Die soziale Konstruktion sozialer Probleme und die Entnormalisierung von Meinungsvielfalt durch Soziologen

von Dr. habil. Heike Diefenbach

Der folgende Text von Dr. habil. Heike Diefenbach ist eine Form unentgeltlicher Nachhilfe für die Initiatoren einer ad-hoc Gruppe auf dem 37. Soziologentag der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (DGS) in Trier im Oktober diesen Jahres. Der mit: "Genderismus - Der Umbau der Gesellschaft. Annäherung an einen aktuellen Krisendiskurs" überschriebene Antragstext ist ein Mahnmal für den derzeitigen Zustand der Soziologie. Wer, wenn nicht Dr. habil. Heike Diefenbach, die im Gegensatz zu vielen, die soziologische Lehrstühle besetzen, eine uneingeschränkte Venia Legendi für Soziologie hat, nur keine Lust, ihre vielen Talente an den deutschen Staat zu verkaufen, wäre besser dazu geeignet, den soziologischen Dilet-Tanten Nachhilfe in Soziologie zu geben?

GarfinkelBereits seit den 1970er- und 1980er-Jahren, in denen Autoren wie Erving Goffman (1990) und Harold Garfinkel (1996, besonders S. 35-75) durch Fallstudien und Erschütterungsexperimente demonstriert haben, dass Normalität eine fragile Sache ist, die hergestellt und aufrechterhalten werden muss und sich keineswegs von selbst aufdrängt, gilt es als eine Binsenweisheit in der Soziologie und in ihren benachbarten und mit ihr verbundenen Fachdisziplinen (wie z.B. Soziale Arbeit), dass Normalität sinnvoll nur als statistische Normalität verstanden werden kann oder genauer: als Modalwert auf einer Verteilung, während jedes Verständnis von Normalität als Soll- oder Muss-Norm für menschliches Verhalten, d.h. als konventionelles Verhalten, unweigerlich zu den Fragen führt, wer die Norm aus welchem Interesse setzt, wer ihr mit welchem Gewinn zu folgen bereit ist und wer durch die Normsetzung als Abweichler gebrandmarkt und ggf. negativ diskriminiert werden soll oder kann (vgl. hierzu Foucault 2004; 2003 sowie Taylor 2009; mit Bezug auf Normalisierungsprozesse in fachwissenschaftlichen Disziplinen: Luke 1999).

Im Zuge dieser Ausweisung von tatsächlichen oder vermeintlichen Selbstverständlichkeiten als eben nicht selbstverständlich fand auch das naive Verständnis von sozialen Problemen als objektiv beschreibbaren Mißständen ein Ende, denn

Mooney_Understanding social problems“[i]ndividuals and groups frequently disagree about what constitutes a social problem. For example, some Americans view the availability of abortion as a social problem, whereas others view restrictions on abortion as a social problem. Similarly, some Americans view homosexuality as a social problem, whereas others view prejudice and discrimination against homosexuals as a social problem. Such variations in what is considered a social problem are due to differences in values, beliefs, and life experiences” (Mooney, Knox & Schacht 2013: 3).

Dementsprechend könnte man eine soziologische Definition von “sozialen Problemen” vorschlagen, die wie folgt lautet: Soziale Probleme sind das, was bestimmte Gruppen von Menschen dafür halten. Allerdings ist dies aus verschiedenen Gründen wenig hilfreich, vor allem deshalb, weil diese Definition zu einer völligen Entleerung des Begriffs durch Inflationierung führen würde: fast alles dürfte irgendwann von irgendjemandem als soziales Problem gewertet werden. Damit wäre der Begriff für Ideologien aller Art zwar nützlicher denn je, aber für Sozialwissenschaftler gänzlich unbrauchbar.

Brauchbar für Sozialwissenschaftler ist ein Konzept nämlich nur dann, wenn es mehr ist als eine intellektuell klingende Metapher und ihnen irgendwelche Aufschlüsse über die Funktionsweise der sozialen Welt gibt, und diese wird gewöhnlich nicht durch die Betrachtung irgendwelcher Inhalte – die z.B. als soziale Probleme gelten mögen oder auch nicht – erkennbar, sondern durch eine Betrachtung von Formen, z.B. von Regelmäßigkeiten, nach denen sich bestimmte Prozesse vollziehen (in diesem Zusammenhang ist Hackings Diskussion von Idee und Begriff der sozialen Konstruktion nützlich: Hacking 2001).

