Wissenschaftsfreiheit in Zeiten der Konformität: Buchrezension

Joanna Williams, 2016: Academic Freedom in an Age of Conformity: Confronting the Fear of Knowlege. Basingstoke: Palgrave Macmillan. 28,88 € bei amazon.de

Im Jahr 2023 ein Buch zu besprechen, das 2016 verfasst wurde, kann schwerlich durch seine Aktualität motiviert sein!?

Doch, kann es!

Das 224 Seiten starke Buch mit dem Titel “Academic Freedom in an Age of Conformity: Confronting the Fear of Knowlege”, das Joanna Williams vor sieben Jahren bei Palgrave Macmillan veröffentlicht hat, ist heute so aktuell wie damals, denn heute wie damals wird an vielen Universitäten und von vielen an Universitäten Lehrenden oder Forschenden die Idee der Wissenschaft gegenüber dem, was oft – und m.E. oft fälschlich – als „soziale Gerechtigkeit“ bezeichnet wird, in den Hintergrund gedrängt, und sie sind bereit, andere und sich selbst zu zensieren. Heute wie damals bleibt die Idee der Wissenschaft und mit ihr die Idee der Wissenschaftsfreiheit bzw. „academic freedom“, wie die Autorin des Buches durchgängig schreibt, auf der Strecke, wenn es darum geht, studentische „Kunden“ für den Universitätsbesuch anzuwerben, Sponsoren zufriedenzustellen und Forschungsmittel einzuwerben, die oft zweckgebunden vergeben werden – samt vorgegebener Listen mit abzuarbeitenden Fragestellungen, schlecht verhüllter Vorgaben (die oft bereits in den Prämissen für die Relevanz der Forschung verankert sind) und vom Finanzierer erwarteter (oder treffender: erwünschter) Ergebnisse der „Forschung“.

Von all dem handelt das Buch von Williams, und all dies beschreibt und diskutiert sie unter der leitenden Frage nach der Bedeutung von Wissenschaftsfreiheit in der und für die Höhere Bildung, speziell an Universitäten und Hochschulen. Ihre Zielsetzung dabei ist:

“… to provide a defence of academic freedom, particularly in the humanities and social sciences, at a time when the concept of disciplinary knowledge is under threat from an intellectual relativism and a desire to curtail debate” (Williams 2016: 15),

d.h.

„… eine Verteidigung der akademischen Freiheit vorzunehmen, insbesondere in den Geistes- und Sozialwissenschaften, in einer Zeit, in der das Konzept des disziplinären Wissens durch intellektuellen Relativismus und den Wunsch, die Debatte einzuschränken, bedroht ist“ (Williams 2016: 15).

Das Buch ist nicht nur – vielleicht nicht einmal: vor allem – für diejenigen interessant, die speziell an einer Diskussion von Wissenschaftsfreiheit interessiert sind, sondern (auch) für jeden, der den Eindruck hat, dass Höhere Bildung und insbesondere Universitäten ihren Sinn verloren haben und mehr gesellschaftlichen Schaden als Nutzen anrichten, aber die Entwicklungen, die hierzu geführt haben, bzw. die Gründe hierfür nicht so recht benennen kann. Williams benennt eine ganze Reihe dieser Entwicklungen. Leider gibt es dieses m.E. sehr lesenswerte Buch von Joanna Williams nicht in deutscher Übersetzung, und dies rechtfertigt m.E. eine etwas ausführlichere Rezension des Buches für deutschsprachige Leser.


Neben einer Einführung enthält das Buch von Williams drei Teile mit insgesamt sieben Kapiteln und einen Schlussteil, in dem sie ihre Schlussfolgerungen aus dem zuvor Dargestellten zieht. Teil I des Buches enthält zunächst – in Kapitel 1 – eine kurze Darstellung der historischen  Entwicklung der Idee der Wissenschaftsfreiheit seit dem Mittelalter, wobei Williams vor allem auf die Entwicklung in den USA und im Vereinigten Königreich eingeht, aber auch Verweise auf die entsprechende Entwicklung in Deutschland bietet, die zu verschiedenen historischen Zeitpunkten für die Entwicklung der Idee von der Wissenschaftsfreiheit auch in den USA und im Vereinigten Königreich prägend gewesen ist. Williams beschreibt in diesem Zusammenhang, wie die Auffassung davon, was Wissenschaftsfreiheit bedeutet, sich in Reaktion auf soziale und politische Entwicklungen und im Zuge einer Veränderung der Auffassung über die Aufgaben von Höherer Bildung bzw. universitärer Bildung gewandelt hat. Über die – zum Zeitpunkt, zu dem das Buch geschrieben wurde, wie heute – aktuellen Verhältnisse schreibt sie u.a.:

“Today we see a decline in state funding for higher education in parallel with a period of dramatic growth in student numbers, alongside a managerialist demand that, as ‘consumers’, students must be ‘satisfied’ with their university experience. We also see a ‘casualization’ of the academic labour force so that tenured positions are no longer the norm, and an increasingly competitive market for research money that allows funding bodies and editorital boards to determine topics, if not direction, of investigations. Each of these factors shifts the purpose of higher education and the status of academic freedom” (Williams 2016: 52).
„Heute beobachten wir einen Rückgang der staatlichen Mittel für die Hochschulbildung, der in einer Periode dramatischen Wachstums der Studentenzahlen samt mit der Forderung des Managements, dass die Studenten als ‚Konsumenten‘ mit ihrer Universitätserfahrung ‚zufrieden‘ sein müssen, stattfindet. Wir beobachten auch, dass an Universitäten Beschäftigte immer mehr zu ‚Gelegenheitsarbeitern‘ werden, so dass unbefristete Stellen nicht mehr die Norm sind, und einen zunehmend wettbewerbsorientierten Markt für Forschungsgelder, der es den Finanzierungseinrichtungen und Redaktionsausschüssen ermöglicht, die Themen, wenn nicht sogar die Richtung, der Untersuchungen zu bestimmen. Jeder dieser Faktoren führt zu einer Veränderung des Zwecks der Hochschulbildung und des Status der akademischen Freiheit“ (Williams 2016: 52).

Der Zweck der Hochschulbildung, so führt Williams in Kapitel 2 des Buches aus – das mit „Conformity in the Academy“, d.h. etwa „Konformität in der Höheren Bildung“, überschrieben ist –, ist nun nicht mehr, Studenten bei der Entwicklung ihres Urteilsvermögens zu unterstützen und ihnen das Rüstzeug mitzugeben, Wissensfortschritt zu erzielen, sondern ihnen instrumentelles Wissen bzw. „skills“, d.h. „Fähigkeiten“ oder „Fertigkeiten“, zu vermitteln, die sie auf dem Arbeitsmarkt vermittelbar macht, oder sie in einen bestimmten Wertekanon samt der mit ihm verbundenen Sprachregeln und Denkverbote hinein zu sozialisieren (Williams 2016: 79).

Überhaupt sei Wissen in den vergangenen Jahrzehnten zunehmend als soziale Konstruktion dargestellt worden, die bloß kulturellen Gewohnheiten, Geschmäckern oder Vor-Urteilen oder Präferenzen einer „sozialen Elite“ („social elite“; Williams 2016: 65) Ausdruck gebe, so dass jedes Wissen gleichermaßen akzeptabel und respektabel sei, weil jedes Wissen gleichermaßen ideologisch fundiert sei. Die Vorstellung von Wissen als – im Gegensatz zum Irrtum – auf eine unserer Welt zugrundeliegende Wahrheit verweisendes Wissen, Wissen als objektives Wissen, sei seit den 1970er-Jahren als Leitbild für die Höhere Bildung zunehmend aufgegeben worden (Williams 2016: 64-65).

Vor diesem Hintergrund beobachtet Williams, dass

“…academic freedom has become increasingly problematic as a concept and troublesome in practice” (Williams 2016: 52),

d.h.

„… Wissenschaftsfreiheit […] als Konzept zunehmend problematisch und in der Praxis lästig geworden [ist]“ (Williams 2016: 52),

denn

“… the overt promotion of values creates an orthodoxy whereby some topics are placed beyond challenge … Staff and students who disagree with the political agenda being propounded are under pressure to self-censor in order to ensure success, or opt out and leave the academy” (Williams 2016: 74).
„… die offenkundige Werbung für [bestimmte] Werte schafft eine Orthodoxie, durch die einige Themen nicht mehr in Frage gestellt werden können … Mitarbeiter und Studenten, die mit der propagierten politischen Agenda [denen diese Werte verbunden sind] nicht einverstanden sind, stehen unter dem Druck, sich selbst zu zensieren, um ihren Erfolg zu sichern, oder Einrichtungen [sog.] Höhrere Bildung zu verlassen“ (Williams 2016: 74).

