Pierre Bourdieu: Die Inszenierung der „öffentlichen Meinung“ durch Meinungsumfragen

von Dr. habil. Heike Diefenbach

Die öffentliche Meinung – sie schwebt über uns allen wie eine real existierende Größe, die Einfluss auf uns ausübt (oder ausüben soll). Aber ist sie das? Bzw. was genau soll mit „die öffentliche Meinung“ angesprochen sein, und warum sollte sie Einfluss auf uns ausüben?

Die öffentliche Meinung wird regelmäßig bemüht, wenn es darum geht, politische Maßnahmen oder Gesetze durchzusetzen, oder – allgemein – die Meinung von Menschen möglichst zu verändern oder die Menschen zumindest daran zu hindern, eine bestimmte, unerwünschte, Meinung zu formulieren. Sie soll also offensichtlich suggerieren, dass die jeweiligen Maßnahmen oder Gesetze dem „Volkswillen“ Rechnung tragen oder sie zumindest in Übereinstimmung mit ihm stünden; mit Bezug auf Meinungen soll die Rede von der öffentlichen Meinung suggerieren, es handle sich bei ihr um die Meinung der Mehrheit der Bevölkerung, womit sie einen Maßstab für das Ausmaß der Abweichung der eigenen Meinung von der Mehrheitsmeinung abgibt. In Gesellschaften, in denen Konformität als solche positiv bewertet bzw. Abweichung als solche suspekt ist, ist die öffentliche Meinung, verstanden als Meinung der Mehrheit der Bevölkerung, somit eine Kontrollgewalt.

Aber woher weiß man, dass die öffentliche Meinung, verstanden als Mehrheitsmeinung, tatsächlich die Mehrheitsmeinung ist? Diese Frage lässt sich natürlich nur empirisch beantworten. Aber in vielen, ich würde sagen: in den meisten, Fällen wird eine Mehrheitsmeinung als solche postuliert oder suggeriert, ohne dass jemals empirisch geprüft worden wäre, ob die angebliche Mehrheitsmeinung tatsächlich die Meinung der Mehrheit der Bevölkerung ist. Immerhin gibt es aber Fälle, in denen eine Meinung mit Verweis auf Ergebnisse aus der Umfrageforschung als Mehrheitsmeinung präsentiert wird.

Und es ist in diesem Zusammenhang, dass regelmäßig betont werden muss, dass die Umfrage „repräsentativ“ sei, also tatsächlich das Meinungsbild in der Gesamtbevölkerung abbilde, obwohl in einer Umfrage nur ein verschwindend geringer Teil der Gesamtbevölkerung zur in Frage stehenden Sache befragt wurde. Oder man meint, eine Umfrage sei „repräsentativ“, weil man sie hinterher „repräsentativ“ gemacht habe, indem man die Angaben bestimmter (Kategorien von) Befragten, aber nicht anderer, multipliziert (man nennt das großspurig „Gewichtungsverfahren“). Wir haben hier auf ScienceFiles – ebenso wie andere Sozialwissenschaftler wie z.B. Bar-Hillel (1984) und in Deutschland: Schnell (1993) – häufig auf die Unmöglichkeit, vom Bekannten auf das Unbekannte zu schließen, hingewiesen bzw. darauf, dass „Repräsentativität“ ein Leitprinzip ist, an dem man sich orientieren kann, aber sie niemals erreicht werden kann, ganz so wie die Suche nach endgültiger Wahrheit.

Nesselroade (1991: 99) drückt es so aus:

„Practically speaking, representative sampling in its loftiest sense will remain an ideal except in rare instances. Therefore, researchers must continue to seek ways to make the best of the biased samples their data comprise. Thus, arguments that we must be as clear as possible about the design and sampling limitations of each data set so that we can explicitly attend to them in comparing outcomes across data sets are directly to the point …”.

Und das ist nicht alles: da man je nachdem, wie man Fragen stellt und welche Antwortkategorien man vorgibt (oder nicht vorgibt), Antworttendenzen erzwingen kann. Auch hierauf haben wir auf ScienceFiles regelmäßig hingewiesen.

Jenseits dieser schwerwiegenden methodischen Einwände gegen die Feststellung der Mehrheitsmeinung kann man Zweifel anderer Art an der öffentlichen Meinung als Mehrheitsmeinung haben. Pierre Bourdieu hat solche Zweifel gehabt. Nach Bourdieu ist die öffentliche Meinung in keinem Fall die Mehrheitsmeinung, sondern bloß eine qualifizierte Mehrheitsmeinung – qualifiziert in dem Sinn, dass sie die Meinung der Mehrheit derer in der Gesellschaft ist, die „zählen“ (sollen), die „verdienen, eine Meinung zu haben“. Bourdieu schreibt:

„What is this public opinion …? Tacitly it is the opinion of all, of the majority, or of those who count, those who deserve to have an opinion. I think that the ostensible definition of a society with a claim to democracy, that is, that official opinion is the opinion of all, conceals a latent meaning, that public opinion is the opinion of those who deserve to have an opinion. There is a kind of qualified definition of public opinion as enlightened opinion, as opinion that deserves the name” (Bourdieu 2020: 61; Hervorhebung d.d.A.).

