Randall Collins über Abstraktionen, Reifikationen und sozialen Wandel

von Dr. habil. Heike Diefenbach

Randall Collins, der am 29 Juli 78 Jahre alt wird, ist ein U.S.-amerikanischer Soziologe, der in Deutschland nur unter Sozialwissenschaftlern und Studenten einer Sozialwissenschaft einigermaßen bekannt sein dürfte, und zwar als ein Konflikttheoretiker oder als Verfasser von informativen Einführungs- oder Überblicksbüchern in oder über die Soziologie bzw. soziologische Theorien und Konzepte, ihre Geschichte oder bekannte Vertreter des Faches, insbesondere Max Weber und Émile Durkheim. In neuerer Zeit hat sich Collins der physischen Gewalt als Interaktionsritual gewidmet bzw. der Dynamik physischer Gewalt. Deshalb trägt die deutsche Übersetzung von Collins‘ Buch mit den Titel „Violence: A Micro-Sociological Theory“, das im Jahr 2009 erschienen ist, auch den Obertitel „Dynamik der Gewalt“ (s. Collins 2011).

Quelle

Ich will hier nicht dieses – oder ein anderes – Buch von Collins besprechen, sondern Collins‘ Vorstellung von Soziologie vorstellen bzw. seine Vorstellung davon, wie „Interaktionsrituale“ soziale Phänomene wie Kultur, Staat, Wirtschaft, und soziale Kategorien wie soziale Klasse oder Status hervorbringen. Das mag zunächst relativ langweilig klingen bzw. wie etwas, was nur Soziologen interessiert. Es gibt aber gute Gründe, sich damit auch als Nicht-Soziologe zu beschäftigen: Erstens versteht man Collins‘ Texte, die man ja vielleicht auch als Nicht-Soziologe lesen möchte, sehr viel besser, wenn man diese grundlegende Sichtweise von Collins auf das Soziale kennt; schließlich sind die Texte ja von dieser Sichtweise geprägt. Zweitens und vor allem ist diese Sichtweise für denjenigen, der sie einnimmt, in mindestens zweierlei Hinsicht und auf grundlegende Weise befreiend, in bestimmten Kreisen würde man vielleicht sagen: „empowernd“:

1. Sie befreit sie von der Vorstellung, als Einzelner hätte man keinen Einfluss auf größere Zusammenhänge, den Lauf der Dinge, die Strukturen etc., sei ihnen oder dem Willen angeblich „Mächtiger“ mehr oder weniger ausgeliefert.

2. Sie gibt einem die Möglichkeit, neue Erzählungen, die in der Gesellschaft auftauchen, wie z.B. die von der Existenz struktureller Benachteilung von Frauen oder vom Weltuntergang im Jahr 2030 (oder so etwas in der Art) aufgrund menschengemachter Erderwärmung, und neue Forderungen, die durch solche Erzählungen begründet werden sollen, also z.B. eine Frauenquote oder eine CO2-Steuer, als solche, d.h. als Erzählungen, zu sehen. Als solche sind sie keine oder nicht nur und nicht vor allem Berichte über vermeintliche oder tatsächliche Fakten. Sie dienen aber auch nicht nur der Erbauung sozusagen rund um’s Lagerfeuer, sondern sie haben bestimmte Entstehungsbedingungen und dienen bestimmten Zwecken. Wenn man etwas nicht als Bericht, sondern als Erzählung betrachtet, schafft man Abstand: man kann von der vordergründigen, inhaltlichen Frage danach, ob das, was behauptet wird, zutreffend ist oder nicht, ob es real und wichtig ist oder nicht, zurücktreten und die Sache aus einem anderen Blickwinkel betrachten. Das ist die Befreiung, die in der analytischen Betrachtung einer Sache liegt.

Was ist nun diese spezielle Sichtweise von Collins, die die beschriebenen befreienden Wirkungen haben soll?