Weil von in diesen Einrichtungen Lehrenden und Forschenden erwartet wird,

“… to demonstrate obedience and obsequiousness to students, funders, publishers and managers alike” (Williams 2016: 79),

d.h. dass sie

„… gegenüber Studenten, Geldgebern, Verlegern und Managern gleichermaßen Gehorsam und Unterwürfigkeit zeigen“ (Wiliams 2016: 79),

stehen sie unter einem enormen Konformitätsdruck, der ihnen die freie Rede und damit u.a. die Auswahl des für ein Thema relevanten Lehrmaterials nach bestem Wissen und Gewissen statt nach Passung zu den an der Einrichtung beworbenen Werten oder von ihr vorgegebenen Regeln nahezu verunmöglicht. Dass die Mehrheit der Akademiker diesem Konformitätsdruck nachgeben, führt Williams vor allem auf zwei Gründe zurück, nämlich

“… a degree of moral cowardice and a loss of any sense of higher education as having an overarching sense of purpose” (Williams 2016: 79),

Flagellanten
By Gianfranco Vitolo from Sarno (Sa), Italia – Guardia Sanframondi, CC BY 2.0

d.h.

„… ein gewisses Maß an moralischer Feigheit und einen Verlust des Gefühls, dass Höhere Bildung irgendeinen übergreifenden Sinn und Zweck hat“ (Williams 2016: 79).

Vor dem Hintergrund der während der vergangenen Jahrzehnte fortschreitenden Diskreditierung von Wissen und Wahrheit als handlungsleitende Konzepte in der Höheren Bildung hat Höhere Bildung nur noch für diejenigen Akademiker einen übergreifenden Sinn, die “proud of their credentials as campaigners”, d.h. „stolz auf ihre als Referenzen als Aktivisten“ , sind, und für die “no apparent boundary between teaching and promoting a political cause”, d.h. „keine erkennbare Grenze zwischen Lehre und Werbung für ein politisches Anliegen/Ziel“ besteht (Williams 2016: 52). In solchen Verhältnissen ist die Selbstzensur für viele Akademiker der einfachste Weg:

“Such self-censorship takes a number of forms, including suppression of research or teaching material that may be considered controversial. More often it is less about suppressing material than not raising particular issues in the first place, or bringing work into line with the expectations of funding councils, journal editorial boards, colleagues and students … academics are rewarded in terms of career success if they conform, and punished for idiosyncrasy if they do not” (Williams 2016: 55).
„Eine solche Selbstzensur kann verschiedene Formen annehmen einschließlich der Unterdrückung von Forschungs- oder Lehrmaterial, das als kontrovers angesehen werden könnte. Häufiger geht es weniger darum, Material zu unterdrücken, als vielmehr darum, bestimmte Themen gar nicht erst anzusprechen oder die Arbeit mit den Erwartungen von Fördergremien, Zeitschriftenredaktionen, Kollegen und Studenten in Einklang zu bringen … Akademiker werden im Hinblick auf ihren beruflichen Erfolg belohnt, wenn sie sich anpassen, und für ihre Eigenheit bestraft, wenn sie dies nicht tun“ (Williams 2016: 55).

Es ist daher nicht überraschend, dass Williams am Ende von Kapitel zwei und Teil I ihres Buches zu der Einschätzung kommt:

„Today there are few formal restrictions preventing academics saying or writing whatever they want … It is not fear of libel which curtails debate; rather, it is the reluctance of many academics to say anything controversial at all … Today, the biggest threats to the freedom to exercise judgment come from within universities. Academics themselves, particularly those who conceive of their role as scholar-activists, are at the forefront of enforcing censorship” (Williams 2016: 79-80).
“Heutzutage gibt es nur wenige formale Einschränkungen, die Akademiker daran hindern, zu sagen oder zu schreiben, was sie wollen … Es ist nicht die Angst vor Verleumdung, die die Debatte einschränkt; es ist vielmehr der Widerwille vieler Akademiker, überhaupt etwas Kontroverses zu sagen … Die größten Bedrohungen für die Freiheit, sich ein eigenes Urteils zu bilden, kommen derzeit aus den Universitäten selbst. Akademiker, insbesondere diejenigen, die sich eine Rolle als wissenschaftliche Aktivisten zuschreiben, stehen in der ersten Reihe bei der Durchsetzung der Zensur” (Williams 2016: 79-80).

Für den eiligen Leser würde die Lektüre von Teil I des Buches insofern ausreichen als in ihm das Wichtigste von dem, was Williams in ihrem Buch zu sagen hat, gesagt ist. Aber er würde die Ausführungen versäumen, die Williams in Teil II und Teil III des Buches zu den genannten Punkten macht. In ihnen vertieft die Autorin diese Punkte, führt sie aus, liefert zusätzliche Argumente dafür, warum die Mißstände in der Höheren Bildung, die sie benennt, tatsächlich als Mißstände zu werten sind, und warum sie letztlich den Sinn von Höherer Bildung aushöhlen. Dies bringt notwendigerweise Redundanzen mit sich, aber in jedem Kapitel von Teil II und Teil III ihres Buches liefert Williams zusätzliche Informationen, Beispiele, Argumente zu den Punkten, die sie machen will, und beleuchtet, wie einzelne Erscheinungen und Entwicklungen, die in der Höheren Bildung in den vergangenen Jahrzehnten zu beobachten waren, zur Bagatellisierung von Wissenschaftsfreiheit und Sinnentleerung Höherer Bildung geführt haben.

Teil II des Buches umfasst zwei Kapitel, die sich mit der Bedeutung wissenschaftlicher Disziplinen oder Fachbereiche für Erkenntnisfortschritt oder Wissensfortschritt in Richtung objektiver Wahrheit befassen und mit den Folgen der Entwicklung hin zu Interdisziplinarität für Wissensfortschritt und Wissenschaftsfreiheit.

In Kapitel 3 (dem ersten Kapitel von Teil II) weist Williams darauf hin, dass die Rede von wissenschaftlichen oder Fach-Disziplinen nicht zufällig das Wort „Disziplin“ enthält und insofern auf die Notwendigkeit verweist, bestimmte Regeln, Arbeits- und Denkweisen zu beachten, die innerhalb eines Fachgebietes Geltung haben und auf deren Einhaltung der Wissensfortschritt in einem Fachgebiet aufbaut (Williams 2016: 85). Die Ausbildung von Studenten in einem Fachgebiet macht sie mit den Regeln, Arbeits- und Denkweisen in diesem Fachgebiet bekannt, und Vertreter eines Fachgebietes identifizieren sich mit ihm (statt mit der Einrichtung, an der sie angestellt sind,) oder genauer: mit den spezifischen Inhalten, die das bestehende Wissen in dieser Disziplin abbilden, aber vor allem mit den – weniger veränderlichen – Regeln, Arbeits- und Denkweisen, die im Fachgebiet herrschen (Williams 2016: 84-86).

Seit den 1960er-Jahren und speziell während der letzten drei, vier Jahrzehnte, sind immer mehr interdisziplinäre Studiengänge wie z.B. „Cultural Studies“, in Deutsch oft als „Kulturwissenschaft“ bezeichnet, oder „Wirtschaftsinformatik“ oder „Biowissenschaft“ geschaffen worden, was oft sehr vage mit „zunehmender Vernetzung und Globalisierung der Informationsgesellschaft“ begründet wurde und wird, mit Vorstellungen von wissenschaftlichen Disziplinen als Elfenbeintürme, in denen Wissen gesammelt werde, das praktisch mehr oder weniger irrelevant sei. Williams vermutet, dass Studenten interdisziplinäre Studiengänge wählen, weil sie sich davon bessere Einstellungschancen auf dem Arbeitsmarkt versprechen (Williams 2016: 87), aber sie sieht mit der Ausweitung interdisziplinärer Studiengänge die Gefahr verbunden, dass Kritikfähigkeit verloren geht:

“As the specific practices of an academic discipline emerge from an historical concept of knowledge, the collective norms [of a discipline] provide a means of challenging existing understandings and developing new ideas. In this light, the questioning of rules associated with academic disciplines, and the increasingly blurred boundaries between subjects, can leave scholars [and students] without a structured framework for criticality and unable to challenge existing understandings or make truth claims in relation to new knowledge. While the norms associated with disciplinary structures stand accused of enforcing consensus, ironically, abandoning such norms can also lead to the creation of a culture of conformity because the basis for criticism is rejected” (Williams 2016: 87).
„Da die spezifischen Praktiken einer akademischen Disziplin aus einem historischen Wissenskonzept hervorgehen, bieten die kollektiven Normen [einer Disziplin] die Möglichkeit, bestehende Auffassungen in Frage zu stellen und neue Ideen zu entwickeln. Vor diesem Hintergrund kann die Infragestellung von Regeln, die mit akademischen Disziplinen verbunden sind, und die zunehmend verschwimmenden Grenzen zwischen den Fächern dazu führen, dass Wissenschaftler [und Studenten] ohne einen strukturierten Rahmen für Kritikfähigkeit dastehen und nicht in der Lage sind, bestehende Erkenntnisse in Frage zu stellen oder Wahrheitsansprüche in Bezug auf neues Wissen zu stellen. Während den mit disziplinären Strukturen verbundenen Normen vorgeworfen wird, einen Konsens zu erzwingen, kann die Aufgabe solcher Normen ironischerweise auch zur Schaffung einer Kultur der Konformität führen, weil die Grundlage für Kritik abgelehnt wird“ (Williams 2016: 87).

