Wie geht Wissenschaft? Ein kleines Traktat

von Dr. habil. Heike Diefenbach und Michael Klein

Koenig“Jungens, das ist keine Soziologie”, hat René König einst gesagt. Auch wenn es zu diesem Ausspruch nur die anekdotische Beweiskraft gibt, wie sie Karl-Dieter Opp abzugeben vermag, so wollen wir mit diesem Ausspruch ein kleines Traktat darüber, wie Wissenschaft geht, einleiten, ein Traktat, das notwendig geworden ist, weil die Wissenschaft derzeit überschwemmt wird von wie-kommt-es-mir-vor-Betrachtungen und was-korreliert-womit-Auswertungen, von data-speak-to-me-Ansätzen, für die ein Jörg Blasius auf dem Soziologentag von Halle (1995) noch Gelächter erntete. So ungerecht ist die Welt. Damals saßen noch Soziologen im Auditorium, die eine Vorstellung davon hatten, was Soziologie als Wissenschaft ausmacht. Heute würde niemand mehr lachen, niemand mehr sagen: Junge, das ist keine Soziologie, das ist keine Wissenschaft.

Was aber ist Wissenschaft?

Wissenschaft ist eine Methode.

Karl Raimund Popper hat sich über Jahrzehnte gemüht, die Methode “Wissenschaft” in den Köpfen derer, die Wissenschaftler sein wollen, zu verankern.

Demnach ist die wissenschaftliche Methode eine Methode, die Theorien benutzt, um daraus Sätze abzuleiten, die wiederum eine entscheidende Eigenschaft aufweisen müssen: Sie müssen etwas über die Wirklichkeit aussagen, einen empirischen Gehalt haben und dementsprechend müssen sie sich als falsch erweisen können. Letzteres, die Forderung der Falsisifizierbarkeit, ist das Kritierum, das Wissenschaft von Metaphysik bei Karl Popper und von Ideologie bei uns unterscheidet.

Logik der ForschungAlles beginnt bei Popper wie bei uns und in der Wissenschaft als solcher mit einem Problem. Probleme wiederum fallen nicht vom Himmel. Nein, Probleme drängen sich dem Beobachter auf, haben etwas mit Aufmerksamkeit zu tun. So ist es uns vor Jahren als ein Problem aufgefallen, dass Jungen im deutschen Bildungssystem schlechter abschneiden als Mädchen, gemessen am Anteil der Jungen unter den Abiturienten und gemessen an ihrem Anteil unter denen, die ohne einen Schulabschluss bleiben.

Probleme sind somit der Ausgangspunkt von Wissenschaft. Probleme begründen die Fragestellung, in unserem Fall: Woran liegt es, dass Jungen im deutschen Bildungssystem schlechter abschneiden als Mädchen?

In letzter Zeit haben wir eine Reihe von “korrelativ angelegten Studien” auf ScienceFiles besprochen, die anders vorgegangen sind und die mit vermeintlichen Ergebnissen aufwarten, Ergebnissen wie: Je mehr Zeit Schüler in öffentlichen Verkehrsmitteln verbringen, desto schlechter ihre schulische Leistung oder: je größer das Verhältnis zwischen Gesichtsbreite und Gesichtshöhe, desto aggressiver, desto a-sozialer sind Männer.

Opp MethodologieMit diesen Ergebnissen ist nicht das Resultat von Wissenschaft beschrieben, sondern deren Anfang. Die Korrelation zwischen Verkehrsmitteln und schulischer Leistung an sich erklärt nichts. Vielmehr wirft Sie Fragen auf: Fragen wie: Warum soll sich die im Schulbus verbrachte Zeit auf die schulische Leistung auswirken? Mit dieser Frage, mit diesem Problem beginnt die Wissenschaft. Anders formuliert: Wissenschaft liegt nicht vor, wenn Personen, die sich an einer Institution der Wissenschaft herumdrücken, irgendwelche Ergebnisse interessant finden, dieselben veröffentlichen und quasi ein institutioneller Wissenschaftstransfer der Art stattfindet, was von einem Professor kommt, muss Wissenschaft sein. Dem ist nicht so. Vielmehr ist die Korrelation zwischen Schulbus-Zeit und schulischer Leistung das Problem. Warum sollte dieser Zusammenhang bestehen? Was haben wir da gemessen? Wie kann man diesen Zusammenhang erklären? Kann man ihn überhaupt erklären?