Der Kern dieser Sichtweise ist, dass Collins sowohl die so genannte makrosoziologische Betrachtung der Dinge, also die Betrachung von Strukturen anhand von Konzepten, die sie beschreiben sollen, als auch die mikrosoziologische Berachtung der Dinge, die auf den Merkmalen des einzelnen Menschen, seinen Überzeugungen, seinen Wünschen, seinen Vorlieben, seinen Überlegungen, beruht, verwirft.






Die makrosoziologische Betrachtung verwirft er deshalb, weil sie prinzipiell mit abstrakten Größen hantiert, die reifiziert werden, d.h. sie werden so behandelt, als seien sie nicht nur reale, unabhängig existierende Größen, sondern auch lebendig, als würden sie Dinge entscheiden, Dinge tun. Das ist z.B. der Fall, wenn man sagt, dass die Revolution ihre Kinder frisst oder dass die Wirtschaft die Nachfrage nicht befriedigen kann oder das Schulsystem Kinder aus Arbeiterhaushalten benachteiligt. Tatsächlich handelt es sich bei „der Revolution“, „der Wirtschaft“, „dem Schulsystem“ aber nur um Konzepte oder abstrakte Größen, und „[t]hese abstractions and summaries do not do anything” (Collins 1981: 989; Hervorhebung im Original).

Sicherlich kann man sagen, dass wir alle häufig in dieser Weise sprechen und das Gesagte nur im übertragenen Sinn meinen. Aber wenn das so ist, was genau ist denn dann die Bedeutung solcher Sätzes wie „Die Wirtschaft floriert“ oder „Die Politik hat mit Bezug auf die Energiewende versagt“? Wenn wir uns fragen, was genau damit gesagt wird, oder was genau wir beobachten können müssten, damit ein solcher Satz einen konkreten Sinn bekommt, dann bemerken wir sehr schnell, dass das gar nicht so einfach ist, der Satz entweder keinen Sinn macht oder auf verschiedene Weise Sinn machen kann. Jedenfalls ist der Informationsgehalt eines solchen Satzes sehr niedrig und deshalb unbefriedigend. Tatsächlich macht ein solcher Satz nur dann Sinn, wenn man davon ausgehen kann, dass diejenigen, an die man den Satz richtet, schon eine Vorstellung davon haben, was mit ihm angesprochen werden soll, wie z.B. sehr hohe Stromkosten im Zusammenhang mit dem Satz „Die Politik hat mit Bezug auf die Energiewende versagt“. Man fasst in solchen Sätzen also bestenfalls eine Reihe von Assoziationen zusammen, von denen man annimmt, dass diejenigen, an die diese Sätze gerichtet sind, sie haben.

Wenn „der Staat“, „die Wirtschaft“, „das Schulsystem“ etc. Abstraktionen sind, wovon abstrahieren sie dann? Die mikrosoziologische Betrachtungsweise würde antworten: von einzelnen Menschen, die „den Staat“, „die Wirtschaft“, „das Schulsystem“ etc. aufgrund ihrer Erfahrungen, ihrer Werte, ihrer Überzeugungen, ihres Glaubens, Wollens, Handelns hervorbringen. Aber diese Antwort lehnt Collins ab, weil ihm diese Reduktion von allem Sozialen auf einzelne Menschen zu weit geht: Sie geht erstens zu weit, weil Menschen bereits in die (Vorstellung von) Makrostrukturen hineingeboren werden und mit Bezug auf deren Existenz handeln, und zweitens deshalb, weil Menschen auch dann, wenn sie dieselben Überzeugungen z.B. mit Bezug auf den Wert einer kostenfreien Grundbildung für alle Kinder und die Sinnhaftigkeit der Einrichtung eines öffentlichen Schulsystems hätten, das für die Realität keinerlei Bedeutung hätte, solange sich die Menschen nicht dazu verabreden, ein öffentliches Schulsystem einzurichten, Lehrer einzustellen, sie zu bezahlen, ihre Kinder in der Schule anzumelden, ihre Urlaubszeiten in Ferienzeiten zu planen etc. etc. Für Collins steht deshalb im Kern jeder soziologischen Betrachtung und Erklärung die Begegnung oder Interaktion zwischen mindestens zwei Menschen, also das, was sie miteinander sprechen oder sonstwie tun:

„It is the encounter of individuals rather than the individuals themselves that provides the basic shaping of larger society” (Collins 1983: 190).