Der Rest von Kapitel 3 enthält eine Darstellung der historischen Entwicklung der Fachdisziplinen an Universitäten, wobei Williams der Literaturwissenschaft und der Soziologie eigene Unterkapitel widmet und im letzten Unterkapitel von Kapitel 3 zeigt, wie beide den Weg zu den „Cultural Studies“ geebnet haben, die Williams (Halsey 2004: 19 folgend) als “… blend of sociology and literary criticism …“ (s. Williams 2016: 106), d.h. eine Mischung aus Soziologie und Literaturkritik, ansieht. Bei dieser Mischung handelt es sich nicht um eine Wissenschaft, sondern eine diskursive Praxis, in der „Stimmen“ und Erfahrungen in mehr oder weniger beliebiger Weise in Interpretationen verarbeitet werden, denen wiederum andere „Stimmen“ und Erfahrungen als prinzipiell gleichwertig und gleichermaßen „wahr“ beigesellt werden können In der Folge hat sich der Anspruch auf den Erwerb von Wissen (außer sogenanntem positionierten, also subjektiven, Erfahrungswissens) in den Geistes- und teilweise in den Sozialwissenschaften aufgelöst:

“The persistent trope of the humanities in crisis that has dominated recent decades is reflective of the decentring of universal man from the university, and with it any notion of truth that goes beyond individual experience …. Any aspiration towards truth and objectivity has been replaced by the values of promoting cultural difference and diversity considered essential to a democratic community” (Williams 2016: 106-107).
Die in den letzten Jahrzehnten immer wiederkehrende Rede von den Geisteswissenschaften in der Krise spiegelt die Verdrängung des universellen Menschen aus dem Zentrum der Universität wider, und damit auch jeder Vorstellung von Wahrheit, die über die individuelle Erfahrung hinausgeht …. Jegliches Streben nach Wahrheit und Objektivität wurde durch die Werte der Förderung kultureller Unterschiede und Vielfalt ersetzt, von denen angenommen wird, dass sie wesentlich für eine demokratische Gemeinschaft seien“ (Williams 2016: 106-107).

Mit dem Verschwinden der Fachdisziplinen entfallen nach Williams zum einen die Grundlagen, auf denen Kritik (im Sinne von argumentativer Auseinandersetzung) stattfinden kann, denn es sind die Fachdisziplinen, in denen methodologische Parameter für Wissenserwerb entwickelt wurden und ihnen Geltung verschafft wurde und wird. Zum anderen wird mit dem Verschwinden von Fachdisziplinen Forderungen nach Wissenschaftsfreiheit der Boden entzogen, denn letztere haben sich in und im Zusammenhang mit Fachdisziplinen entwickelt, so schreibt Williams am Ende von Kapitel 3 (auf Seite 109).

“What remains is simply an array of alternative views, all of which are equally valid, none of which seeks to compete with any other. There is no longer a useful marketplace for ideas, nor any need for one” (Williams 2016: 109).

D.h.

„Was bleibt, ist lediglich eine Menge von alternativen Ansichten, die alle gleichermaßen gültig sind und von denen keine versucht, mit einer anderen zu konkurrieren. Es gibt keinen nützlichen Marktplatz für Ideen mehr, und es besteht auch keine Notwendigkeit für einen solchen“ (Williams 2016; 109).

Im vergleichsweise kurzen Kapitel 4 – es umfasst etwas mehr als siebzehn Seiten – thematisiert Williams zunächst die positiven Funktionen, die Fachdisziplinen für Wissensfortschritt und für akademische Freiheit haben, nochmals etwas ausführlicher. Mit Bezug auf Letzteres hält sie fest, dass Fachdisziplinen historisch die Aufgabe zukam, ihre Vertreter vor „… external pressures“ (Williams 2016: 112), d.h. vor Druck von außen, zu schützen. Sie fungierten als Kooperations- und Solidargemeinschaften: ihre Mitglieder erwarben sich den (moralischen) Anspruch auf Solidarität und Schutz vor Druck von außen durch ihren Beitrag zum Wissensfortschritt im Fach, der seinerseits durch eine gemeinsame Wissens- und methodologische Grundlage ermöglicht wurde, auf der die gegenseitige Kritik und damit die Beurteilung neuer Theorien und mit ihnen verbundene empirische Arbeiten stattfinden konnte (Williams 2016: 112-113). Besonders im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts seien Fachdisziplinen aber in die Kritik geraten:

“… academic disciplines are chiefly criticized for being too inward-looking and lacking relevance to students’ future employment needs; for acting as isolated silos reluctant to embrace knowledge and methods from across subject boundaries; and for being unsuited for finding solutions for today’s complex real world problems” (Williams 2016: 116).

D.h.

„… den akademischen Disziplinen wird vor allem vorgeworfen, dass sie zu sehr nach innen gerichtet sind und keine Relevanz für die künftigen beruflichen Bedürfnisse der Studenten haben; dass sie als isolierte Silos [bzw. Elfenbeintürme] agieren, die Wissen und Methoden aus anderen Fächern nur zögerlich oder gar nicht zu übernehmen bereit sind; und dass sie nicht geeignet sind, Lösungen für die komplexen Probleme der heutigen realen Welt zu finden“ (Williams 2016: 116).

Wie Williams beschreibt, ist der Ruf nach Überwindung der fachlichen „Enge“ (“narrowness”; Williams 2016; 117) so alt wie die Fachdisziplinen selbst, die zeitgenössische Reaktion auf diese „Enge“ durch Einrichtung interdisziplinärer Fachgebiete aber nicht dazu geeignet, die „Enge“ zu überwinden. Nachdem Williams (2016: 119-122) gezeigt hat, dass die „Cultural Studies“ als erstes an Universitäten etabliertes interdisziplinäres Gebiet von Anfang an ein politisch motiviertes Projekt gewesen sind, erklärt sie, warum „Cultural Studies“ ebenso wie andere „Studies“ ihrerseits Konformität erzeugen:

“One problem with such interdisciplinary studies is that lacking a particular knowledge base, collectively held theoretical assumptions or methodological approaches, they can easily become intellectually vacuous and filled by their proponents‘ political ideologies …The politicization of academic work means the subject community becomes less a marketplace of ideas and more a means of ensuring conformity to a particular political outlook … As interdisciplinary fields become increasingly established, they develop distinct leanings which reflect the perspectives and interests of their members. The field then replicates such perspectives and viewpoints through regulating entry and controlling the outputs of its members” (Williams 2016: 123-124).
„Ein Problem mit solchen interdisziplinären Studien ist, dass sie ohne eine bestimmte Wissensbasis, ohne gemeinsam vertretene theoretische Annahmen oder methodische Ansätze leicht intellektuell leer werden und von den politischen Ideologien ihrer Befürworter gefüllt werden können … Die Politisierung der akademischen Arbeit bedeutet, dass die Fachgemeinschaft weniger ein Marktplatz der Ideen als vielmehr ein Mittel zur Sicherstellung der Konformität mit einer bestimmten politischen Anschauung wird … Mit zunehmender Etablierung interdisziplinärer Fachgebiete entwickeln diese eine eigene Ausrichtung, die die Perspektiven und Interessen ihrer Mitglieder widerspiegelt. Das Fachgebiet reproduziert dann diese Perspektiven und Standpunkte, indem es den Zugang regelt und die Ergebnisse seiner Mitglieder kontrolliert“ (Williams 2016: 123-124).

Und wenn die Perspektiven und Standpunkte der Mitglieder, eben weil sie keine Wissensbasis oder Methodologie miteinander teilen, lediglich ideologische oder politische Perspektiven sind, dann werden Ideologie und Politik zum Kern der jeweiligen „Studies“, ganz so wie dies u.a. von Stuart Hall mit Bezug auf die „Cultural Studies“ beabsichtigt war (Williams 2016: 122).

“In recent years interdisciplinarity has often come to be about little more than either an instrumental means of meeting the requirements of funding bodies or attracting new student-customers. This is more about narrow specialization than broadening out academic debates. In such instances the creation of an interdisciplinary community of like-minded individuals can reproduce the drive to conformity inherent in disciplines, while losing the corresponding drive to advance knowledge” (Williams 2016: 124).
„In den letzten Jahren ist Interdisziplinarität oft nur noch ein Mittel zu dem Zweck, die Anforderungen von Geldgebern zu erfüllen oder neue studentische Kunden zu gewinnen … Dabei geht es eher um eine enge Spezialisierung als um eine Ausweitung der akademischen Debatten. In solchen Fällen kann die Schaffung einer interdisziplinären Gemeinschaft Gleichgesinnter den den Disziplinen innewohnenden Drang zur Konformität reproduzieren, während der entsprechende Drang zum Wissensfortschritt verloren geht“ (Williams 2016: 124).

