Asperger-Syndrom vor Entnazifizierung? Politisch-korrektes Wühlen in der Vergangenheit
Wer hätte gedacht, dass wir auf ScienceFiles einmal mit einem Zitat aus der Bibel beginnen.
Matthäus 7.1, weil es so gut passt:
„Richtet nicht, auf daß ihr nicht gerichtet werdet. Denn mit welcherlei Gericht ihr richtet, werdet ihr gerichtet werden; und mit welcherlei Maß ihr messet, wird euch gemessen werden. Was siehst du aber den Splitter in deines Bruders Auge, und wirst nicht gewahr des Balkens in deinem Auge? Oder wie darfst du sagen zu deinem Bruder: Halt, ich will dir den Splitter aus deinem Auge ziehen, und siehe, ein Balken ist in deinem Auge? Du Heuchler, zieh am ersten den Balken aus deinem Auge; darnach siehe zu, wie du den Splitter aus deines Bruders Auge ziehst!
Die Heuchler, die ihre Bewertung über andere brechen, die Antifas, die gewalttätig gegen die rechte Gewalt vorgehen, sie waren, wie diese historische Quelle zeigt, zu allen Zeiten ein Problem. Und weil sie ein Problem waren, deshalb die Warnung der Übersetzung, die Luther Matthäus und seinem Evangelium hat angedeihen lassen.
In den letzten Jahren ist es Trend und schick, sich die vermeintlichen Vergehen der Alten vorzunehmen, und sie auf Grundlage von angeblichen Fakten zu richten, die zeigen, dass die entsprechenden Alten sich aus heutiger Sicht falsch verhalten haben.
Wir können die Säuberungen, die dazu dienen, Philosophen wie Kant, Wissenschaftler wie die Humboldts, verdienstvolle Beschaffer von Erkenntnis, die – weil sie vor Jahrzehnten oder Jahrhunderten gelebt haben, die heutigen Maßstäbe der politisch Korrekten nicht erfüllen, gar nicht mehr zählen. Die von Matthäus beschriebene Heuchelei, sie ist zum Sport unter denen geworden, die besonders anfällig für derart niedrige Instinkte sind.
Wer sich hervortut mit historischen Enthüllungen, die zeigen, dass sich ein Mensch, der bis gestern noch wegen seiner wissenschaftlichen oder sonstigen Verdienste gefeiert wurde, im Verlauf seines mehrere Jahrzehnte langen Lebens hat etwas zu schulden kommen lassen, das nicht mehr durch die politisch-korrekte Zensur gelangt, der wird nachträglich entehrt, öffentlich hingerichtet und im Zuge seiner posthumen und persönlichen Demontage wird auch gleich das Wissen, das auf ihn zurückgeht, verworfen. Wenn Fehlschluss, dann richtig, wenn politisch-korrektes Wüten, dann mit Stumpf und Stiel (nicht mit Stil!).
Man möchte all den politisch Korrekten, die so überzeugt von sich sind, dass sie natürlich nie, niemals, unter keinen Umständen z.B. im Dritten Reich Wasserträger der damaligen politischen Korrektheit gewesen wären, wie sie das heute sind, jeden Tag den ersten Band der Offenen Gesellschaft von Karl Raimund Popper um die Ohren schlagen (in der Hardcover-Ausgabe von Mohr Siebeck) und ihnen das 10. Kapitel darin wieder und wieder vorlesen, so lange, bis sie verstehen, dass man das Verhalten von Personen nur in seinem historischen Kontext und unter Rekonstruktion von so viel wie nur möglich Handlungsbedingungen, die das entsprechende Verhalten zum Zeitpunkt seiner Ausführung determiniert haben, erklären UND verstehen kann.
Was nützen all die sozialwissenschaftlichen Methoden, wenn sie nicht angewendet werden, wenn niemand versucht, tatsächlich die Situation zu rekonstruieren, in der sich ein Wissenschaftler oder sagen wir der Österreichische Kinderarzt und Heilpädagoge Hans Asperger befunden hat, als er bestimmte Handlungsentscheidungen treffen musste. Es ist leicht, aus heutiger Sicht zu verurteilen, dass Autoren des 19. oder frühen 20. Jahrhunderts „Neger“ für einen ganz normalen Begriff gehalten haben. Es ist leicht, Soldaten aus heutiger Sicht für ihre Entscheidungen in einem Krieg zu kritisieren, wenn man die Umstände, unter denen sie sich entschieden haben, nicht kennt und nicht kennen will.