Aus dieser Erkenntnis heraus haben Spector und Kitsuse ihre Auffassung davon, was soziale Probleme seien, bereits im Jahr 1977 wie folgt beschrieben:

Constructing Social problems“Our definiton of social problems focuses on the process by which members of society define a putative condition as a social problem. Thus we define social problems as the activities of individuals or groups making assertions of grievances and claims with respect to some putative conditions” (Spector & Kitsuse 1977: 75; Hervorhebung im Original).

Auch in Deutschland sind diese Erkenntnisse angekommen wie z.B. die Definition von Andreas Pfeuffer zeigt, die im online-Wörterbuch der Sozialpolitik SOCIALinfo zu lesen ist:

“Als Konstruktion sozialer Probleme bezeichnet man den Prozess, im Zuge dessen Umstände oder Ereignisse, die bestimmte Gruppen oder ganze Gesellschaften in ihrer Lebenssituation beeinträchtigen (etwa Armut, Kriminalität, Gewalt, Drogenkonsum, Umweltprobleme), in der Öffentlichkeit bzw. in Teilen derselben kollektiv als veränderungsbedürftig definiert, skandalisiert und zum Gegenstand politischer Programme und Maßnahmen gemacht werden.
Blumer (1975) schlägt zur Beschreibung des Konstitutionsprozesses sozialer Probleme ein fünfstufiges Modell vor, das folgende Phasen umfasst: 1. das Auftauchen des sozialen Problems bzw. seine Wahrnehmung und Benennung; 2. die öffentliche Anerkennung (Legitimierung) als soziales Problem; 3. die Mobilisierung von Handlungsstrategien in politischen Auseinandersetzungen; 4. die Erstellung eines offiziellen Handlungsplanes zur Regulierung des Problems; 5. die Transformation dieses Handlungsplans in seiner tatsächlichen Ausführung.
Dass soziale Probleme einer kollektiven Definition unterliegen, das heißt, dass ihre Konstitution als Prozess kollektiven Handelns aufgefasst wird, darüber besteht in der Forschung Konsens. Strittig hingegen ist, ob diese Definitionen auf konkrete gesellschaftliche Bedingungen aufbauen, was dann die Untersuchung der Bedingungen ihrer Wahrnehmung erfordert, oder ob sie unabhängig davon sozial konstruiert werden, was impliziert, dass ihnen kein anderer Sinn zukommt als der ihnen von den Gesellschaftsmitgliedern in interaktiven Prozessen zugeschriebene …”.

Aber sie sind offensichtlich nicht bei all denen, die die deutschsprachige Sozialwissenschaft bestücken, angekommen. So liest man im “Grundkurs Soziologie” von Hans Peter Henecka, der im Jahr 2009 erschienen ist, dass

“[e]in soziales oder gesellschaftliches Problem […] meist dann vor[liege], wenn eine Diskrepanz (Widerspruch) zwischen den gesellschaftlichen Normen und Zielvorstellungen und dem tatsächlichen Verhalten der Menschen besteht (z.B. im Falle von Devianz und Kriminalität) oder wenn eine unvorhergesehene oder unvorhersehbare Situation eintritt, die in der Gesellschaftsordnung (noch) nicht geregelt ist (wie beispielsweise Massenarbeitslosigkeit in Deutschland und gleichzeitige Verlagerung von Arbeitsplätzen durch inländische Unternehmen in Billiglohnländer)” (Henecka 2009: 29).

Während für Henecka ein soziales Problem also dann besteht, wenn Menschen sich nicht hinreichend stark an normative Vorgaben halten oder jemand einen Regelungsbedarf sieht, dem noch nicht abgeholfen ist, und Henecka sich ansonsten vollständig darüber ausschweigt, wer mit welchem Recht normative Vorhaben macht oder Regelungsbedarf einfordert, würden Spector und Kitsuse genau diese Fragen stellen, also fragen, wer wie und warum bestimmte Umstände als Mißstände auszuweisen und ggf. Regelungen, die für andere bindend sein sollen, herbeizuführen versucht.