Menschen bringen z.B. ein Schulsystem oder einen Staat dadurch hervor und erhalten es oder ihn sozusagen „am Leben“ – obwohl dies kein Eigenleben ist – , dass sie auf bestimmte Weise zusammenhandeln, nämlich in der Weise, dass sie immer wieder dasselbe Muster von Handlungsweisen in einem bestimmten Zusammenhang wiederholen. Das wiederholte Handeln in und nach bestimmten Mustern nennt Collins „Interaktionsrituale“, und

„.., all of society consists of chains of interaction ritual (IRs). The term ‘IR’ comes from Goffman (1967); I use it generically to refer to a basic process that occurs in all encounters [zwischen Menschen]. Essentially, the argument is that all encounters have a rituallike quality; when the conditions for a ritual are intense, the result is to generate some shared solidarity (if only briefly) and to charge cognitive symbols with emotional significance as indicators of membership in the little group. The model ultimately comes from Durkheim’s (1954) analysis of how sacred objects are ritually produces by social procedures. Not all encounters vary in precisely how much solidarity is generated among the participants, and how much the conversational symbols they use are charged with emotional significance. It is because of this variation that the macro social world is differentiated into friends, strangers, and enemies – in short, the familiar macrostructure of social classes, status groups, and their detailed ins and outs in the networks of interpersonal encounters” (Collins 1983: 189-190).

Die emotionale Signifikanz stellt auf eine Gefühls- oder vielleicht besser: Empfindungsqualität ab, die Collins in jeder Begegnung, jeder Interaktion am Werk sieht und die „marketlike“ (Collins 1983: 191) ist insofern als jeder der an einer Interaktion Beteiligten stillschweigend einschätzt, was ihm diese Interaktion im Vergleich mit anderen Interaktionen einbringt. Dieser Nutzen kann ein materieller Nutzen sein, aber Collins geht davon aus, dass der Nutzen hauptsächlich in einem positiven Gefühl als solchem, einem Sich-Wohlfühlen in der Interaktion, und aus sozialen Nutzen wie dem Ruf, den man sich durch die Interaktion erwerben kann, besteht (Collins 1983: 191).

„Hence, some interactions come off, others do not; and some come off in a symmetrical form (interaction among equals) others in asymmetrical form (interactions among dominants and subordinates)“ (Collins 1983: 191).

Die persönliche Geschichte eines Menschen spielt eine Rolle dabei, ob eine Interaktion für ihn angenehm oder unangenehm ist oder verspricht, von vergleichsweise hohem oder niedrigem Nutzen zu sein, weil jeder Mensch auf eine lange Reihe vorhergehender Interaktionen zurückschaut, die seine Ausgangsposition, von der aus er in neue Interaktionen eintreten kann, bestimmen:

„Thus the previous chain of encounters of each individual gives him or her certain resources with which to negotiate the next encounter. What will happen in that encounter, though, cannot be predicted from any one individual’s past, but depends on the negotiation that ensues as the several partners bring their conversational, emotional, and reputational resources to bear” (Collins 1983: 191).