So lange diese Fragen nicht beantwortet sind, verharrt die Korrelation im Stadium des Problems, so lange ist das entsprechend “Ergebnis” nichts anderes als eine Beobachtung, deren wissenschaftliche Bedeutung ungeklärt ist. Um sich dies zu verdeutlichen, ein kleines Beispiel:

Wenn ein Astrologe behauptet, dass sich Sternzeichen auf die Lebenschancen auswirken und Charaktereigenschaften beeinflussen, dann hat diese Behauptung exakt den Stellenwert der Korrelation zwischen im Schulbus verbrachter Zeit und schulischer Leistung. Sie ist ein Explanadum, von dem man sich fragen muss, wie man es erklären kann.

In beiden Fällen müsste man sich entsprechend fragen, wie der behauptete Zusammenhang erklärt werden, wie er theoretisch unterfüttert werden kann. Für den Astrologen bedeutet dies ebenso wie für den Schulbusverweildauer-Effekt-Forscher, dass sie eine Theorie finden müssen, die die beiden Seiten ihres Explanandums miteinander zu verbinden in der Lage ist: Also: Der Zusammenhang zwischen Sternzeichen und Charaktereigenschaften ergibt sich, weil der Gott des Charakteres immer dann, wenn der Stier aktuell ist, Vernunft und immer dann, wenn die Waage aktuell ist, Unvernunft in menschliche Charaktere einfüllt. Oder: Der Zusammenhang zwischen im Schulbus verbrachter Zeit und schulischer Leistung kann darauf zurückgeführt werden, dass Kinder, die mehr Zeit im Schulbus verbringen, Platthintern entwickeln und entsprechend dem schulischen Unterricht nicht mehr mit dem selben Sitzfleisch folgen können, wie Kinder, die kürzer oder gar nicht im Schulbus gesessen haben.

conjectures refutationsBeide hier gemachten theoretischen Ableitungen stellen Hypothesen dar, die man testen muss. Sie erinnern sich an das Kriterium der Falsifizierbarkeit? Hier kommt es wieder ins Spiel. Ob sich eine Hypothese als wissenschaftliche Hypothese eignet, hängt an ihrer Operationalisierbarkeit. Offensichtlich gibt es Probleme, des Gottes des Charakters habhaft zu werden und darin liegt dann auch ein Grund, warum Astrologie keine Wissenschaft ist. Anders im zweiten Fall. Ob Kinder im Bus sich den Hintern so platt sitzen, dass dessen Beanspruchung durch Sitzen eine medizinische Indikation darstellt, ist feststellbar und entsprechend kann man prüfen, ob Schulbusitzen nicht nur zu einem platteren Hintern führt, sondern auch dazu, dass Sitzschmerzen oder ein Platthinternsyndrom im schulischen Alltag vorhanden und vor allem bei schlechten Schülern vorhanden ist.

Erst mit diesen beschriebenen Arbeitsschritten ist es möglich, ein wissenschaftliches Ergebnis vorzuweisen. Und deshalb sind induktive Aussagen, die auf willkürlichen Zusammenhängen basieren, keine Wissenschaft. Wissenschaft liegt erst dann vor, wenn sich die Forscher, die Korrelationen auffinden, dazu herablassen, die entsprechenden Korrelationen theoretisch zu unterfüttern und empirirsch zu prüfen.

Also:
Beobachtung oder Problem: Jungen haben Nachteile in der Schule.

Theorie:
Schulische Leistung wird durch Fähigkeiten, Fertigkeiten, Institutionen und Lehrer beeinflusst.