Und was gilt als eine “enlightened”, also „erleuchtete“ bzw. „aufgeklärte“ Meinung? Nach Bourdieu gilt als „enlightened“ Meinung die Meinung derer, die „offiziell“ sprechen, also von bestimmten Ämtern oder öffentlichen Positionen aus, unabhängig von den jeweiligen Inhalten von deren Meinungen. Typischerweise wird die „enlightened“ Meinung nicht als Meinung von Individuen verkündet, sondern eben als „offizielle“ Meinung der Einrichtung, Organisation, Kommission, Gruppe, und selbst dann wird sie nicht (bloß) als Meinung der Einrichtung etc. verkündet, sondern quasi als Aspekt des Richtigen oder Wahren, der sich (nur) den „Erleuchteten“, die die Einrichtung etc. bevölkern, mitteilt, oder anders gesagt: nicht diejenigen in diesen Einrichtungen haben diese Meinung, obwohl sie im Prinzip auch eine andere Meinung haben können, sondern diese Meinung existiert irgendwie selbständig als „an sich“ „richtige“ Meinung, und als solche teilt sie sich den „aufgeklärten“ Geistern mit, die ihre „Richtigkeit“ erkennen können:

„The logic of commissions is to create a group constituted in such a way that it gives all the outward signs, socially recognized and recognizable, official, of the capacity to express the opinion that deserves to be expressed, and in the form of conformity” (Bourdieu 2020: 61; Hervorhebung d.d.A.).

Die „richtige“, die „aufgeklärte“ Meinung wird daher per definitionem von öffentlichen Einrichtungen oder Stellen aus verkündet.

Obwohl Bourdieu mit Bezug auf die Verkündigung der nunmehr im Sinne des Wortes öffentlichen Meinung durch öffentliche Einrichtungen oder Stellen bzw. Repräsentanten öffentlicher Einrichtungen nicht von Elitismus spricht, dürfte offensichtlich sein, dass die Vorstellung von der „öffentlichen Meinung“ – anders als die oder sogar im Gegensatz zur Mehrheitsmeinung – eine ist, die der Vorstellung von einer „Elite“, die kraft Amt oder Position dazu befähigt ist, die „aufgeklärte“ bzw. „richtige“ Meinung zu erkennen, eng verbunden ist. (Und wer muss in diesem Zusammenhang nicht einmal mehr an Hillary Clintons „deplorables“ denken, die in ihrer – aus Clintons Sicht –mangelhaften Urteilsfähigkeit Trump-Anhänger sind?!)

Aber was, wenn die Mehrheitsmeinung – im eigentlichen Sinn, also im Sinn von „Meinung der Mehrheit der Menschen in der Bevölkerung“ – mit der „öffentlichen“ Meinung, also der „aufgeklärten“ Meinung derer, die von öffentlichen Ämtern oder Positionen aus sprechen, die man deshalb besser als „offizielle“ Meinung denn als „öffentliche“ Meinung bezeichnen würde, nicht übereinstimmt?

In einem politischen System, das sich zur Demokratie zumindest per Lippenbekenntnis bekennt, ist dies ein Problem, und deshalb muss der Widerspruch nach Kräften aufgelöst werden:

„Saying that ‚the polls are with us‘ is the equivalent of ‚God is with us’ in another context. But the polls are awkward, as sometimes enlightened opinion is against the death penalty, for example, whereas polls are rather for. What is to be done? A commission is set up. The commission constitutes an enlightened public opinion that will establish enlightened opinion as legitimate opinion in the name of public opinion – no matter that this says the opposite or has no opinion at all (which is the case with many subjects)” (Bourdieu 2020: 62).

Dass Menschen zu vielen Dingen, nach denen sie in Umfragen gefragt werden, keine Meinung oder keine nennenswert ausgeprägte Meinung haben, liegt nach Bourdieu daran, dass die Fragen, die sie gestellt bekommen, nicht “ihre” Fragen sind, also keine Fragen, die sie sich selbst stellen. Vielmehr sind es die Fragen, die der „öffentlichen“ bzw. „aufgeklärten Meinung“ entsprechend wichtig erscheinen.

Nach Bourdieu ist genau das der Grund, warum es oft gelingt, durch Umfragen diejenigen Antworten zu generieren, die die „richtigen“ Antworten auf die Fragen, die die „Aufgeklärten“ stellen, sind:

„One of the characteristics of opinion polls is that they present people with questions that they do not ask themselves, that they slip in answers to questions that people have not asked, and in this way impose these answers. It is not a question of bias in the samples taken, but the fact of imposing all these questions that are asked by the enlightened opinion, and thereby producing answers from everyone on problems that only certain people pose, thus giving enlightened responses since these have been produced by the questions itself. Questions have been brought into existence for people that did not exist before for them, whereas the real question is what questions did exist for them” (Bourdieu 2020: 62).

