In der Schweiz, an der ETH-Zürich, gehen die Uhren offensichtlich anders, rückwärts, wie man meinen könnte, wenn man das liest, was Matjaz Perc, Karsten Donnay und Dirk Helbing gerade unter dem Titel “Understanding Recurrent Crime as System-Immanent Collective Behavior” veröffentlicht haben.
Wie der Titel bereits sagt, geht es um Kriminalität, die Erklärung von Kriminalität und, letztlich, die Verhinderung von Kriminalität. Insofern hat mich das Paper schon aufgrund meiner kriminologischen (!sic) Vergangenheit interessiert, und es hat mich massiv enttäuscht. Doch der Reihe nach.
Perc, Donnay und Helbing gehören zu denjenigen, die den Schattenfechter-Ansatz der Wissenschaft praktizieren. Der Schattenfechter-Ansatz funktioniert recht einfach: Man baut einen Feind auf, erzählt seinen Leser auf Grundlage dieses eigenen Feindbildes, wie dumm die Forscher, die einem vorausgegangen sind, doch alle waren und präsentiert dann die eigenen Ergebnisse als Stein der Weisen, der in plain sight zu finden war, aber von niemandem bislang gesehen wurde.
Im vorliegenden Fall kämpfen die Autoren gegen einen Feind, den sie als rational-choice Theorie entlarvt haben. Diese rational choice Theory, geht nach Meinung der Autoren davon aus, dass man Kriminalität dann, wenn man nur Strafen aussetzt, die hoch genug sind, verhindern könnte. Und wie immer, wenn man von einer Position ausgeht, die niemand eingenommen hat, kann man große historische Wahrheiten auffahren, um den aufgebauten, eigenen Schatten zu bekämpfen: “Yet for thousands of years and regardless of how strong sanctions are, they fail to prevent crime” (1). Wie dumm doch all die Kriminologen vor Perc, Donnay und Helbing waren, die angeblich noch dachten, man könne Kriminelle durch die Höhe von Strafen davon abhalten, eine Straftat zu begehen.
Nur als kleiner Einschub, bereits Cesare Beccaria, mit dem die klassische Schule der Kriminologie beginnt (Mitte des 18. Jahrhunderts) hat Abschreckung nicht nur auf die Höhe der Strafe, sondern auch auf die Wahrscheinlichkeit, überhaupt bestraft zu werden, bezogen. Das klingt so trivial und dennoch kommt es den Neuentdeckern der ETH Zürich nicht in den Sinn. Sicher wird jeder, der davon ausgehend kann, zu 100% mit dem Tod bestraft zu werden, davon absehen, Steuergelder zu veruntreuen. Das Problem beginnt da, wo man nicht gewährleisten kann, dass die Bestrafung mit 100%iger Sicherheit auch eintritt, was wiederum eine Frage der Entdeckungswahrscheinlichkeit ist.
Zurück zu den Schweizern und ihren Übungen in Schattenfechten. Seit Computersimulationen auf uns gekommen sind, und seit die entsprechenden Simulationen nicht nur von Klimaforschern, sondern auch von Sozialwissenschaftlern genutzt werden, frage ich mich regelmäßig, ob man den Zugang zu Computersimulationen nur denen gestatten sollte, die fundierte Kenntnisse über den Bereich, den sie simulieren wollen, nachgewiesen haben. Man würde sich manches ersparen, z.B. das “Spatial Inspection Game … on a fully occupied L x L square lattice” (2), das simulierte Akteure mit einander in einem räumlichen Bereich und direkt interagieren und Kriminelle, Gesetzeshüter und “honest people” aufeinander treffen sieht. Sie treffen nicht nur aufeinander, nein, sie interagieren auch miteinander und sie tun dies unter zwei “Spielregeln”: Das Hüten von Gesetzen ist kostspielig, und die Interaktion wird zur Imitiation von Verhaltensweisen, wenn sich das zu imitierende Verhalten als lohnend erweist. Und siehe da, die Grundlagen zur Entdeckung des Rades sind gelegt:
“In particular it is important to recognize, that crime is not simply the result of activities of criminals. It should be rather viewed as result of social interaction of people with different behaviors, the collective dynamics resulting from such interactions…, and the spatiotemporal social context they create. … The social environment seems to be quite important for the emergence/occurrence of crime … In other words, crime may not be well understood just assuming a “criminal nature” of particular individuals … Our results suggest that changing the social context and conditions may be able to make a significant contribution to the reduction of crime” (6).