Hypothesen:
Die deutsche Gesellschaft ist eine geschlechtsgeile Gesellschaft, die vor der Leistung das Geschlecht des Leistenden berücksichtigt. Wenn das Geschlecht vor der Leistung berücksichtigt wird, dann schlägt sich dies z.B. darin nieder, dass Jungen trotz gleicher Leistungen wie Mädchen eine schlechtere Grundschulempfehlung erhalten.

In der deutschen Gesellschaft wird Geschlechtszugehörigkeit bewertet und eine traditionelle Männerrolle als negativ eine “moderne” oder, sagen wir: nicht traditionelle Männerrolle als positiv angesehen. Wenn Geschlecht eine Kategorie ist, die vor Leistung berücksichtigt wird und wenn es zudem der Fall ist, dass in der deutschen Gesellschaft nur bestimmte Formen der Ausgestaltung einer Männerrolle akzeptiert werden, dann haben Jungen eine höhere Wahrscheinlichkeit, schlechter bewertet zu werden als Mädchen.

Prüfung:
Beide Hypothesen sind empirisch prüfbar und auch empirisch geprüft worden. Die Hamburger Lau-Studien und die Berliner Element Studien haben gezeigt, dass Jungen trotz gleicher oder besserer Leistungen schlechtere Grundschulempfehlungen erhalten als Mädchen. Ein Blick in schulische Curricula und ein Blick in die Literatur zur Schulforschung zeigt, dass Jungen, die sich als traditionell männlich inszenieren, im deutschen Schulsystem nicht geduldet werden.

Damit ist in aller Kürze beschrieben, wie Wissenschaft geht, und warum nicht jede Behauptung, die sich als Ergebnis geriert, das Forscher in Daten gelesen haben, selbst dann, wenn sie von einem Wissenschaftler vorgebracht wird, Wissenschaft oder wissenschaftlich ist.

Folgen Sie uns auf Telegram.
Anregungen, Hinweise, Kontakt? -> Redaktion @ Sciencefiles.org
Wenn Ihnen gefällt, was Sie bei uns lesen, dann bitten wir Sie, uns zu unterstützen. ScienceFiles lebt weitgehend von Spenden. Helfen Sie uns, ScienceFiles auf eine solide finanzielle Basis zu stellen.
Wir haben drei sichere Spendenmöglichkeiten:

Donorbox

Unterstützen Sie ScienceFiles


Unsere eigene ScienceFiles-Spendenfunktion

Zum Spenden einfach klicken

Unser Spendenkonto bei Halifax:

ScienceFiles Spendenkonto: HALIFAX (Konto-Inhaber: Michael Klein):
  • IBAN: GB15 HLFX 1100 3311 0902 67
  • BIC: HLFXGB21B24

Print Friendly, PDF & Email
3 Comments

Bitte keine Beleidigungen, keine wilden Behauptungen und keine strafbaren Inhalte ... Wir glauben noch an die Vernunft!

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.

Liebe Leser,

gerade haben Sie uns dabei geholfen, eine Finanzierungslücke für das Jahr 2023 zu schließen, da ist das Jahr auch schon fast zuende.

Weihnachten naht.

Und mit Weihnachten das jährlich wiederkehrende Problem:
Ein Weihnachtsmann, der im Kamin stecken bleibt, weil er zu viel anliefern muss.

Vermeiden Sie dieses Jahr diese Kalamität.
Diversifizieren Sie Ihr Geschenkportfolio.

Z.B. indem Sie unsere Sorgen um die Finanzierung des nächsten Jahres mindern.

Unser Dank ist Ihnen gewiss!
Und Sie können sicher sein, dass Sie auch im nächsten Jahr ScienceFiles in gewohntem Umfang lesen können.

Wir nehmen Geschenke über 

➡️Donorbox,
➡️unser Spendenkonto bei Halifax oder
➡️unsere sichere in den Blog integrierte Spendenfunktion

entgegen und bedanken uns bereits im Vorfeld bei allen, die uns unterstützen.

Sie finden alle notwendigen Informationen hier:
ScienceFiles-Unterstützung (einfach klicken)

Vielen Dank!