Die abstrakte Größe “Sozialstruktur” ist für Collins das, was sich aus der Kette von Interaktionen, in denen die Resourcen der Menschen verteilt oder umverteilt werden, ergibt (Collins 1983: 192). Das klingt eingermaßen ungewohnt, und Collins macht selbst hierauf aufmerksam:

„Isn’t stratification based on hard material things, such as the possession of property, authority, position, weapons and power? But we must apply a microtranslation of all these things. In that light, property turns out to be a way in which individuals in microsituations act in regard to who is allowed to do what with which physical things; it is not the physical things themselves, but the microsocial relationships surrounding them. Individuals have property precisely because, in their chain of everyday encounters, they have the ongoing reputation of having access to it; they have the emotional energies to make use of it self-confidently and to keep others off it without permission; and they have the social network contacts to back up challenges to their control of it …” (Collins 1983: 193).

Eigentum erweist sich aus dieser Perspektive betrachtet also als etwas sehr fragiles, das nur solange Eigentum ist, solange es als Eigentum gesehen und behandelt wird. Und das bringt uns zurück zu den am Anfang des Textes postulierten befreienden Wirkungen der Sichtweise Collins, denn was für Eigentum und Eigentümer gilt, gilt auch für Autorität und Macht bzw. Mächtige:

„Position, authority, and power all exist in a similar fashion. They are not real ‘things’, as one can easily see if one thinks them through empirically. They are instead patterns of microinteraction, based fundamentally on the social coalitions that individuals feel through the ongoing acting out of IRs” (Collins 1983: 193; Hervorhebung im Original).

Collins illustriert dies am Beispiel der Organisation wie folgt

„Any organization involves authority, the power of certain people to give and enforce orders which others carry out. The basis of authority is a chain of communications. The ultimate sanction of a lower-level manager over a worker is to communicate to others in the management hierarchy to withhold the worker’s pay; the sanction in a military organization is to communicate orders to apply coercion against any disobedient soldier. The civilian case is founded on the military one; control chains based on pay or other access to property are ultimately backed up by the coercive power of the state. Thus the microbehaviors that make up any organizational routine must involve some sense of the chains of command that can bring sanctions to bear for violating the routine” (Collins 1981: 993).

Autorität als solche gibt es also nicht, und niemand „hat“ sie. Sie muss ihm von anderen permanent zugeschrieben werden, und andere müssen permament so handeln, als hätte jemand Autorität. Autorität in Frage zu stellen bzw. Koalitionen aufzukündigen, kann so einfach sein wie eine Kommunikation zu unterbrechen oder sie zweckzuentfremden oder anders zu gebrauchen als routinemäßig, wie jeder weiß, der ein Telefoninterview dazu nutzt, zu sagen, was er von Meinungsforschung hält, oder seine GEZ-Gebühr auch nach mehreren Mahnungen nicht überweist.

Wie schon diese beiden Beispiele zeigen, kann das Infrage-Stellen von Autorität bzw. Legitimität mit keinen, niedrigen oder höheren Sanktionen bedroht sein. In Gesellschaften, die den Schein aufrecht erhalten wollen, dass sie Demokratie, Bürgerrechten oder Verfahrensregeln verpflichtet seien, oder es tatsächlich sind, ist Angst vor Sanktionen aber meist weitgehend unbegründet, denn

„[s]anctions tend to be remote and take time to apply, and the very conditions of limited cognitive capacities in situations calling for complex coordination or involving uncertainty leave room in the routine for negotiation” (Collins 1981: 993).

Vor diesem Hintergrund ist es z.B. möglich, dass Kinder an einem Tag der Woche während der Unterrichtszeit der Schule fernbleiben, um gegen Klimawandel zu demonstrieren, obwohl Schulpflicht herrscht und das willkürliche Fernbleiben vom Unterricht in Fällen, in denen beispielsweise Eltern ihr Kind einen Tag vor Beginn der Ferien mit in den Urlaub nehmen wollen, routinemäßig sanktioniert wird: Es werden Tatsachen geschaffen, von denen zunächst nicht klar ist, ob sie sanktionoert werden sollen oder müssen, was warum vergleichbare Fälle sind und was warum nicht, und wer ggf. die Verantwortung für das Vorkommnis und wer ggf. die Verantwortung für die Sanktionierung trägt.