The battered womanDer grundlegende Unterschied in der Sicht auf das Konstrukt “soziale Probleme”, der durch die Definitionen von Henecka einerseits und Spector und Kitsuse andererseits illustriert wird, hat erhebliche Auswirkungen auf das, was Soziologen meinen, als Erklärungsproblem formulieren oder hinterfragen zu müssen. So ist in der englischsprachigen sozialwissenschaftlichen Welt prinzipiell kein Inhalt davor sicher, daraufhin untersucht zu werden, wie er als soziales Problem gerahmt wird und in wessen Interesse das ist, auch dann nicht, wenn es sich um einen ideologisch stark aufgeladenen Inhalt handelt, der im Übrigen auf der Agenda der derzeit herrschenden politischen Ideologie steht. Beispiele hierfür bieten die Arbeiten von Ronald Weitzer (2007) über “The Social Construction of Sex Trafficking: Ideology and Institutionalization of a Moral Crusade” und von Donileen R. Loseke (1992) über “The Battered Woman and Shelters: The Social Construction of Wife Abuse”, die gleichermaßen nicht nur den Konstruktionscharakter der in Frage stehenden Phänomene aufzeigen, sondern auch die Instrumentalität der Konstruktionen.

Eine solche kritische Haltung gegenüber sozialen Phänomenen ist die Voraussetzung dafür, dass überhaupt Sozialwissenschaft betrieben werden kann und ist letztlich neben dem Kriterium der verwendeten Methodologie das Kriterium, das Sozialwissenschaft von Sozialagitation und Ideologie unterscheidet. Und wenn man in die Texterzeugnisse derer schaut, die die deutschsprachige Sozialwissenschaft derzeit bestücken, dann hat man den Eindruck, dass tatsächlich ein starkes Bewusstsein für die Notwendigkeit von Reflexionsprozessen vorhanden ist. Gleichzeitig scheint sich die allerorts betonte und geforderte Reflexion aber so gut wie nie auf die Form der Selbstreflexion zu erstrecken, die einen interessanten Einblick darein geben könnte, wie sich Sozialwissenschaftler als Konstrukteure sozialer Probleme gerieren.

Ein sehr deutliches Beispiel hierfür bietet der Antrag, den Paula-Irene Villa von der LMU München und Sabine Hark von der TU Berlin auf Genehmigung einer ad hoc-Gruppe auf dem DGS-Kongress im Oktober 2014 gestellt haben und der den Titel trägt: “Genderismus – Der Umbau der Gesellschaft. Soziologische Annäherung an einen aktuellen Krisendiskurs”.

Goffman StigmaBehauptet wird von den Autorinnen die Existenz eines “Krisendiskurses”, in dessen Mittelpunkt “Sexualität und Geschlecht” stünden und dass der Genderismus als “hoch-gefährliche Ideologie und ‘staatlich verordnete[s] Umerziehungsprogramm’ im Zentrum jener Krisendiskurse [die inzwischen im Plural und nicht mehr wie zu Anfang des Textes im Singular konstatiert werden]” stünde. An dieses von den Autorinnen vorgestellte Szenario schließen sie die These an, nach der sich in den von ihnen behaupteten Krisendiskursen “womöglich nicht nur Unsicherheiten und Abwehrreaktionen gegenüber gesellschaftlichen Emanzipations- und Reflexivierungs[!]prozessen artikulieren, sondern vor allem die erneute “Befestigung der heteronormativen Geschlechterordnung auf der Agenda steht”. Wie sie eine solche These aus von ihnen konstatierten Krisendiskursen über “Tugendterror”, “repressive ‘Political Correctness'” u.ä. ableiten, bleibt ihr Geheimnis und für den uneingeweihten Leser unnachvollziehbar. Jedenfalls schließen sich für die Autorinnen an das von ihnen entworfene Szenario
“eine Reihe von Fragen an: Auf welche als ‘Problem’ definierten gesellschaftlichen Dynamiken antwortet der Krisendiskurs des (Anti-)Genderismus? Weshalb und wie genau stehen ausgerechnet Sexualität und Geschlecht im Mittelpunkt eines breiteren […] und breit anschlussfähigen (Krisen-)Diskurses, der sich anti-etatistisch und vordergründig [!] liberal/libertär geriert (etwa in den Unterstellungen [!] gegenüber der EU oder der ‘Denk- und Sprachverbote’ durch Medien) und dabei u.U. zentrale Institutionen des demokratischen Rechtsstaats anzweifelt?”

