich klingende Begriffe verwendet werden. Man sucht im nächsten Schritt Daten, die passen könnten, unterschlägt , dass die Daten nicht Armut sondern sozioökonomischen Status messen (oder versteht den Unterschied nicht), unterschlägt weiter, dass nicht “schlechter Gesundheitszustand”, sondern mittelmässig bis sehr schlechter Gesundheitszustand dargestellt wird, macht aus dem Zustand “niedriger SES” eben einmal “sozial benachteiligt” und schon ergibt sich ein veritabler Brei von Unsinn, der zwar nicht der Empirie entspricht, sondern schlicht fabuliert ist, aber der sich trefflich von denen nutzen lässt, die sowieso und ständig auf der Suche nach Munition für ihre ideologischen Schlachten sind.

Öffentliche Medien haben eine Sorgfaltspflicht. Falsche Informationen, Propaganda und ideologische Verfälschungen haben in Medien, die von Gebührenzahlern finanziert sind, keinen Platz, und entsprechend sollte sich die ARD schnellstens daran machen, diesen falschen Bericht richtig zu stellen und Frau Stalinski zu entlassen, denn wer dermaßen unbedarft ans Werk geht, vor dem muss die lesende Welt geschützt werden.

Ich habe meinerseits eine Email an das RKI geschrieben und eine Stellungnahme angefordert. Hier meine Email an den Präsidenten des RKI:

Sehr geehrter Herr Burger,
die heutige Ausgabe von Tagesschau.de enthält einen Text, in dem unter der Überschrift “Armut macht krank” Daten des RKI präsentiert werden. Nahezu alle präsentieren Daten sind falsch bzw. verfälscht, und es wird der Eindruck erweckt, das RKI werde von einer Anzahl methodisch illiterater Forscher bevölkert, die nicht wissen, was Sie erhoben und ausgwertet haben. Der Beitrag ist für das RKI in höchstem Maße rufschädigend, und ich halte es von daher für ratsam, wenn Sie eine Richtigstellung veranlassen.
Hier der ARD-Beitrag:
http://www.tagesschau.de/inland/armutgesundheit100.html
und hier meine Besprechung des ARD-Textes auf dem Wissenschaftsblog ScienceFiles:

Herz-Schmerz-Opus: Die ARD verfälscht munter Daten

P.S.

Man kann natürlich auch das RKI nicht ganz ungeschoren davon kommen lassen. Was die Forscher dazu verleitet hat, die Einschätzung der eigenen Gesundheit als “mittelmäßig” mit den Einschätzungen “schlecht” und “sehr schlecht” zu kombinieren, ist ein Frage, deren Antwort zu finden jedem selbst überlassen ist. Methodisch Versierte werden vermutlich vermuten, dass die Mittelkategorie (wie zumeist) “mittelmäßig” deutlich stärker besetzt ist als die beiden Extremkategorien, und falls dies der Fall sein sollte, haben die RKI-Forscher ihren Teil zur Irreführung der Öffentlichkeit beigetragen. Zudem verkaufen uns die Forscher eine Korrelation als Kausalität “Bei Männern lässt sich der Einfluss des sozioökonomischen Status an einer erhöhten Betroffenheit der niedrigen Statusgruppe festmachen.” Das ist ebenfalls ein massiver Verstoß gegen die wissenschaftliche Lauterkeit, aber ich befürchte, es ist heutzutage dem Fehlen einer Methodenausbildung an den meisten Universitäten anzulasten.

Deckl, Silvia (2011). Armutsgefährdung und soziale Ausgrenzung. In: Statistisches Bundesamt (Hrsg). Datenreport 2011 . Ein Sozialbericht für die Bundesrepublik Deutschland. Wiesbaden: Statistisches Bundesamt.

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