Williams votiert vor diesem Hintergrund dafür, Fachdisziplinen gegenüber interdisziplinären thematisch spezifischen „Studies“ zu verteidigen (Williams 2016: 124-127). Und mit diesem Votum enden Kapitel 4 (und damit Teil II) des Buches.

Im die Kapitel 5 bis 7 umfassenden Teil III des Buches betrachtet Williams die Folgen, die politische Trends der letzten Dekaden, die sich als pseudo-akademisierte politische Theorien präsentiert und in politischem Aktivismus niedergeschlagen haben, für den Wissenserwerb/-fortschritt, für Kritik als das Mittel hierzu und für wissenschaftliche Freiheit hatten.

In Kapitel 5 betrachtet Williams die Entwicklung der sogenannten „Critical Theory“ bzw. „Kritischen Theorie“, die von Williams jedoch – in Übereinstimmung mit dem anti-aufklärerischen Charakter dieser Theorie, den sie in diesem Kapitel aufzeigt –, als “Uncritical Theory”, d.h. „Unkritische Theorie“, bezeichnet wird. Williams beginnt dieses Kapitel mit der Feststellung, dass es seit der Aufklärung immer wieder anti-aufklärerische gesellschaftliche Tendenzen in gegeben habe wie z.B. den Romantizismus. Für die Wissenschaft gelte, so Williams:

“The academy, initially slow to co-opt Enlightenment values, took longer to develop a recognizably coherent counter-Enlightenment position of its own. The emergence of Critical Theory in the twentieth century marked such a transition” (Williams 2016:132),

d.h.

„Die institutionalisierte Wissenschaft, die anfangs nur langsam die Werte der Aufklärung übernahm, brauchte länger, um eine erkennbar kohärente eigene Gegenposition zur Aufklärung zu entwickeln. Das Aufkommen der Kritischen Theorie im zwanzigsten Jahrhundert markierte einen solchen Übergang.“

Die von Frankfurt ausgehende sogenannte Kritische Theorie und später der Post-Strukturalismus, so Williams, hätten zwar vordergründig individuelle Freiheit verfochten, aber gleichzeitig die Autonomie des Individuums zurückgewiesen; der Kapitalismus, so behaupteten Horkheimer und Adorno, schaffe lediglich die Illusion von Wahlmöglichkeiten und individueller Autonomie. Und vor allem hätten sie aufgrund ihrer Zurückweisung von Wahrheitsansprüchen und des daraus folgenden Relativismus ihre Fähigkeit aufgeben, tatsächlich kritisch sein zu können: im Relativismus kann man Präferenzen haben, aber nicht Recht oder Unrecht, und Präferenzen anderer Leute kann man nur die eigenen entgegenstellen, aber man kann sie nicht kritisieren; de gustibus non est disputandum, – und damit hätte auch Wissenschaftsfreiheit ihren Sinn verloren, denn Wissenschaftsfreiheit bezieht sich notwendigerweise auf die Freiheit, Kritik zu üben (Williams 2016: 132).

Darüber hinaus hätte die Frankfurter Schule mit ihrer Betonung des Einflusses von Worten und Bildern (z.B. im Rahmen von Werbung, wie in der „Dialektik der Aufklärung“ von Horkheimer und Adorno aus dem Jahr 1944 behauptet wird) den Weg geebnet für die Vorstellung, dass die Art, wie Menschen die Realität wahrnehmen, stark durch Worte und Bilder bestimmt sei und sie dementsprechend durch die gezielte Manipulation von Worten und Bildern veränderbar sei, was später zu Zensur, besonders zu Sprachzensur, im Rahmen politischer Korrektheit geführt habe:

“Although far from the intention of Critical Theorists, this view would later contribute towards a justification for restrictions on free speech and academic freedom” (Williams 2016: 133),

d.h.

„Obwohl dies nicht in der Absicht der Kritischen Theoretiker lag [hoffen wir, dass Williams damit Recht hat!], trug diese Sichtweise später zur Rechtfertigung von Einschränkungen der Redefreiheit und der akademischen Freiheit bei“ (Williams 2016: 133).

Auf der Basis der Vorstellung (und dabei Karl Marx folgend) von einer Arbeiterklasse, die mit einem „falschen“ Bewusstsein ausgestattet sei und der vermeintlichen Illusion individueller Freiheit, die der Kapitalismus bzw. die Konsumindustrie vorgaukeln würde, entwickelte die Frankfurter Schule nicht nur die Vorstellung von einer geteilten Gesellschaft (weiter), sondern etablierte die Vorstellung von einer nach Bewusstseinsgrad oder Erkenntnisfähigkeit hierarchisierten Gesellschaft:

“We can see how a distinction begins to emerge between ‘us’ and ‘them’; between those with insight into the system and those who have been duped; between subjects and objects; and between intellectuals and the masses. Unlike in earlier decades, the ire of political radicals did not stop at the culture industry, but increasingly extended to members of the working class themselves. Workers were seen less as potential comrades and instead as complicit in their own exploitation through willingly sustaining consumption, the culture industry and ultimately capitalism itself … Political opposition to the role of mass culture in propagating false consciousness and false needs turned, if not directly to opposition towards the consumers of mass culture, then at the very least to either pity or contempt … The New Left’s questioning of the educability of the working class and belief in the role of all forms of culture in normalizing and reproducing a dominant ideology, led to a reappraisal of Enlightenment thought and, in particular, a problematizing of the notion of individual autonomy of freedom” (Williams 2016: 139).
„Wir können sehen, wie sich eine Unterscheidung zwischen ‚uns‘ und ‚ihnen‘ herauszubilden beginnt, zwischen denen, die Einblick in das System haben, und denen, die betrogen wurden, zwischen Subjekten und Objekten und zwischen Intellektuellen und den Massen. Anders als in früheren Jahrzehnten richtete sich der Zorn der politisch Radikalen nicht nur gegen die Kulturindustrie, sondern zunehmend auch gegen Angehörige der Arbeiterklasse selbst. Die Arbeiter wurden weniger als potenzielle Genossen betrachtet, sondern vielmehr als Mitschuldige an ihrer eigenen Ausbeutung, da sie den Konsum, die Kulturindustrie und letztlich den Kapitalismus selbst bereitwillig unterstützten … Die politische Opposition gegen die Rolle der Massenkultur bei der Propagierung eines falschen Bewusstseins und falscher Bedürfnisse schlug, wenn nicht direkt in Opposition, so doch zumindest in Mitleid oder Verachtung, gegen die Konsumenten der Massenkultur um … Die Infragestellung der Bildbarkeit [bzw. Erziehbarkeit] der Arbeiterklasse durch die Neue Linke und der Glaube an die Rolle aller Formen von Kultur bei der Normalisierung und Reproduktion einer herrschenden Ideologie führten zu einer Neubewertung des aufklärerischen Denkens und insbesondere zu einer Problematisierung des Begriffs der individuellen Autonomie und Freiheit“ (Wiliams 2016: 139).

Dass Williams dies, wenn auch nur kurz, anspricht, ist vielleicht eines ihrer größten Verdienste im Zusammenhang mit dem hier besprochenen Buch, denn die Verantwortung, die die Frankfurter Schule für eine vergleichsweise neue und aggressive Form des Elitismus und die derzeitige Instrumentalisierung von Kultur bzw. kulturelle Gleichschaltung in westlichen (noch mehr oder weniger) demokratischen Gesellschaften zum Zweck der Durchsetzung einer bestimmten Ideologie trägt, ist bislang – soweit ich weiß – noch so gut wie gar nicht aufgearbeitet worden, obwohl es für die Politikwissenschaft und die politische Geschichte, aber auch für die Soziologie, in vieler Hinsicht nützlich wäre, um die derzeitigen gesellschaftlichen Verhältnisse in den meisten der westlichen, (ehemals oder noch mehr oder weniger) demokratischen Gesellschaften zu erklären.

Aber warum spricht Williams das in ihrem Buch über Wissenschaftsfreiheit überhaupt an? Sie sieht den Zusammenhang so:

“When social and political elites assume both a degraded notion of personhood and a greater significance for popular culture, the potential impact of speech – be it in the form of an argument, song or article – is overstated, at the same time as the ability of people to engage critically with challenging of offensive speech is downplayed. When this is combined with a view that all attempts at freedom within capitalism are illusory, arguments for restricting both free speech and academic freedom are able to gain ground” (Williams 2016: 141).
„Wenn soziale und politische Eliten von einem abwertenden Begriff der Persönlichkeit und einer größeren Bedeutung für die Populärkultur ausgehen, wird die potenzielle Wirkung von Rede – sei es in Form eines Argumentes, eines Liedes oder eines Artikels – überbewertet, während gleichzeitig die Fähigkeit der Menschen, sich kritisch mit der Herausforderung einer beleidigenden Rede auseinanderzusetzen, heruntergespielt wird. Wenn dies mit der Ansicht kombiniert wird, dass alle Bemühungen um Freiheit innerhalb des Kapitalismus illusorisch sind, können Argumente für die Einschränkung sowohl der Redefreiheit als auch der akademischen Freiheit an Boden gewinnen“ (Williams 2016: 141).

Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn zunächst Kultur und dann Wissen mit Ideologie gleichgesetzt wird:

“It came to be accepted that selection of cultural content, be it in the form of a canon or a curriculum, was a site of vested interests. The assumption was that education should move away from a straightforward transmission of knowledge, or the promotion of an appreciation of arts in an Arnoldian sense, towards the exposure of ideology. When all knowledge and culture is considered reducible to ideology, the argument that more knowledge, better knowledge or a greater degree of criticality is needed loses out to a view that impartiality, objectivity and rationality need to be treated with suspicion or dismissed as ideological cover-ups for patriarchy or the vested interests of a dominant social class …” (Williams 2016: 147).
“Es wurde akzeptiert, dass die Auswahl kultureller Inhalte, sei es in Form eines Kanons oder eines Lehrplans, ein Ort der Besitzstandswahrung ist. Man ging davon aus, dass sich die Bildung von der reinen Wissensvermittlung oder der Förderung der Wertschätzung der Künste im Arnold’schen Sinne wegbewegen sollte, hin zur Vermittlung von Ideologie. Wenn alles Wissen und jede Kultur als auf Ideologie reduzierbar angesehen wird, verliert das Argument, dass mehr Wissen, besseres Wissen oder ein höheres Maß an Kritikfähigkeit erforderlich ist, gegenüber der Ansicht, dass Unparteilichkeit, Objektivität und Rationalität mit Misstrauen behandelt oder als ideologische Verschleierung des Patriarchats oder der Interessen einer dominanten sozialen Klasse abgetan werden müssen …” (Williams 2016: 147).

Fingerfarben-“Akademiker”

Und auf dieser Grundlage können Redeverbote einfach deshalb erteilt werden, weil sie einer nicht genehmen Ideologie zugeordnet werden. Eine argumentative Auseinandersetzung entfällt von vornherein, denn Argumente werden nicht als solche gewürdigt, sondern, sofern sie überhaupt vorgebracht werden, grundsätzlich dem Verdacht unterzogen, dass sie nur deshalb vorgebracht würden, weil sie im Einklang mit einer ihnen zugrundeliegenden Ideologie stünden. So hat auch Habermas Wissen und Interesse gleichgesetzt und wollte Kommunikation als Vehikel zum Widerstand benutzen. Aber wenn durch Kommunikation eine Ideologie bekämpft werden und durch eine andere ersetzt werden kann, dann verändert das nichts an dem, was die Neue Linke doch eigentlich kritisiert hat, dass nämlich das, was als Wissen gilt, lediglich Interessen abbildet; es sind nun lediglich andere Interessen, die durch eine andere Ideologie „bedient“ werden:

“It is simply an alternative ideology that is being promoted” (Williams 2016: 149),

d.h.

„Es ist lediglich eine alternative Ideologie, die verbreitet wird“ (Williams 2016: 149).

Und es gibt keinen Maßstab, anhand dessen man die eine als „besser“ als die andere einstufen könnte, denn jedes Argument, jeder Maßstab, den man zugrundelegt, ist ja nur ein Ausdruck von Interesse. Welche Ideologie durch Kommunikation propagiert werden soll, ist bloß eine Geschmacksfrage. Mit dieser Hinwendung zur Willkür ist indessen nichts befreiendes verbunden, wie Williams im Zusammenhang mit der Beschreibung der Verbreitung des Post-Strulturalismus in den Geisteswissenschaften und insbesondere in der Literaturwissenschaft deutlich macht:

“With the view that notions of truth were constructed through discourse and dependent upon the identity of the individual doing the proclaiming, language itself became implicated in shaping ideology … Foucault takes arguments about social constructionism to their logical conclusion and argues not that language represents reality, but rather that it constructs reality … discourse is reality … literature came to be seen as entirely self-referential: there was neither an escape from previous texts nor a possibility or referring to a world beyond text …If literature has no relationship to a world beyond text but refers only to other works of literature, then the unique role of the author, as the authoritative creator of the text, is called into question. The individual was seen as responsible not for creating a text, … so much as constructing a discourse from pre-existing language and concepts … Just as reality dissolves into discourse, so too the concept of the self, the autonomous individual, the agent capable of exercinsing personal freedom, is also reducible to a web of discourse … When everything, even individuals, can be considered as discourse, or text, the aim of theory becomes the deconstruction of text and with it the deconstruction of the individual who is also constructed through discourse … Individuals are seen as intersubjective entities, identifiable only at the boundaries between their relationships with other individuals … Individuals who perceive themselves as lacking autonomy and constructed through relationships and discourse are uniquely vulnerable to attacks on their sense of self … Without control over our own destiny, aspirations for emancipation are pointless; we are reduced to the level of automatons in some unknowable and uncontrollable system. The gains of Enlightenment, the assertion of humanity as in control of its own destiny, are surrendered” (Williams 2016: 150-153: intalics in the original).
„Mit der Ansicht, dass Vorstellungen von Wahrheit durch Diskurs konstruiert würden und von der Identität des Individuums abhingen, das die [also: seine] Wahrheit verkündet, wurde die Sprache selbst in die Gestaltung der Ideologie einbezogen … Foucault führt die Argumente des sozialen Konstruktionismus zu ihrer logischen Schlussfolgerung und argumentiert, dass die Sprache nicht die Wirklichkeit darstelle, sondern vielmehr die Wirklichkeit konstruiere … dass der Diskurs die Wirklichkeit ist … Literatur wurde als völlig selbstreferentiell angesehen: Es gab weder ein Entrinnen vor früheren Texten [d.h. aus Bezügen zu ihnen] noch eine Möglichkeit, sich auf eine Welt jenseits des Textes zu beziehen … Wenn Literatur keine Beziehung zu einer Welt jenseits des Textes hat, sondern sich nur auf andere literarische Werke bezieht, dann wird die einzigartige Rolle des Autors als der maßgebliche Schöpfer des Textes in Frage gestellt. Das Individuum wurde nicht für die Erschaffung eines Textes verantwortlich gemacht, … sondern für die Konstruktion eines Diskurses aus bereits existierenden Sprachen und Konzepten … So, wie sich die Wirklichkeit in einen Diskurs auflöst, so ist auch das Konzept des Selbst, des autonomen Individuums, des Akteurs, der in der Lage ist, persönliche Freiheit auszuüben, auf ein Netz von Diskursen reduzierbar … Wenn alles, sogar Individuen, als Diskurs oder Text betrachtet werden, wird das Ziel der [hier: literaturwissenschaftlichen] Theorie die Dekonstruktion des Textes und damit die Dekonstruktion des Individuums, das ebenfalls durch den Diskurs konstruiert wird … Individuen werden als intersubjektive Einheiten betrachtet, die nur an den Grenzen ihrer Beziehungen zu anderen Individuen identifizierbar sind … Individuen, die sich selbst als nicht autonom und durch Beziehungen und Diskurse konstruiert wahrnehmen, sind besonders anfällig für Angriffe auf ihr Selbstverständnis … Ohne Kontrolle über unser eigenes Schicksal sind Emanzipationsbestrebungen sinnlos; wir werden auf die Ebene von Automaten in einem unbestimmten und unkontrollierbaren System reduziert. Die Errungenschaften der Aufklärung, die Feststellung, dass die Menschheit die Kontrolle über ihr eigenes Schicksal hat, werden aufgegeben“ (Williams 2016: 150-153; Hervorhebung im Original).

Und damit enfällt auch die Möglichkeit zur Kritik; statt Kritik findet lediglich eine Projektion unterschiedlicher Perspektiven, die sich aus dem „Standort“ eines Individuums ergeben, statt.

In Kapitel 6 benennt Williams feministische Akademiker als solche, die oft an vorderster Front stehen, wenn es darum geht, Wissenschaftsfreiheit als überkommenes, elitäres Konzept darzustellen, das einer Neu-Bestimmung bedürfe, die es ihrerseits unterrepräsentierten „Stimmen“ erlaube, besser „gehört“ zu werden (was auch immer eine solche Forderung im realen Leben bedeuten mag) (Williams 2016: 156). Identitätspolitik, so Williams, hat ihren klarsten Ausdruck („clearest expression“; Williams 2016: 157) im Feminismus gefunden.