Während die Autorinnen für sich bzw. ihre ad hoc-Gruppe eine “forschungsbasierte soziologische Reflexion zu einem europaweiten Krisendiskurs” in Anspruch nehmen wollen, scheitern sie an der Selbstreflexion im Vorfeld vollständig, obwohl eine solche äußerst aufschlussreich hätte sein können: Sie scheinen sich nämlich in keiner Weise bewusst zu sein, dass sie mittels ihrer Themen- und Ausdruckswahl ein soziales Problem (mit)konstruieren, das bereits seit einiger Zeit durch Positionsinhaber in der öffentlichen Verwaltung zu konstruieren versucht wird, um Kritik am von ihnen favorisierten, aber (zumindest auf der Ebene der EU) in keiner Weise demokratisch legitimierten Gesellschaftsentwurf, wie er beispielhaft im Genderismus zum Ausdruck kommt, zu delegitimieren, nämlich die massenhafte Existenz von Menschen mit so genannten rechten Einstellungen, die in der Empirie zwar nicht existiert, aber zu konstruieren versucht wird, indem alle möglichen Weltanschauungen, Argumentationen, Meinungen, Überzeugungen und Äußerungen ein- und zusammengeklammert werden, die nur eine einzige Gemeinsamkeit haben, nämlich von Vertretern des Genderismus als anti-genderistisch eingeordnet zu werden. Nur vor diesem – im Text der Autorinnen implizit gebliebenen – Hintergrund und des in ihm verankerten Bedrohungsdiskurses innerhalb der Gruppe der Genderisten ist nachvollziehbar, wie die Autorinnen zu ihrer These von der “erneute[n] Befestigung heteronormativer Geschlechterordnung” kommen, konstruieren die Genderisten die heteronormative Geschlechterordnung doch unablässig selbst mit, um einen benennbaren Feind zu haben, gegen den sich der Genderismus richten kann.

Dies alles würde ihnen vielleicht bewusst, wenn sie statt andere Menschen als Andere zu konstruieren und ihnen Motive zu unterstellen, die die Genderisten mit einem sozialen Problem versorgen könnten, selbstreflexiv tätig würden. Aber dass Reflexivität mit dem Nachdenken über das eigene Tun und die eigenen Motive beginnt, ist ihnen entweder unbekannt oder zu unangenehm, um es zu praktizieren, denn die Trennung von Wir (Genderisten und anderen guten Menschen, die zumindest keine Kritik an ihm üben) und den Anderen, d.h. den Kritikern des Genderismus, die von den Autorinnen zu einer homogenen Masse verschmolzen werden und die in den Augen der Autorinnen z.B. bloß “vordergrüngig [aber keinesfalls tatsächlich] liberal” sein können, diese Trennung, die keine Grautöne zulässt, sondern nur Schwarz und Weiß kennt, steht im Zentrum der Konstruktion eines Bedrohungsszenarios, für das das diskursive Phantasma einer Masse von Unsicheren und in Abwehrreaktionen von “Emanzipations- und Reflexivierungsprozessen” Befindlichen ersonnen wurde.

Dieses diskursive Phantasma spricht allen Bürgern, die nicht derselben Auffassung sind wie die Autorinnen bzw. Genderisten jegliche Kompetenz ab, sich eigene Urteile zu bilden, und verkehrt außerdem die Bemühungen von Bürgern um Emanzipation von den Vorgaben des Genderismus aufgrund eigener Reflexionen in Emanzipations- und Reflexionsunwilligkeit. Emanzipation und Reflexion sind für die Autorinnen bzw. Genderisten als Begriffe und Ideen nämlich exklusiv für das eigene Gedankengut reserviert. Sie verfügen also über keine formale Definition dieser Begriffe und Ideen, was bei Sozialwissenschaftlern – in britischer Untertreibung formuliert – als beklagenswerter Zustand bezeichnet werden muss.

