Der Deutschen Angst vor Freiheit

Freiheit ist die Abwesenheit von Zwang. Bei den meisten Philosophen ist dies der Kern ihrer jeweiligen Bestimmung von Freiheit. Ayn Rand definiert Freiheit konkret als Abwesenheit von physischem Zwang. John Stuart Mill ist ein wenig ausführlicher, wenn er Freiheit als Möglichkeit definiert, nach dem eigenen Willen zu handeln. Immanuel Kant ist wie so oft der ausführlichste wenn es um die Bestimmung von Begriffen geht. Er unterscheidet gar drei Arten der Freiheit, die praktische Freiheit, die psychologische Freiheit und die transzendentale Freiheit. Letztere meint die Fähigkeit, durch eine Handlung eine kausale Kette zu beginnen, also Verursacher zu sein ohne selbst verursacht zu sein. Psychologische Freiheit bezieht sich auf die Abfolge von Motiven im Geist des Freien. Und praktische Freiheit ist eigentlich der Kern der Kantschen Argumentation:

„Die praktische Freiheit kann durch Erfahrung bewiesen werden. Denn, nicht bloß das, was reizt, d. i. die Sinne unmittelbar affiziert, bestimmt die menschliche Willkür, sondern wir haben ein Vermögen, durch Vorstellungen von dem, was selbst auf entferntere Art nützlich oder schädlich ist, die Eindrücke auf unser sinnliches Begehrungsvermögen zu überwinden; diese Überlegungen aber von dem, was in Ansehung unseres ganzen Zustandes begehrungswert, d. i. gut und nützlich ist, beruhen auf der Vernunft. Diese gibt daher auch Gesetze, welche Imperative, d. i. objektive Gesetze der Freiheit sind, und welche sagen, was geschehen soll, ob es gleich vielleicht nie geschieht, und sich darin von Naturgesetzen, die nur von dem handeln, was geschieht, unterscheiden, weshalb sie auch praktische Gesetze genannt werden.“

Praktische Freiheit verlangt also Vernunft. Wer nicht vernünftig ist, kann in diesem Sinne nicht frei sein, denn er ist nicht in der Lage, sich Handlungsprinzipien zu geben und nach diesen Prinzipien zu handeln. Praktische Freiheit bedarf der transzendentalen Freiheit und letztlich sind die psychologischen Prozesse, die es Menschen erlauben, Motivketten zu bilden, auch notwendig, um eine praktische Freiheit auszubilden.

Bei Kant ist praktische Freiheit somit nichts, was Menschen von Natur aus haben, sondern etwas, das sie entwickeln müssen. Ein Mensch, der nicht in der Lage ist, Vernunft walten zu lassen, kann daher kein freier Mensch sein. Ein Mensch, der nicht in der Lage ist, Verursacher ohne Verursachter zu sein, kann nicht frei sein. Und ein Mensch, der nicht in der Lage ist, logisch und in Abfolgen zu denken, kann ebenfalls nicht frei sein. Freiheit ist eine intellektuelle Leistung für Kant. Darin unterscheidet er sich von den meisten angelsächsischen Autoren, die Freiheit als materielles Gut ansehen. Für Kant ist Freiheit das Ergebnis einer intellektuellen Entwicklung, in deren Verlauf Verantwortung übernommen wird.

Diese typische Kantsche Verbindung von Vernunft und Verantwortung als Grundlagen für menschliche Entwicklung ist Kant vermutlich deshalb eingefallen (reine Spekulation unsererseits), weil er in der Welt um sich herum, seiner engen Königsberger Welt von Menschen umgeben war, für die das Verlangen nach Freiheit nicht selbstverständlich ist, die lieber Untertan sind, als dass sie frei sein wollen.

Die Wahl von Unfreiheit aus Angst, sie scheint im Wesentlichen ein spezifisch deutsches Phänomen zu sein.