Mit der Hinwendung zu Identitätspolitik ist die Absage an die Existenz universell relevanten Wissens verbunden und damit wiederum die Absage an Wahrheits- oder Erkenntnisfindung als Zielsetzung von Forschung verbunden (Williams 2016: 158). Statt dessen ist die Zielsetzung feministischer Akademiker, durch die Beschäftigung mit „Women’s Studies“ politisch zu wirken oder genauer: die Machtverhältnisse zwischen Männer und Frauen zu verändern (wie die feministische Soziologin Miriam David es ausdrückt; s. Williams 2016: 160), ganz so wie es im Begriff „Identitätspolitik“ deutlich wird. Mit der Politisierung akademischer Betätigung, so Williams (2016: 160), haben sich feministische Akademiker bewusst von jedem Anspruch auf Erkenntnisfortschritt verabschiedet, und dementsprechend ist das Lehrer-Schüler-Verhältnis, das das Verhältnis zwischen Dozenten und Studenten traditionelle geprägt hat und intellektuellen Zielsetzungen diente, einem Verhältnis zwischen Dozenten und Studenten gewichten, das eher einem Mentorenverhältnis im Rahmen der Mobilisierung politischen Aktivismus‘ entspricht (Williams 2016: 160):

“… higher education becomes concerned with personal projects of transformation …” (Williams 2016: 162),

d.h.

„… Höhere Bildung/Hochschulbildung beschäftigt sich nunmehr mit Projekten der persönlichen Veränderung …“ (Williams 2016: 162).

Williams argumentiert, dass feministische Akademiker dementsprechend einen ständigen Nachschub an zu transformierenden Studenten benötigen und dass die Produktion dieses Nachschubs durch die Verbindung von Einsicht mit Unterdrückung gelingen soll. Im Rahmen feministischer Pädogogik gilt:

“… oppression is considered to lead women to develop a superior value system and more finely tuned sense of morality. By this logic, the most victimized sections of society are deemed to have the best understandings of the way the world works … As a result, feminist scholars become committed to maintaining women’s status as victims, and with every social and political advance made they are obliged to seek out new sites of inequality. Patai and Koertge argue such logic indicates ‘women who do not feel crippled by sexism must ‘learn’ that in fact they were – and are – victims of this cultural offense’ …. They go on to suggest that, ‘One effect of these practices is to stretch the meaning of words such as harassment and racism, so that everyone in the group is able to qualify as a ‘victim’ …’” (Williams 2016: 166-167).
„… es wird davon ausgegangen, dass Unterdrückung [hier: von Frauen] dazu führt, dass Frauen ein höheres Wertesystem und einen feineren Sinn für Moral entwickeln. Nach dieser Logik wird davon ausgegangen, dass die am stärksten viktimisierten Teile der Gesellschaft das beste Verständnis davon haben, wie die Welt funktioniert … Infolgedessen engagieren sich feministische Wissenschaftlerinnen für die Aufrechterhaltung des Opferstatus von Frauen, und mit jedem sozialen und politischen Fortschritt sind sie gezwungen, neue Bereiche von Ungleichheit aufzuspüren. Patai und Koertge argumentieren, dass eine solche Logik bedeutet, dass ‚Frauen, die sich nicht durch Sexismus verkrüppelt fühlen, ‘lernen’ müssen, dass sie in Wirklichkeit Opfer dieses kulturellen Vergehens waren – und sind‘ …. Sie führen weiter aus, dass ein Effekt dieser Praktiken darin besteht, die Bedeutung von Wörtern wie Belästigung und Rassismus so weit auszudehnen, dass sich jeder in der Gruppe als ‘Opfer’ qualifizieren kann …‘“ (Williams 2016: 166-167).

Perverserweise haben feministische Akademiker, die sich angeblich der Gleichstellung (oder was auch immer genau) von Frauen verschrieben haben, daher gar kein Interesse daran, dass deren Verwirklichung erreicht wird, was seinerseits dazu führt, dass erstens „Benachteiligung“ oder „Ungleichheit“ oder gar „Unterdrückung“ als Konzepte ständig ausgedehnt werden müssen, um „Opfer“ zwecks persönlicher Transformation in Aktivisten im Rahmen von Hochschulbildung rekrutieren zu können, und zweitens demjenigen, der sich weigert, die Prämisse zu akzeptieren, nach der Frau-Sein dasselbe sei wie Unterdrückt-Sein, „internalisierte Frauenfeindlichkeit“ („internalized misogyny“; Williams 2016: 170) unterstellt wird.

„This need to adhere to one particular outlook has been termed ‚ideological policing‘ … which discourages criticality and promotes conformity. Although students are encouraged to interrogate everything that may have sexist connotations, they are not encourages to question feminism itself” (Williams 2016: 170).

D.h.

“Diese Notwendigkeit, sich an eine bestimmte Sichtweise zu halten, wurde als ‘ideologische Überwachung’ bezeichnet …, die von Kritik abhält und Konformität fördert. Obwohl die Studierenden ermutigt werden, alles zu hinterfragen, was sexistische Konnotationen haben könnte, werden sie nicht ermutigt, den Feminismus selbst zu hinterfragen“ (Williams 2016: 170).

“Ideological policing” bzw. “ideologische Überwachung” ist ein Mittel, das in Sekten verwendet wird, um Sektenmitglieder „einzuweihen“ oder bei der Stange zu halten. Den entsprechenden Mechanismus mit Bezug auf feministische Pädagogik beschreibt Williams näher wie folgt:

“The ideological policing of the feminist classroom is brought into sharp relief through the emphasis on sharing personal experiences and emotional responses to ideas and situations. Students who … refuse to share and reflect upon personal experiences, come under pressure from lecturers and peers to do so, and continued refusal can result in the failure of a particular module. The focus on the personal rather than the objective permits no distance between the self and the concept under discussion. Any challenge raised in the classroom becomes a direct attack upon the person espousing the particular view. Students soon learn that sharing feelings and experiences alone is not enough to gain affirmation in the feminist classroom and that the correct emotional responses must also be expressed. Patai and Koertge report that 30 per cent of the Women’s Studies students interviewed said they ‘felt silenced or at risk expressing unpopular opinions’ …” (Williams 2016: 170).
„Die ideologische Überwachung des feministischen Klassenzimmers wird durch die Betonung des Austauschs persönlicher Erfahrungen und emotionaler Reaktionen auf Ideen und Situationen in ein klares Licht gerückt. Studenten, die … sich weigern, ihre persönlichen Erfahrungen mitzuteilen und zu reflektieren, werden von Dozenten und Kommilitonen unter Druck gesetzt, dies zu tun, und eine anhaltende Weigerung kann dazu führen, dass ein Student in einem bestimmen Modul [des Curriculums] scheitert. Die Konzentration auf das Persönliche statt auf das Sachliche lässt keine Distanz zwischen dem Selbst und dem diskutierten Konzept zu. Jedes im Klassenraum vorgebrachte Hinterfragen [einer Ansicht, die dort vertreten wird,] wird zu einem direkten Angriff auf die Person, die die jeweilige Ansicht vertritt. Die Studenten lernen schnell, dass der Austausch von Gefühlen und Erfahrungen allein nicht ausreicht, um im feministischen Klassenzimmer Anerkennung zu finden, und dass auch die richtigen emotionalen Reaktionen zum Ausdruck gebracht werden müssen. Patai und Koertge berichten, dass 30 Prozent der befragten Studenten im Bereich der Frauenforschung angaben, sie fühlten sich ‚zum Schweigen gebracht oder gefährdet, wenn sie unpopuläre Meinungen äußern‘ …“ (Williams 2016: 170).

Williams bemerkt, dass „Frauenforschung” als eigenständiges Fachgebiet an Hochschulen weitgehend verschwunden ist und entweder als Kurs in Soziologie oder Sozialpolitik angeboten wird oder in der breiteren Kategorie von “Gender Studies“ oder „Geschlechterforschung” aufgegangen ist. Sie führt dies darauf zurück, dass Studenten entdeckt hätten, dass Inhalte der „Frauenforschung“ auch in “… more traditional, and more marketable, social science subjects“ (Williams 2016: 171), d.h. in „…traditionelleren und besser vermarktbaren sozialwissenschaftlichen Fächern“ berücksichtigt werden, und darauf, dass „Frauenforschung“ ein zu enges Gebiet ist und der notwendige Nachschub an Studenten, die bereit sind, „Frau-Sein“ mit „Opfer-Sein“ gleichzusetzen, nicht rekrutiert werden kann, so dass die „Frauen-Opfer“ anderen als „Opfer“ konstruierten Gruppen wie z.B. Homosexuellen zugesellt wurden (Williams 2016: 171).