Diese Strategie der sprachlichen Verkehrung von Emanzipationsbestrebungen in Emanzipationsabwehr hat immerhin den Vorteil, Genderisten von der Begründung ihrer Position scheinbar (und nur bis auf Weiteres) zu entheben und es ihnen zu ermöglichen, sich statt dessen der Diskreditierung ihrer Kritiker zu widmen. Und diese Diskreditierung ist anscheinend das Grundanliegen im Antrag der Autorinnen auf Genehmigung der ad hoc-Gruppe; anders lässt sich kaum verstehen, warum Kritiker von ihnen uneingeschränkt als nur “vordergründig” liberal bezeichnet werden, Kritik an der EU als “Unterstellungen” und Kritik an einseitiger Berichterstattung und Zensur in den Medien als “‘Denk- und Sprechverbote'”.

Klemperer LTIAnders lässt sich auch kaum nachvollziehen, warum die Probleme, von denen die Autorinnen behaupten, dass Kritiker des Genderismus sie sehen würden, von den Autorinnen in Anführungszeichen gesetzt werden: es soll kundgetan werden, dass es sich nicht wirklich um Probleme handelt – wirkliche soziale Probleme definieren nur die Autorinnen, sonst niemand! Die Verwendung des “ironischen Anführungszeichens”, das “[…] Zweifel in die Wahrheit des Zitierten [setzt]”, hat übrigens der Philologe Victor Klemperer als Charakteristikum der LTI, d.h. der Sprache des Dritten Reiches, der “Neutralität … zuwider ist” identifiziert (Klemperer 2007: 99). Man kann (und vieleicht: muss) sich fragen, ob die neuerdings wieder auffällig häufige Verwendung des ironischen Anführungszeichens in den Medien, aber auch in Texterzeugnissen, die Anspruch auf Wissenschaftlichkeit erheben, Ausdruck einer totalitären Geisteshaltung ist, die der Sprache des Dritten Reiches zugrunde lag. Kaum anders als durch die Absicht, Kritiker des Genderismus zu diskreditieren, kann auch erklärt werden, dass die Autorinnen es als eine Art Verfehlung dauerhaft Uneinsichtiger auslegen, wenn diese “zentrale Institutionen des demokratischen Rechtsstaates anzweifel[n]”.

Die Reflexivität der Autorinnen reicht nicht so weit, dass sie erkennen könnten, dass vielleicht nicht die Institutionen als solche in der Kritik stehen, sondern die Art und Weise, wie sie derzeit funktionieren bzw. instrumentalisiert werden, um bestimmte ideologische Inhalte zu kolportieren, die in der Bevölkerung aus den verschiedensten Gründen auf Widerstand stoßen. Die Reflexivität der Autorinnen ist überhaupt kein
Nachdenken über die Motive und Prämissen der von ihnen konstruierten Anderen, weil sie deren Auffassungen und Motive ja bereits im ihrem Text u.a. durch die ironischen Anführungszeichen als falsch und unbegründet ausgewiesen haben, sondern es soll lediglich der Schein von Reflexivität erweckt werden, denn die so genannte Reflexivität der Autorinnen beschränkt sich – zumindest im vorliegenden Text – auf das unablässige Wieder-Aktualisieren von Gedanken, an die sie sich affektiv gebunden fühlen.