Juchheisa, so möchte man rufen, das Rätsel von Kriminalität, so es denn jemals eines war, ist gelöst: Die Nachbarn sind schuld, und wenn wir die Nachbarn kontrollieren und uns kontrollieren und alle kontrollieren, dann hat es ein Ende, mit der Kriminalität. Das also ist das “neue” Ergebnis, das der “neue” Ansatz von Perc, Donnay und Helbing erbracht hat. Erstaunlich und erschütternd zugleich, denn wir waren in der Kriminologie schon weiter. Ich will jetzt gar nicht auf all die Ansätze eingehen, die Trevor Hirschi und Michael Gottfredson, Ronald Clarke und Derek Cornish und wie sie alle heißen, über die letzten Jahrzehnte in die Kriminologie eingebracht haben. Nein, ich will das Wort einigen Altmeistern der Kriminologie überlassen, zünächst Siegfried Lamnek und seiner Darstellung der Arbeit von Beccaria:
“Zu dieser Zeit erschien BECCARIA’s sehr einflussreiches Werk (1764), das die wesentlichen Grundsätze der klassischen Auffassung vorstellte, …. Als wesentliche Grundsätze der klassischen Schule wurde in dieser Schrift niedergelegt, dass im Wechselspiel zwischen Individuum und Gesellschaft Kriminalität entsteht, dass insoweit das Schwergewicht der Analyse nicht unmittelbar bei dem Täter, sondern eher bei der Tat angesiedelt ist und daß jedermman von abweichendem Verhalten betroffen werden kann” (Lamnek, 1993, S.57).
Nichts kann also (1) so klassisch sein, als dass es nicht an der ETH-Zürich “neu” entdeckt werden kann. Und (2) war Beccaria 1764 deutlich weiter als die Züricher Neuentdecker, denn ihm war klar, dass Kriminalität etwas Menschengemachtes ist, etwas, das als Verstoß gegen menschengemachte Regelen eben diese menschengemachten Regeln voraussetzt, was Beccaria wiederum zu der Frage gebracht hat, warum bestimmte Verhaltensweise kriminalisiert werden, andere dagegen nicht. Auf diese Frage werden die Züricher vermutlich in 10 Jahren stoßen – wenn überhaupt.
Und das abschließend Wort zum atemberaubend neuen Ergebnis, das Perc, Donnay und Helbing veröffentlicht haben und das darin besteht, dass Kriminalität durch Imitation dann weitergegeben wird, wenn sie im Umfeld bereits in hohem Maße vorhanden ist, will ich dem Vater der US-amerikanischen Kriminologie, Edwin H. Sutherland, überlassen, der Folgendes in den 1940er Jahren geschrieben hat:
Nach Sutherland wird sich ein Akteur dann delinquent verhalten, wenn ein Übergewicht „of definitions favorable to the violation of the law over definitions unfavorable to the violation of the law“ gegeben ist: „When persons become criminal, they do so because of contact with criminial patterns and also because of isolation from anti-criminal patterns“ (Sutherland, 1941, p.5).
Je mehr Deutungsmuster, so würde man heute wohl sagen, im Umfeld eines Akteurs vorhanden sind, die delinquentes Verhalten zum Gegenstand haben, je normaler delinquentes Verhalten im Umfeld des Akteurs zu sein scheint, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass sich dieser Akteur selbst delinquent verhält. Zu diesem Ergebnis ist Edwin H. Sutherland vermutlich mit Papier, Bleistift und unter Einsatz seiner grauen Zellen gelangt, ganz ohne Computersimulation also.
Aber es ist immerhin erfreulich, dass die Entdeckung neuer Zusammenhänge in der Kriminologie der Schweiz mittlerweile das 18. Jahrhundert und die Ideen von Beccaria verarbeitet zu haben scheint und in den 1940er Jahren angekommen ist. Wir dürfen uns entsprechend auf die Neu-Entdeckung der Kontrolltheorie, des labeling approach oder des broken windows approach an der ETH Zürich und durch eine Computersimulation freuen, vermutlich in rund 20 Jahren.
Sutherland, Edwin H. (1941). Principles of Criminology. Chicago: Lippincott.
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Nicht wirklich verwunderlich, da scheinbar kein ausgebildeter Soziologe an der Arbeit beteiligt war, auschließlich Physiker. Ich frage mich ob man in Zukunft öfter Arbeiten finden wird bei denen Interdisziplinarität und Fachfremdheit verwechselt werden.
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