Das eben, macht es so attraktiv, sich über die vermeintlichen Untaten derer zu ereifern, die früher gelebt haben. Man kann sie an einem heutigen Maßstab messen, sich unter Auslassung der Lebensumstände, die die entsprechenden Menschen als Handlungssituation vorgefunden haben, moralisch über ihre Handlungsentscheidungen erregen und sich selbst zu einem besseren Menschen erklären. Alles auf einmal, ohne Kosten, ohne Risiko, ohne Aufwand…
Und so hat es nun auch Hans Asperger getroffen. Hans Asperger, österreichischer Kinderarzt, auf den die erste Beschreibung von Autismus in Form des Asperger-Syndroms zurückgeht (zuerst 1938, dann 1944). Ihm hat sich Herwig Czech gewidmet und in einem aktuellen Beitrag, der in der neuesten Ausgabe von Molecular Autism erschienen ist, den Verdacht geäußert und belegt, dass Asperger gar kein Untergrundkämpfer war, der den Nazis Parole geboten hat, sondern ein Opportunist, der versucht hat, die Gelegenheiten, die sich ihm boten, zu nutzen, ohne sich zu sehr mit dem Regime der Nationalsozialisten einzulassen. Asperger, so berichtet Czech, sei einigen Organisationen beigetreten, die eine Verbindung zur Nazi-Bewegung gehabt haben (Es dürfte schwierig gewesen sein, im Dritten Reich einer Organisation beizutreten, die keine Verbindung zu den Nationalsozialisten hatte. Selbst die Katholische Kirche hatte sehr intensive und zuweilen innige Beziehungen zu den Nazis). Zwar sei Asperger nicht der NSDAP beigetreten, habe sich aber auch nicht als Kritiker des Regimes hervorgetan. Wollte man die Abwesenheit von Kritik am Nationalsozialismus als Indikator heranziehen, um Menschen, die das Dritte Reich durchlebt haben, generell zu Nazis zu erklären, dann hätte man viel zu tun.
Wie dem auch sei, Czech widmet sich insbesondere der Zeit, die Asperger als Leiter der Heilpädagogischen Abteilung der Kinderklinik der Universität Wien zugebracht hat. In dieser Zeit, so Czech, habe sich Asperger nicht grundsätzlich vom Nationalsozialismus und seinen Ideen differenziert. Er habe akzeptiert, dass zwei Kinder, Herta und Elisabeth Schreiber, dem Euthanasieprogramm der Nazis zum Opfer gefallen seien, und er sei Mitglied einer Kommission gewesen, deren Aufgabe es gewesen sei, die intellektuellen Fähigkeiten von 200 Bewohnern eines Heims für geistig behinderte Kinder in Gugging bei Wien zu klassifizieren. Dabei seien 35 Kinder als unerziehbar klassifiziert worden: Unerziehbar gleichsam das Todesurteil für geistig behinderte Kinder im Dritten Reich. Entsprechend sind auch die 35 so klassifizierten Kinder dem Euthanasieprogramm der Nazis zum Opfer gefallen. Nahezu alle Kinder, die Asperger unter seiner Ägide im Wiener Kinderkrankenhaus hatte, seien jedoch – obwohl sich auch geistig Behinderte darunter befunden hätten – vom Euthanasieprogramm der Nazis verschont geblieben. Aber Czech sieht darin keine Leistung Aspergers. Gegebenheiten, die man Asperger positiv anrechnen könnte, fallen für Czech einfach so an, während negative Gegebenheiten, die man Asperger zur Last legen kann, ihm auch prinzipiell zur Last gelegt werden. Das Bemühen, den Wiener Kinderarzt in einem schlechten Licht darzustellen, ist groß, wie sich schon daran zeigt, dass ihm aus seiner Mitgliedschaft in einer Kommission, der er vermutlich aufgrund seiner Tätigkeit als Berater beim Wiener Hauptgesundheitsamt angehören musste, nahezu die alleinige Verantwortung für die Klassifizierung der 35 Kinder als unerziehbar und damit ihre spätere Ermordung von Czech zugeschrieben wird.