Diese letzte, “echte” Frage mag diejenige sein, die den Soziologen interessiert, aber sie ist gewöhnlich nicht diejenige, die von Interesse für diejenigen ist, die „offiziell“ sprechen, d.h. von offiziellen Ämtern oder Positionen aus.

Warum sollte das so sein? Nach Bourdieu ist das so, weil offizielle Einrichtungen ihrem Eigeninteresse folgen. Bourdieu formuliert das Argument mit Bezug auf die Besetzung von Kommissionen wie folgt:

„One of the most important tacit criteria in the selection of members of a commission, particularly its chair, is the intuition of the people in charge of the composition of the commission that the person in question knows and recognizes the tacit rules of the bureaucratic world. In other words, someone who knows how to play the game of the commission in the legitimate fashion, which goes beyond the rules and the game, which legitimizes the game … The dominant group coopts members on minimal indexes of behaviour that are the art respecting the rules of the game in the regulated transgressions of these rules: correct behaviour, bearing. In Chamfort’s famous phrase, ‘the priest must believe, the canon may have doubts, the cardinal can be an atheist’. The higher you rise in the hierarchy of dignitaries, the more you can play with the rules of the game, but ex officio, on the basis of a position that is beyond any doubt” (Bourdieu 2020: 61-62; Die erste Hervorhebung d.d.A., die zweite im Original).

Für Bourdieu ist das ein soziales Gesetz, das in fast jeder Gesellschaft gilt:

„In relation to the Kabyles [einer Berbergruppe in Algerien], as well as to the intellectual world, I have used the formula that excellence, in most societies, is the art of playing with the rules of the game, using this playing with the rules of the game to render a supreme homage to the game. The controlled transgressor is the complete opposite of the heretic” (Bourdieu 2020: 62).

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Und tatsächlich ist die Fähigkeit zur kontrollierten Regelübertretung oder Beugung der Regeln – und besonders in einer pluralistischen Gesellschaft – notwendig oder nützlich, wenn es darum geht,

„… of transforming a sum of ethical idiolects into a universal discourse that will fill a legal vacuum, that is, provide an official solution to a difficult problem that is shaking society …“ (Bourdieu 2020: 62).

Nach Bourdieus eigener Logik wäre allerdings zu fragen, ob das „schwierige Problem“, dessen (Auf-/)Lösung ein gewisses Maß an Regelübertretung oder –beugung erfordert, nicht wieder eines der Anliegen derer ist, die sich für „aufgeklärt“ halten und meinen, ihr Anliegen zu einem allgemeinen, gesellschaftlichen Anliegen machen zu müssen. Warum wäre das problematisch? Es wäre schon deshalb problematisch, weil es sehr negative praktische Folgen haben kann, denn in diesem Fall hätte die (Auf-/)Lösung des Problems keine gesellschaftlich integrierende Funktion, sondern im Gegenteil: eine spaltende, oder in Bourdieus Worten formuliert: eine die „öffentliche Meinung“ und die Mehrheitsmeinung spaltende Wirkung.

Wie dem auch sei – Bourdieu kommt das Verdienst zu, statt wie so viele Soziologen, die die öffentliche Meinung nach Kräften in die Mehrheitsmeinung zu überführen versuchen und Erstere dadurch legitimieren wollen, erstens auf den Unterschied und den potenziellen Gegensatz zwischen öffentlicher Meinung und Mehrheitsmeinung hingewiesen zu haben, zweitens darauf, dass es für „Offizielle“ in demokratischen Systemen besonders wichtig ist, die öffentliche Meinung als Mehrheitsmeinung zu inszenieren, und drittens, welche Bedeutung dabei Meinungsumfragen zukommt.

Auch über rhetorische Mittel, anhand derer es „Offiziellen“ gelingt, „öffentliche Meinung“ als Mehrheitsmeinung zu inszenieren, hat Bourdieu geschrieben. Aber darüber wird demnächst in einem anderen Zusammenhang etwas zu sagen sein.


Literatur:

Bar-Hillel, Maya, 1984: Representativeness and Fallacies of Probability Judgment. Acta Psychologica 55(2): 91-107.

Bourdieu, Pierre, 2020: On the State: Lectures at the Collège des France, 1989-1992. Cambridge: Polity Press.

Nesselroade, John R., 1991: Interindividual Differences in Intraindividual Change, S. 92-105 in Questions: Collins, Linda M., & Horn, John L. (Hrsg.): Best Methods for the Analysis of Change: Recent Advances, Unanswered, Future Directions. Washington, DC: American Psychological Association.

Schnell, Rainer, 1993: Homogenität sozialer Kategorien als Voraussetzung für „Repräsentativität“ und Gewichtungsverfahren. Zeitschrift für Soziologie 22(1): 16-32.


Mehr zu Pierre Boiurdieu auf ScienceFiles: Spielverderber von Beruf: Was den Soziologen nach Pierre Bourdieu ausmacht


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