Was bleibt, ist jedoch der Fokus auf Identität, der persönliche Erfahrungen und Gefühle privilegiert und gleichzeitig Kritik verunmöglicht insofern (1) behauptet wird, dass sich niemand über die eigenen biologisch oder sozial fundierten Erfahrungen hinausgehend kompetent äußen kann oder solches beurteilen kann, und (2) – verbunden mit dem ersten Punkt – Debatte nicht als Mittel zur Erweiterung von Wissen angesehen wird, sondern als Ausdruck mangelnder Akzeptanz der Erfahrungen anderer Personen angesehen und daher abgelehnt wird (Williams 2016: 173-174). „Both these trends are fundamentally antithetical to academic freedom“ (Williams 2016: 174), d.h. “Beide Tendenzen sind unvereinbar mit akademischer Freiheit“.

In Kapitel 7, dem letzten Kapitel in Teil III ihres Buches, beschreibt Williams, wie die Politisierung der Höheren Bildung – und speziell ihre Ausrichtung an Inklusions- und Identitätspolitik samt der Zensur, die sie mit sich gebracht hat, – die Idee der Wissenschaftsfreiheit relativiert oder gänzlich aufgegeben hat zugunsten einer Vorstellung von “academic justice” bzw. „akademischer Gerechtigkeit“.

Die Autorin hebt diesbezüglich zwei Entwicklungen hervor: die erste ist die, gegen Wissenschaftsfreiheit den Vorwurf zu erheben, dass sie denjenigen eine Plattform bieten würde, die sowieso schon in einer dominanten Position seien, während sie nichts dazu beitragen würde, strukturelle Ungleichheiten abzubauen; die zweite besteht in Versuchen, Wissenschaftsfreiheit einer Neu-/Um-Definition zu unterziehen, und zwar in einer Weise, die die Idee der Wissenschaftsfreiheit in ihr Gegenteil verkehrt (Williams 2016; 175):

“The rhetoric of academic freedom is increasingly attached to priniciples that run counter to free speech and free expression. It is reimagined as a matter of academic justice and called upon to silence supposedly powerful groups while allowing the voices of previously under-represented groups to be heard” (Williams 2016: 175).

D.h.

„Die Rede von akademischer Freiheit wird zunehmend mit Prinzipien verknüpft, die der Rede- und Meinungsfreiheit zuwiderlaufen. Sie wird zu einer Angelegenheit der akademischen Gerechtigkeit umgedeutet und man beruft sich auf sie, um vermeintlich mächtige Gruppen zum Schweigen zu bringen und gleichzeitig den Stimmen von zuvor unterrepräsentierten Gruppen Gehör zu verschaffen” (Williams 2016: 175).

Dabei wird, so Williams, z.B. von Judith Butler, Wissenschaftsfreiheit gegen andere Menschen- bzw. Freiheitsrechte ausgespielt und die Unterordnung Ersterer unter Letztere gefordert, so, als sei Wissenschaftsfreiheit nicht selbst ein Freiheitsrecht. Tatsächlich geht es dabei darum, Wissenschaftsfreiheit zugunsten politischer Ideologien oder Interessen in den Wind zu schlagen:

“… imposing [for example,] constraints on Israeli academics as a punishment for the sins of the nation introduces political conditions upon academic freedom. What should be … a universal right to further the pursuit of knowledge comes to be definded politically and selectively, applicable only to those who share the ‘correct’ views or live in the ‘correct’ part of the world … Qualifying academic freedom with caveats of political judgment negates all that is universal and progressive about the demand” (Williams 2016: 177-178).
„… die Auferlegung von Beschränkungen für [z.B.] israelische Akademiker als Strafe für die Sünden der Nation macht politische Bedingungen zur Voraussetzung für akademische Freiheit. Was … ein universelles Recht sein sollte, um das Streben nach Wissen zu fördern, wird politisch und selektiv definiert und gilt nur für diejenigen, die die ‘richtigen’ Ansichten teilen oder im ‘richtigen’ Teil der Welt leben … Die Qualifizierung der akademischen Freiheit durch Vorbehalte entsprechend politischer Beurteilungen negiert alles, was an dieser Forderung [nach Wissenschaftsfreiheit] universell und fortschrittlich ist“ (Williams 2016: 177-178).

Wie Williams anfügt, ist dies nicht nur unvereinbar mit Wissenschaftsfreiheit, sondern auch zutiefst undemokratisch (“inherently undemocratic”; Williams 2016: 178), denn eine Diskussion darum, wessen Stimmen gehört werden sollen und welche nicht, findet in der Regel nicht statt. Vielmehr wird gewöhnlich ein politischer Konsens einfach vorausgesetzt, und zwar ein Konsens, der auf der Vorstellung basiert, dass Wissenschaft und politischer Aktivismus dasselbe seien oder sein sollten bzw. die Hochschule ein Ort der Solidarität im Kampf gegen z.B. „neoliberalen Kapitalismus“ („neoliberal capitalism“; Chatterjee & Maira im Zitat durch Williams 2016: 179) sei.

Vor diesem Hintergrund genügt es für Hochschulen nicht mehr, Zugangsbarrieren abzubauen und nicht negativ zu diskriminieren; vielmehr soll die Hochschulkultur so verändert werden, dass die Hochschule sozial inklusiv wird und eine Art Prototyp für eine inklusive Gesellschaft abgibt (Williams 2016: 181-183).

Zentrale Bestandteile bei der Veränderung der Hochschulkultur (und der gesamten Bildungseinrichtungs-Landschaft) sind die Etablierung von Gleichheits-, Gleichstellungs-, Diversitäts-Beauftragten o.ä., von Anti-Diskriminierungskursen und von Sprachregelungen, die alle dazu beitragen, Redefreiheit einzuschränken, aber gerade gegenteilig dargestellt werden, nämlich als Maßnahmen, die dabei helfen, ein Klima zu schaffen, in dem sich jeder und insbesondere schutzbedürftige („vulnerable“; Williams 2016: 183) Studenten frei äußern können (Williams 2016: 183). Aber

“[t]ensions between the principles of academic freedom and inclusivity are inescapable. The concept of the ‘inclusive’ university comes into conflict with traditional and vital elements of university life, like the practice of excluding applicants without the necessary exam results and the academic elitism of rewarding achievement. Universities cannot at the same time support free expression and respect for personal identity, academic freedom and the promotion of particular values, and free speech and sensitivity towards the feelings of others. The drive of universities to be ‘inclusive’ by promoting equality, diversity, sensitivity and respect, is pitched against the freedom of individual students and academics to debate and engage with topics that threaten rather than respect the identity of particular social groups. The replacement of a clash of competing views with a focus on sensitivity and respect prevents the exercise of academic freedom as it has traditionally been understood. Worse, it often serves to enforce an intolerance of dissent” (Williams 2016: 184).
„[D]ie Spannungen zwischen den Grundsätzen der akademischen Freiheit und der Inklusivität sind unausweichlich. Das Konzept der ‘inklusiven’ Universität gerät in Konflikt mit traditionellen und wichtigen Elementen des universitären Lebens, wie der Praxis des Ausschlusses von Bewerbern ohne die erforderlichen Prüfungsergebnisse und dem akademischen Elitismus der Belohnung von Leistung. Die Universitäten können nicht gleichzeitig die freie Meinungsäußerung und die Achtung der persönlichen Identität, die akademische Freiheit und die Förderung bestimmter Werte sowie die Redefreiheit und die Sensibilität für die Gefühle anderer unterstützen. Das Bestreben der Universitäten, durch die Förderung von Gleichheit, Vielfalt, Sensibilität und Respekt “inklusiv” zu sein, steht der Freiheit einzelner Studenten und Akademiker gegenüber, über Themen zu debattieren und sich mit ihnen auseinanderzusetzen, die die Identität bestimmter sozialer Gruppen eher bedrohen als respektieren. Die Ersetzung des Aufeinandertreffens konkurrierender Ansichten durch eine Konzentration auf Sensibilität und Respekt verhindert die Ausübung der akademischen Freiheit, wie sie traditionell verstanden wurde. Schlimmer noch, sie dient oft dazu, eine Intoleranz gegenüber Andersdenkenden zu erzwingen“ (Williams 2016: 184).

Ein wichtiger Punkt im Zusammenhang mit der „inklusiven“ Hochschule ist, dass Identitätspolitik und eine auf Identitätspolitik basierende Pädagogik nachteilig auch oder gerade für diejenigen ist, in deren Interesse zu handeln die „inklusive“ Hochschule vorgibt. Sie wirkt regressiv, denn wer seine Identität auf die eigene Biologie, die eigenen emotionalen Befindlichkeiten, die Geschichte und Kultur einer Gruppe von Menschen, denen man sich zugehörig fühlt, gründet, der verharrt in der Beschäftigung mit dem, was er „ist“; was er sein könnte, gerät gänzlich aus dem Blick oder erscheint unerreichbar (Williams 2016: 186).