Czechs Beitrag passt ins Bild einer selbstgerechten Gesellschaft, die damit begonnen hat, die Mitläufer und Opportunisten, die nichts für, aber auch nichts gegen die Nazis unternommen haben, zu richten. Denn natürlich gibt es heute keine Mitläufer. Autoren wie Czech würden ihre Position als Leiter der Kinderklinik zum offenen Widerstand, zur Rebellion gegen die Nazis nutzen. Die Antifas würden zu hunderten meutern und sich gegen ihre Einberufung gemeinsam mit den Legionen von Juden verstecken, die sie bereits vor den Nazis in Sicherheit gebracht haben. Heutzutage leben nur noch Helden, die die Nazis im Dritten Reich heftig aufgemischt und dafür gesorgt hätten, dass es nicht soweit kommt, wie es gekommen ist. Aus dieser Phantasie in Selbstüberschätzung leitet sich das Recht ab, diejenigen, die im Dritten Reich wie Asperger gelebt haben zu richten, sie, die vielleicht opportunistisch waren, die nicht die Distanz gewahrt haben, die sie hätten wahren können, die es aber dennoch geschafft haben, die eigenen „autistischen Psychopathen“ wie Asperger seine Studienkinder genannt hat, diejenigen, die mit dem Asperger-Syndrom beschrieben sind, die (1) zu keinerlei Empathie fähig sind, (2) unfähig sind, sich auf eine Beziehungen mit anderen Menschen einzulassen, (3) Blickkontakt meiden, eine gestörte Mimik und Gestik aufweisen und im Sprachgebrauch von der Normalität abweichen, die (4) motorische Störungen zeigen und sich (5) fixiert mit genau einem Ding beschäftigen, vor den Nazis zu schützen und durch das Dritte Reich zu bringen.
Wer will darüber urteilen, ob Asperger gezwungen war, als Leiter der heilpädagogischen Abteilung der Wiener Kinderklinik Kompromisse mit den Nazis zu schließen? Wer will sich aufschwingen und feststellen, dass die zwei Mädchen, die Asperger vermutlich wissentlich in den sicheren Tod durch Euthanasie geschickt hat, und zwar dadurch, dass er sie in die Kinderklinik „Spiegelgrund“ in Wien überstellt hat, deren Ärzte am Euthanasieprogramm der Nazis mitgewirkt haben, hätten gerettet werden müssen und die beiden Kinder, die ihren Platz eingenommen und von Asperger durch das Dritte Reich gebracht wurden, an ihrer Statt hätten geopfert werden müssen? Die reale Welt entspricht oftmals in den Entscheidungen, vor die sie Menschen stellt, nicht der Puppenstube, in der sich die politisch Korrekten aufhalten.
Es ist immer wieder erschreckend zu sehen, wie naive und der Kenntnis über Dilemmata und Situationen, in denen man Verantwortung übernehmen und sich zwischen einem Rock and a Hard Place entscheiden muss, vollkommen Bare, sich aufschwingen, diejenigen zu richten, die ihrerseits Verantwortung übernommen und Entscheidungen getroffen haben oder treffen mussten, die zu treffen die heutigen Helden nicht in tausend Jahren den Mut hätten, zu treffen. Vielleicht muss man die deutsche Sprache ja um einen Begriff erweitern: Es gibt bereits die Siegerjustiz und neu: die Selbstgerechtenjustiz.
Czech, Herwig (2018). Hans Asperger, National Socialism, and ‚Race Hygiene‘ in Nazi-era Vienna. Molecular Autism.
Hat Ihnen der Beitrag gefallen?
Dann unterstützen Sie ScienceFiles!
Anregungen? Hinweise? Kontaktieren Sie ScienceFiles
©ScienceFiles
Wissenschaft und Information verständlich und in Klartext.
Unterstützen Sie ScienceFiles
Anregungen, Hinweise, Kontakt? -> Redaktion @ Sciencefiles.org
Wenn Ihnen gefällt, was Sie bei uns lesen, dann bitten wir Sie, uns zu unterstützen.
ScienceFiles lebt weitgehend von Spenden.
Helfen Sie uns, ScienceFiles auf eine solide finanzielle Basis zu stellen:
Entweder direkt über die ScienceFiles-Spendenfunktion spenden [das ist sicher und Sie haben die volle Kontrolle über ihre Daten]:

Oder über unser Spendenkonto bei Halifax:

HALIFAX (Konto-Inhaber: Michael Klein):
- IBAN: GB15 HLFX 1100 3311 0902 67
- BIC: HLFXG1B21B24
Wenn Sie ScienceFiles weiterhin lesen wollen, dann sind Sie jetzt gefordert.
Passt vielleicht zum Thema.