Wenn Reflexivität schon etwas ist, von dem sie meinen, es bezeichne die Unterstellung, dass Überzeugungen und Motive anderer Menschen nicht ernst zu nehmen und unbegründet seien, so ist Selbstreflexivität für sie ein völlig unbekanntes Konzept. Wäre es bekannt, dann wäre es z.B. möglich gewesen, Fragen danach aufzuwerfen, (1) welche Aspekte ihrer Sozialisation und ihrer Biographie diejenigen, die sich in der ad hoc-Gruppe zusammenfinden (sollen), in die Lage gebracht haben, auf Kritik an Ideen, mit denen sie sich identifizieren, an denen sie selbst aber keinerlei schöpferischen Anteil haben, in der auf Überidentifikation beruhenden Weise zu reagieren, in der sie reagieren, und die zumindest dem durch Sigmund Freud vorgeprägten Betrachter hysterisch vorkommen könnte, (2) wo der Zusammenhang zwischen diesen Ideen und Sozialwissenschaft bestehen soll oder kann und (3) – und besonders wichtig – welche Verantwortung Sozialwissenschaftlern bei der Trennung der Bevölkerung in Wir und die Anderen durch die Konstruktion von Meinungsvielfalt als soziales Problem zukommt. (Ich hoffe, damit Impulse für die Diskussion in der ad hoc-Gruppe gegeben zu haben!)

Was hier nur bruchstückhaft und ad hoc entwickelt wurde, ist eine soziologische Annäherung an den aktuellen Bedrohungsdiskurs, den Genderisten, die die Sozialwissenschaften derzeit bestücken, konstruieren und auf dessen Basis wiederum ein neues soziales Problem konstruiert werden soll, nämlich das der hoch-gefährlichen Existenz von Kritik und Meinungsvielfalt – und dies in einer demokratischen Gesellschaft, auf die die Autorinnen doch scheinbar große Stücke halten, wenn es darum geht, die Zweifel von Bürgern an “zentrale[n] Institutionen des demokratischen Rechtsstaates” zu diskreditieren!

Sicherlich wäre eine breitere und tiefere Analyse der diskursiven Konstruktion von Bedrohung der Ideologie des Genderismus und die diskursive Entnormalisierung von Meinungsvielfalt durch Soziologen nicht nur lohnend, sondern notwendig und Aufgabe einer kritischen Sozialwissenschaft. Ausgangspunkt einer solchen Analyse könnte – und müsste, wenn sie in Selbstreflexion erfolgen soll – sein, was Peter L. Berger und Thomas Luckmann in ihrem Buch “Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit” formuliert haben:

Berger Luckmann“Eine mögliche Folge der institutionalisierten Auffächerung ist das Entstehen gesellschaftlich abgetrennter Sinnwelten. Sie ergeben sich aus den verschiedenen Akzenten, die auf Rollenspezialsierung gelegt werden, bis hin zu dem Punkte, an dem rollenspezifisches Wissen, gemessen am allgemeinen Wissensvorrat, völlig esoterisch wird … Wie alle Sinnkonstruktionen der Gesellschaft müssen auch die Subsinnwelten von einer bestimmten Gemeinschaft ‘getragen’ werden, das heißt, von der Gruppe, welche die betreffende Sinnhaftigkeit ständig produziert und in der sie objektive Wirklichkeit geworden ist. Zwischen solchen Gruppen können Streitigkeiten und Rivalitäten bestehen. … In hochentwickelten Industriegesellschaften mit ihrem enormen wirtschaftlichen Überschuss, der es ungezählten Personen gestattet, ihre gesamte Zeit noch den obskursten Interessen zu widmen, ist die pluralistische Konkurrenz von Subsinnwelten jeder vorstellbaren Art und Weise der Normalzustand” (Berger & Luckmann 1996 : 90/91; Hervorhebung d.d.A.)

– und dies im statistischen Sinn und daher empirisch tatsächlich, und das sollten auch oder gerade Sozialwissenschaftler akzeptieren statt neue Bedrohungsdiskurse zu eröffnen und moralische Paniken zu inszenieren.

Bleibt zu fragen, was die beantragte ad hoc-Gruppe anderes sein kann als ein informelles Treffen genderistisch geprägter Ideologen in einem formal-wissenschaftlichen Kontext, denn der Interpretationsrahmen des in Frage stehenden Phänomens, also der in Deutschland und anderen Ländern immer lauter werdenden Kritik am Umbau der Gesellschaft im Sinne des Genderismus, wird von den Autorinnen ja bereits im Vorfeld durch ihre Antragsschrift vorgegeben und lässt keinerlei Raum für alternative Interpretationen. Insofern ist der Antrag eine schlechte Satire auf den Entwurf einer wissenschaftlichen Fragestellung.