Deshalb kann eine theoretisch drohende Sanktion bis auf Weiteres dadurch verhindert werden, dass die Zuständigkeit für die Entscheidung über oder die Durchführung der Sanktion ihrerseits hinterfragt wird, und dieses Moratorium wird genutzt, um weiterhin Tatsachen zu schaffen, die einfach aufgrund ihrer Wiederholung oder Permanenz zunehmend „normal“ erscheinen. Organisationen haben deshalb normalerweise große Angst vor „Störenfrieden“ im Sinne des Wortes, außer in Fällen, in denen die „Störung des Friedens“ gewollt ist oder zumindest opportun erscheint und von Vorgesetzten oder politisch gewollt ist wie im Fall der Freitagsdemonstrationen von Kindern während der Unterrichtszeit. Wer in dieser Situation Sanktionen fordert, ist nicht bloß ein Störenfried, sondern ein „Querulant,“, der unerwünschterweise – das gerade macht ihn zum „Querulanten“: dass seine „Einmischung“ unerwünscht ist – die In-Rechnung-Stellung seiner Perspektive auf die Dinge und der bislang gepflegten Routine aufgrund der bislang herrschenden Normalität einfordert.

Man könnte daher meinen, dass sozialer Wandel am ehesten erfolgen kann, wenn er politisch gewollt und implementiert wird, während sozialer Wandel durch die Bedürfnisse und das Handeln der Bevölkerung schwerlich erfolgen kann – und diese Auffassung zu zementieren, kann selbst als eine Manipulationsstrategie gelten, derer sich diejenigen in politischen Positionen bedienen (können). Aber so einfach liegen die Dinge nicht, denn

„[t]he ultimate basis of property and or private authority is political authority, backed up by the power of the military. Political and military authority, however, is based upon a self-reinforcing process of producing loyalty or disloyalty. A political leader, even of dictatorial power, relies upon others to carry out orders; this includes using subordinates to enforce discipline over other subordinates. Hence a leader is powerful to the extent that he or she is widely believed to be powerful most essentially among those within the organizational chain of command … For less dictatorial leaders and for informal negotiations at lower levels within organizations, power is even more obviously dependent upon the accumulated confidence of others …” (Collins 1981: 993).

Also können zum Beispiel “Gender Studies” aufgrund politischer Ideologie und politischen Willens an Universitäten zwar installiert werden, aber sie können nicht Teil der Organisation in einem anderen als einem rein formalen – und daher weitgehend irrelevanten – Sinn werden, solange sie keine Anerkennung durch Wissenschaftler haben. Und Anerkennung durch Wissenschaflter können „Gender Studies“ nicht haben, so lange sie sich weigern, Wissenschaftlern eine anschlussfähige Kommunikation durch Benutzung geteilter Symbole (z.B. in Form der Grundregeln wissenschaftlichen Arbeitens und logischen Argumentierens) zu ermöglichen. Die Universitätsleitung kann versuchen, Vertreter von „Gender Studies“ so zu behandeln als wären sie Wissenschaftler, aber sie läuft damit Gefahr, ihrerseits die Anerkennung durch Wissenschaftler zu verlieren, d.h. sich selbst zu diskreditieren und als bloße Handlanger der ideologisch agierenden Kultusministerien zu gelten.






Derzeit können wir in westlichen Gesellschaften Prozesse dieser Art in sehr vielen gesellschaftlichen Bereichen beobachten, so z.B. auch im Bereich der Medien; je mehr sich Organisationen, die sich selbst Autorität zuschreiben, gegen Kritik durch „In-Frage-Steller“ immunisieren, desto mehr verlieren sie an tatsächlicher Autorität. Autorität lässt sich nicht erzwingen. Sie existiert nur dann, wenn Menschen einer Organisation oder einer Person Autorität zubilligen, und dafür brauchen sie normalerweise einen guten Grund. Verweise z.B. darauf, dass man ein „Qualitätsmedium“ sei oder an der Universität eine Anstellung gefunden habe, sind deshalb eher dazu angetan, Zweifel an der Autorität der so Verweisenden zu wecken als tatsächlich Autorität zu geben.