Letzten Sommer brachte die Vierteljahreszeitschrift für Kultur “Kraków” das Gedicht “Sąd nad przeszłością” eines Krakauer Autors. Ich übersetze es mal fix:
DAS GERICHT ÜBER DIE VERGANGENHEIT
Wir haben uns angewöhnt
Personen der Geschichte
Nach unseren heutigen
Moralmaßstäben zu beurteilen
Wir verdammen zum Beispiel
Shakespeare wegen antisemitischer Ansichten
Kant wegen Verteidigung des Kolonialismus
Washington weil er Sklaven hielt
Und erst die Führer der Alliierten:
Roosevelt war ein Weiberheld
De Gaulle konnte keine Hunde leiden
Stalin soff wie ein Loch und
Churchill qualmte wie ein Schlot und aß
Mit Vergnügen blutige Beefsteaks
Hitler dagegen hatte nur
Die eine einzige Eva Braun
Liebte seinen Hund
Rauchte nicht trank nicht
Und ernährte sich
Streng vegetarisch
Sollten wir nicht unsere Meinung
Über die Führer der Völker
Im Zweiten Weltkrieg überdenken?
Oder haben wir vielleicht
etwas übersehen
bei Hitler?
Nach dem Schleifen von z.B. Ernst Moritz Arndt, den man aus der Uni Greifswald tilgen wollte, sollte man doch von den Kirchen mal fordern öffentlich zu machen, wie viele Kirchenglocken noch von Hakenkreuzen und Lobhudeleien auf den “Führer” “geziert” werden. Das sollte man dann zum Anlass nehmen, über die opportunistische Rolle der Kirchen in der Nazi-Zeit zu sprechen, die nicht nur dieses Regime letztlich unterstützt hat, sondern danach auch noch das der DDR und heute geht es weiter mit der Hilfe für Islamisten, die nur ein Ziel haben – Verdrängung. Stattdessen flexen “Aktivisten” Hakenkreuze von einer Glocke, um “ein Zeichen zu setzen” (Bla bla). Daß da einer die Türe aufgeschlossen hat, darf man annehmen. Es ist ja klar, wer für die Kirche, den Schlüssel hat. Die Heuchler wollen damit aber genau die Diskussion genau darüber, wie das Hakenkreuz überhaupt an die Glocke kommen konnte, umgehen oder beenden. Aus heutiger Sicht so zu tun “Seht her, welch eine Zivilcourage” (Das Z-Wort wird ja gerne falsch genutzt…), ist dadurch an Heuchelei kaum zu überbieten. Erst selbst zündeln, um dann zu rufen “Haltet den Brandstifter”.
Wer sich darüber ereifert, dass Asperger sich nicht dagegen gewehrt hat, Kinder wegzuschicken, sollte sich das Interview mit Charlotte Knobloch zu ihrem 85. mal ansehen. Sie beschreibt dort, wie ein Mitglied der jüd. Kultusgemeinde von München die Listen für die Transporte in die Lager zusammenstellte, weil er dazu aufgefordert wurde. Der sich eben nicht das Hemd aufgerissen, die Brust entblößt hat und sich hätte erschiessen lassen für die “gute”, die “richtige” Sache, um “ein Zeichen zu setzen”. Die heute moralisch Entrüsteten tun ja gern so, als hätten sie genau diesen Widerstand damals, ohne mit der Wimper zu zucken, geleistet. Das kann man nämlich kühn behaupten, denn man muß es ja nicht beweisen. Ich behaupte aber, genau diese Moralisten hätten sich genauso opportunistisch verhalten wie der Listenschreiber, der im Gegensatz zu den Meisten, die er in die Listen geschrieben hat, den Krieg überlebte. Kann ich diesem Mann den Splitter in seinem Auge vorwerfen? Natürlich nicht! Denn ich habe selbst den Balken dort und die Moralisten einen ganzen Wald…
Ähnlicher Fall: Hinrich Wilhelm Kopf – der erste Ministerpräsident von Niedersachsen. Er wurde zum bösen Nazi erklärt, der jüdische Grabsteine geschändet weil verkauft haben soll. Eine Lüge, wie sich herausstellte, da die Grabsteine und jüdischen Friedhöfe in Polen noch bis Mitte der 1950er Jahre im Betrieb waren, wie polnische Behörden udn Presseberichte bestätigen. Dennoch wurde die Lüge durch die Verantwortlichen von Landes- und Lokalpolitik aufrechterhalten und eine Doktorarbeit mit dieser Lüge zugelassen, ja sogar zum Buch gedruckt. Die erste Adresse Niedersachsen, der Platz vor dem Landtag, wurde – wissentlich basierend auf der Lüge – vom Hinrich-Wilhelm-Kopf-Platz feierlich in Hannah-Arendt-Platz umbenannt… : http://derfreiejournalist.de/?e=294