Satire kann auch nur die von Autorinnen aufgeworfene Frage sein, “[w]eshalb und wie genau […] ausgerechnet [!] Sexualität und Geschlecht im Mittelpunkt des breiten [!] […] und breit anschlussfähigen [!] (Krisen-)Diskurses, der sich anti-etatistisch und vordergründig liberal/libertär geriert ….” steht, denn wenn sie selbst ihren Text mit “Genderismus – Der Umbau der Gesellschaft” betiteln, dann sollte man meinen, dass sie doch eine vage Ahnung davon haben, warum “ausrechnet” der Umgang mit Sexualität und Geschlecht in der Kritik steht, wenn es um den Umbau der Gesellschaft im Sinne des Genderismus geht!

Und insofern der Umbau der Gesellschaft im Sinne des Genderismus u.a. die Verabsolutierung askriptiver Merkmale bedeutet, die Ersetzung des meritokratischen Prinzips durch Ergebnisgleichheit und die ideologische Indoktrination von Kindern und Jugendlichen in öffentlichen und öffentlich finanzierten Schulen, ist es vielleicht nicht so überraschend, dass die Kritik am Genderismus in viele Richtungen “breit anschlussfähig” ist. Gerade deshalb ist es sehr seltsam und ganz und gar soziologisch uninformiert, wenn all die verschiedenen Kritiker von den Autorinnen als homogene Gruppe der Anderen und ihre Kritik sozusagen als – im übrigen prinzipiell verfehlte – Einheitskritik am Umbau der Gesellschaft im Sinne des Genderismus konstruiert und damit ein soziales Problem geschaffen werden soll, dass nur diejenigen sehen können, deren Reflexivität nicht so weit gereicht hat zu erkennen, dass Meinungsvielfalt und Kritik nicht nur der Normalzustand in einer komplexen Gesellschaft sind, sondern die Basis für eine Zivilgesellschaft. Aber genau diese soll ja anscheinend durch den Umbau der Gesellschaft im Sinne des Genderismus beseitig werden. Fragt sich nur, ob Soziologen sich hieran guten Gewissens beteiligen können, aber die Befragung des eigenen Gewissens setzt Selbstreflexivität voraus ….

Literatur:

Berger, Peter L. & Luckmann, Thomas, 1996: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit: Eine Theorie der Wissenssoziologie. Frankfurt/M.: Fischer.

Foucault, Michel, 2004: Abnormal: Lectures at the Collège de France, 1974-1975. New York: Picador.

Foucault, Michel, 2003: Society Must Be Defended: Lectures at the Collège de France, 1975-1976. New York: Picador.

Garfinkel, Harold, 1996: Studies in Ethnomethodology. Cambridge: Polity Press.

Goffman, Erving, 1990: Stigma: Notes on the Management of Spoiled Identity. London: Penguin.

Hacking, Ian, 2001: The Social Construction of What? Massachussetts: Harvard University Press.

Henecka, Hans Peter, 2009: Grundkurs Soziologie. Konstanz: UVK.

Klemperer, Victor, 2007: LTI: Notizbuch eines Philologen. Stuttgart: Reclam.

Loseke, Donileen R., 1992: The Battered Woman and Shelters: The Social Construction of Wife Abuse. Albany: State University of New York Press.

Luke, 1999: The Discipline as Disciplinary Normalization: Networks of Research. New Political Science 21, 3: 345-363.

Mooney, Linda, Knox, David & Schacht, Caroline, 2013: Understanding Social Problems. Belmont: Wadsworth, Cengage Learning.

Spector, Malcolm & Kitsuse, John I., 1977: Constructing Social Problems. Menlo Park: Cummings.

Taylor, Dianna, 2009: Normativity and Normalization. Foucault Studies 7: 45-63.

Weitzer, Ronald, 2007: The Social Construction of Sex Trafficking: Ideology and Institutionalization of a Moral Crusade. Politics & Society 35, 3: 447-475.

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