Auf keine Art und Weise kann Autorität Anerkennung erzwingen, und sozialer Wandel kann nicht anders erfolgen als durch positive Anerkennung – im Gegensatz zu bloßer Zur-Kenntnisnahme – neuer Routinen, neuer Normalität. Damit haben wir uns – Collins folgend – von der Vorstellung befreit, wir seien durch „Strukturen“ oder durch „Mächtige“ dominiert oder angesichts drohender Sanktionen unfähig, Widerspruch zu formulieren oder entsprechend zu handeln.

Der zweite Befreiungsakt liegt wie oben gesagt darin, dass wir – Collins folgend – „Berichte“ als „Erzählungen“ betrachten können damit fragen können: Wer erzählt warum was, und wer erzählt warum etwas anderes, und wer redet warum mit wem und mit wem anderen warum nicht? Oder, näher an der Terminologie von Collins orientiert: Wer meint, in welchen Interaktionen mit wem, Chancen zu haben, Ressourcen zu erwerben oder zu seinen Gunsten umzuverteilen?

Betrachtet man z.B. die Erzählung von der Relevanz von „Gender Studies“ auf diese Weise, dann erkennt man sehr schnell, dass „Gender Studies“ keinerlei Relevanz für die Gesellschaft und (als explizit wissenschaftsfeindlich) schon gar nicht für die Wissenschaft haben, aber einen künstlichen Arbeitsmarkt erzeugen, durch den Mittelschichtsfrauen, die keine marktrelevanten Fähigkeiten und Fertigkeiten haben, der soziale Abstieg erspart wird, denn „Gender Studies“ wurden in der Kommunikation von Mittelschichtsfrauen in prekärer Beschäftigung oder prekärem professionellen Status mit eben solchen erdacht, beworben und durch Verwaltungshandeln umgesetzt. Sie reden miteinander und bestärken die Eigengruppe durch gegenseitige soziale Kontrolle und Rituale wie die Pflege einer gruppenspezifischen Sprache (Stichwort: Binnen-„I“ und ähnlicher Schabernack), vermeiden aber jede Kommunikation mit denjenigen, denen sie gleichgeordnet werden wollen, d.h. Wissenschaftlern, weil sie nicht über die Ressourcen verfügen, die die Kommunikation mit ihnen ermöglichen würden, und dies wird an jeder ihrer sprachlichen Äußerungn erkennbar, durch die sie sich als Nicht-Wissenschaftler zu erkennen geben:

„Language must … conform to the nature of microinteractional situations. It is shaped because of its use in situations. In fact, a great deal about language may not operate on the level of what is encoded in individuals at all” (Collins 1983: 188-189).

In Interaktionssituationen zwischen Wissenschaftlern wird eine bestimmte Sprache benutzt, die von Wissenschaftlern verstanden und beherrscht wird und spezifische Konzepte umfasst. Wer diese Konzepte offensichtlich nicht kennt oder versteht, kann in Interaktionssituationen mit Wissenschaftlern nicht (bzw. nicht als Wissenschaftler) kommunizieren. Wenn Vertreter von “Gender Studies” es zumeist gar nicht wagen, mit Wissenschaftlern zu sprechen, sondern bloß über sie, dann ist das kein Ersatz für ihre Unfähigkeit, mit Wissenschaftern zu kommunizieren, weil die bloße Tatsache, dass sie über Wissenschaftler gewöhnlich abfällig in Form von persönlichen Diskreditierungen, Unterstellungen und Beschimpfungen sprechen, sie auf Anhieb als außerhalb der Wissenschaft stehend erkennbar machen, denn in der Wissenschaft zählt allein das Argument, nicht die Person, die es vorbringt und schon gar nicht, ob man die Person, die das Argument vorbringt, mag oder nicht mag. Das ist ein Grund dafür, warum Vertreter der „Gender Studies“ mit ihrer Strategie, Wissenschaftler persönlich diskreditieren zu wollen, nicht über das Echo-Zimmer der Eigengruppe hinauskommen können.