Als wir vor einigen Tagen darauf hingewiesen haben, dass wir es ungeheuerlich finden, unser Alter verifizieren zu müssen, um eine Flasche Penderyn über Amazon verschicken zu können, haben wir nicht damit gerechnet, dass es eine Fraktion von Leuten geben könnte, die es ganz in Ordnung finden, staatlicher Gängelung unterworfen zu werden, die mit anderen Worten kein Problem mit Freiheit haben, wenn sie staatlichem Zwang unterworfen werden, die sich fügen, und es noch in Ordnung finden, die den Vorwand „Jugendschutz“ übernehmen und gegen die in Stellung bringen, die ihre persönliche Freiheit höher schätzen als den staatlichen Vorwand, um sie eben dieser zu berauben.

Die letzten Tagen haben wir uns gefragt, wie man diesen Hang zum „Untertanentum“, den schon Heinrich Mann oder Jerome K. Jerome beobachtet und entsprechend beschrieben haben, erklären kann.

Wir sind, auch vor dem Hintergrund dessen, was Kant schreibt, zu dem Schluss gekommen, dass in Deutschland in Teilen der Bevölkerung eine regelrechte Angst vor Freiheit grassiert, eben weil Freiheit mit Vernunft, mit Verantwortung einhergeht.

Wer einen Anspruch auf Freiheit erhebt, der muss für seine Handlungen und deren Folgen, soweit er sie beeinflussen und vorhersehen kann, Verantwortung übernehmen. Als Belohnung erhält der Freie die Gewissheit, dass vieles, was er im Leben erreicht hat, vom ihm verursacht wurde, ohne dass er wiederum Verursachter wäre. Aus dem Wissen, dass man etwas geleistet, etwas erreicht hat, das man erreichen wollte, resultiert Selbstwirksamkeit, das Wissen um die eigene unabhängige Existenz, die Grundlage einer personalen Identität.

Wer selten oder nie Selbstwirksamkeit erlebt, weil er nicht autonom handelt, sondern nur auf Aufforderung, weil er sich in die Vorgaben fügt, der handelt wie vorgegeben, der nie Verursacher ist, ohne selbst verursacht worden zu sein, kann zwangsläufig keine Selbstwirksamkeit erfahren und als Folge davon keine personale Identität entwickelt. Er muss sich nach einem Surrogat umsehen und mutiert konsequenter Weise von einer potentiellen Person zu einem Gruppenmitglied, zu einem, der von sich sagt, dass er etwas ist: Ich bin Antifaschist. Ich bin Homosexueller. Ich bin Feminist. [Das Verb „sein“ wird benutzt, um eine essentielle Aussage über sich selbst zu machen.]

Er könnte auch sagen: „Ich bin nichts“, denn durch die Zuordnung zu einer Gruppe gibt er seine personale Identität preis.

Ursache der Unterordnung ist die Angst vor Freiheit, die Angst, Verantwortung zu übernehmen, für die eigenen Handlungen verantwortlich zu sein oder doch zumindest Verantwortung übernehmen zu müssen. Wegen dieser Angst suchen viele Schutz unter den Fittichen des Staates oder in den Reihen von Gruppen. Dort finden sie Handlungsanweisungen, sie können sich zuordnen, ohne verantwortlich zu sein, sie erhalten Deutungsangebote, müssen sich also kein eigenes Urteil bilden, denn auch die eigenständige Urteilsbildung bringt Verantwortung mit sich. Weil sie Verantwortung für ein eigenes Urteil verweigern, müssen diese Unfreien die Vorgaben, die Deutungen, die Katechismen, die Ideologie, die Lehre derer übernehmen, denen sie sich zugeordnet haben. Deshalb müssen sie Handlungen des Staates verteidigen, zu ihren machen, sich fügen. Das ist der Deal: Verantwortungslosigkeit gegen Untertänigkeit. Für manche ist dies ein attraktiver Deal, denn sie haben Angst vor Freiheit.

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