In einer solchen Situation ist es besonders wichtig, sich in der Eigengruppe so zu positionieren, dass keine Zweifel an der eigenen Zugehörigkeit zu dieser Gruppe entstehen, ist man in dieser Situation doch mit seinen Aussichten auf Anerkennung und materielles Auskommen auf diese Gruppenzugehörigkeit reduziert:

“Individuals monitor others’ attitudes toward social coalitions, and hence toward the degree of support for routines, by feeling the amount of confidence and enthusiasm there is toward certain leaders and activities, or the amount of contempt for a weak one. The emotional energies are transmitted by contagion among members of a group, in flows which operate very much like the set of negotiations which produce prices within a market” (Collins 1983: 992).

Aus dieser Perspektive wird deutlich, wie wichtig eine bewusste Gestaltung der eigenen Lebenspraxis, die vorhersehbar zu einem bestimmten Lebenslauf führt, ist. Es ist eine bewusste Entscheidung darüber zu treffen, welche Ressourcen man erwirbt, um welche Gruppenzugehörigkeiten erreichen zu können, welche Koalitionen bilden zu können. Und je besser man diesbezüglich mit Bezug auf Ressourcen wie nachgefragte Kompetenzen, Professionalität und persönliche Autorität positioniert ist, Ressourcen, die man mit Bourdieu kulturelles und soziales Kapital nennen könnte, desto eher kann man selbst ein aktiver Agent sozialen Wandels (oder der Bewahrung sozialer Güter, je nachdem,) sein. Deshalb ist sozialer Wandel gerade nicht durch Personen oder Gruppen zu erwarten, die sich systematisch in Gegensatz zu allem stellen oder laienhaft imitieren, was zu einem bestimmten Zeitpunkt hohe Anerkennung genießt, oder anders gesagt: sozialer Wandel erfolgt nicht durch Protestgruppen, Sekten, Leute auf künstlich geschaffenen Arbeitsmärkten oder politischen Willen, sondern durch unzählige Interaktionsprozesse, in denen Menschen mit den oben genannten Ressourcen (und vermutlich noch einigen anderen) neue Normalitäten schaffen oder – wie Collins sagen würde: neue Ketten von Interaktionsritualen, die ihrerseits neue oder veränderte Organisationen und Institutionen hervorbringen. Sozialer Wandel erfolgt deshalb gewöhnlich nicht nur ungeplant, sondern tatsächlich nahezu unbemerkt. Ein Beispiel hierfür ist der m.E. gerade erfolgende soziale Wandel, der in einer umfassenden Demokratisierungswelle (besonders) in der westlichen Welt besteht, aber von etablierten Nutznießungsnetzwerken als „Populismus“ verkannt oder abgetan wird. Nur – wer sozialen Wandel nicht erkennen kann, kann ihn auch nicht mitgestalten.


Literatur

Collins, Randall, 2009: Violence: A Micro-Sociological Theory. Princeton, NJ: Princeton University Press.
(Deutsche Übersetzung: Collins, Randall, 2011: Dynamik der Gewalt: Eine mikrosoziologische Studie. Hamburg: Hamburger edition.)

Collins, Randall, 1983: Micromethods as a Basis for Macrosociology. Urban Life 12, 2: 184-202.

Collins, Randall, 1981: On the Microfoundations of Macrosociology. American Journal of Sociology 86, 5: 984-1014.


 

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