Und viele Maßnahmen im Zuge der Bemühung um „Inklusivität“ haben den Effekt, Studenten ständig daran zu erinnern, was sie sind, dass sie (deshalb) leicht verletzbar sind und wo (deshalb) ihre Beschränkungen oder Empfindlichkeiten liegen, auf die Rücksicht zu nehmen ist, statt sie dazu zu ermuntern, ihre Grenzen hinauszuschieben oder gar zu überwinden. Williams nennt in diesem Zusammenhang die sogenannten “trigger warnings”:

“The assumption behind such warnings is that students are too sensitive and vulnerable to be able to cope with the content covered and need to be warned in advance so that they can either prepare themselves emotionally or avoid the triggering topics altogether” (Williams 2016: 187).

D.h.

“Die Annahme, die hinter solchen Warnungen steht, ist, dass die Schüler zu sensibel und verletzlich sind, um mit den behandelten Inhalten umgehen zu können, und dass sie im Voraus gewarnt werden müssen, damit sie sich entweder emotional vorbereiten oder die auslösenden Themen ganz vermeiden können” (Williams 2016: 187).

Wenn suggeriert wird, dass bestimmte Ideen, Aussagen oder Worte für jemanden mit dieser oder jener Identität so verletzend seien, dass er davor geschützt werden müsse, wird impliziert, dass dies Ideen, Aussagen oder Worte immer persönlich zu nehmen seien.

“… [L]ikewise, criticism of an opinion is considered to be criticism of its proponent“ (Williams 2016: 187),

d.h.

„… Dementsprechend wird Kritik an einer Meinung als Kritik am Verfechter dieser Meinung angesehen“ (Williams 2016: 187).

Und damit vermeintliche Angriffe auf Personen durch Kritik an einer ihrer Auffassungen unterbleibt, ist die „inklusive“ Hochschule bestrebt, Kritik zu unterdrücken und Personen, von denen sich jemand verletzt oder beleidigt fühlen könnte, zum Schweigen zu bringen bzw. keine Gelegenheit zur Rede zu geben. Aber ohne Kritik kann Wissen nicht voranschreiten. Die „inklusive“ Hochschule steht damit nicht nur Wissenschaftsfreiheit entgegen, sondern auch dem Wissenserwerb bzw. –fortschritt (Williams 2016: 187).

Dies tut sie auch insofern als nicht nur neue Lehr-, sondern auch neue Bewertungsmethoden studentischer Leistungen Einzug in Universitäten gehalten haben. Bewertet werden nun nicht mehr oder nicht mehr nur intellektuelle Leistungen, sondern (auch) die Fähigkeit zur Gruppenarbeit, die Reproduktion ideologisch erwünschter Inhalte und soziales Engagement, sei es in der Form von Freiwilligendienst in einer ideologisch erwünschten Organisation oder sogar in Form von Engagement in der Wahlwerbung (für den ideologisch genehmen Kandidaten, versteht sich) (Williams 2016: 189-190). In all diesen Fällen wird die standardisierte Bewertung intellektueller Leistung durch die Prämierung der Demonstration bestimmer Werte bzw. bestimmter ideologischer Überzeugungen oder von politischer Parteinahme ersetzt.

Dies alles ist letztlich der Ideologisierung – Williams sagt „Politisierung“ (“politicization of the academy“; William 2016: 188) – der Hochschulen oder überhaupt der Höheren Bildung geschuldet, die ihrerseits auf der Behauptung beruht, dass alles Forschen, alle Wissenschaft, politisch sei (Williams 2016: 190). Aus einer solchen Auffassung heraus wird akademische Gerechtigkeit an die Stelle von Wissenschaftsfreiheit gesetzt:

“Academic justice appears politically progressive in its support for the marginalized over the powerful, its assumption of the moral high ground and its explicit demand for political commitment. However, whereas academic freedom allowed for an (albeit sometimes limited) challenge to received wisdom, the principles of academic justice are marked by an inability to permit criticism and a silencing of dissent. Asking students to demonstrate values rather than engagement with a body of knowledge, censoring academics on the basis of their nationality, legislating for offensive views to be kept out of the classroom and off campus, all contribute towards the creation of a political consensus within higher education” (Williams 2016: 191).
„Akademische Gerechtigkeit erscheint politisch fortschrittlich, da sie die Marginalisierten gegenüber den Mächtigen unterstützt, sich die moralische Überlegenheit anmaßt und ausdrücklich politisches Engagement fordert. Während jedoch die akademische Freiheit eine (wenn auch manchmal begrenzte) Infragestellung der überlieferten Weisheit zulässt, sind die Grundsätze der akademischen Gerechtigkeit durch die Unfähigkeit gekennzeichnet, Kritik zuzulassen, und dadurch, abweichende Meinungen zum Schweigen zu bringen. Wenn von den Studierenden verlangt wird, Werte zu demonstrieren, anstatt sich mit einem Wissensfundus auseinanderzusetzen, wenn Akademiker aufgrund ihrer Nationalität zensiert werden, wenn vorgeschrieben wird, dass anstößige Ansichten aus dem Klassenzimmer und vom Campus ferngehalten werden, dann trägt dies alles zur Schaffung eines politischen Konsenses in der Hochschulbildung bei“ (Williams 2016: 191).

So fasst Williams die regressive Wirkung einer in der Absicht vielleicht tatsächlich progressiven Bewegung zusammen und benennt auf den folgenden noch verbleibenden vier Seiten des letzten Kapitels ihres Buches weitere Elemente dieser regressiven Wirkung, insbesondere den gönnerhaften Paternalismus, mit dem Hochschulen Studenten behandeln, wenn sie sie für unfähig halten, emotional oder intellektuell mit Auffassungen zurechtzukommen, die von ihren eigenen abweichen. (Williams 2016: 193).

“Ironically, the view of students as vulnerable has gone hand in hand with the view that it is acceptable to teach students what to think rather than simply how to think” (Williams 2016: 193).

D.h.

„Ironischerweise geht die Sichtweise, dass Studenten [per se] verletzlich sind, Hand in Hand mit der Ansicht, dass es akzeptabel sei, Studenten beizubringen, was sie denken sollen, anstatt einfach nur, wie man denkt“ (Williams 2016: 193).

Zwar gesteht Williams zu, dass Studenten selbst ihren Teil dazu beitragen, Wissenschaftsfreiheit zum Verschwinden zu bringen und Hochschullehrer sich einer neuen Generation von autoritären (“illiberal”; Williams 2016; 194) und mehr als zensurbereiten Studenten gegenübersehen, aber sie hält fest, dass es Akademiker waren (und sind), die die mit ihren ständigen Bemühungen, die Grundprinzipien der Wissenschaftsfreiheit zu untergraben, diese Generation von Studenten (mit)hervorgebracht haben (Williams 2016: 194).

Das Buch endet mit einem knapp vier Seiten langen Kapitel, das mit „Conclusions“, d.h. „Schlussfolgerungen“, überschrieben ist, aber angemessener als eine Mischung von Zusammenfassung und Schlusswort bezeichnet wäre. In ihm beschreibt Williams nochmals kurz den derzeitigen Umgang mit Wissenschaftsfreiheit und weist u.a. auf die Bigotterie von Akademikern hin, die sich in einem Bereich, in dem es ihnen gerade in den Kram passt, auf Wissenschaftsfreiheit berufen, aber nach Einschränkungen derselben rufen, wenn es um ihnen nicht sympathische Auffassungen oder Argumente geht (Williams 2016: 196).

Diese Bigotterie zeigt, so Williams, dass Wissenschaftsfreiheit ein ziemlich beliebiges Konzept wird, wenn es von dem Streben nach Wissen und damit auch die Notwendigkeit, die etablierte Orthodoxie in Frage zu stellen, abgelöst wird (Williams 2016: 196). Sie spricht verdienstvollerweise klar aus, was viele oft denken oder ahnen, aber sich nicht so offen zu sagen trauen:

“Rejecting the liberal project of advancing knowledge through competing truth claims has left universities without a purpose” (Williams 2016: 197),

d.h.

„Die Zurückweisung des liberalen Projekts der Förderung von Wissen durch konkurrierende Wahrheitsansprüche hat Unversitäten ohne Zweck gelassen“ (Williams 2016: 197).

Sie sind nur noch Insitutionen – neben anderen und insofern sind sie weitgehend überflüssig –, in denen Studenten Fähigkeiten vermittelt werden, die ihnen ermöglichen sollen, eine Beschäftigung auf dem Arbeitsmarkt oder als Angestellte beim Staat zu finden, oder in denen Studenten „inklusive“ Werte eingetrichtert werden bzw. sie ideologisch abgerichtet oder politisch indoktriniert werden – mit dem Ergebnis, dass ein weltanschaulicher Konsens hergestellt wird, den einige als feststehende wissenschaftliche Erkenntnis mißverstehen oder ausgeben wollen.

Wenn dem Sinnverlust von Wissenschaftsfreiheit und damit von Höherer Bildung bzw. Universitäten entgegengewirkt werden soll, dann erfordert dies eine Korrektur des zugrundeliegenden Menschenbildes. Es erfordert, so Williams, dass Studenten ebenso wie Bürger im Allgemeinen als intelligente, vernünftige und autonome Individuen akzeptiert werden, die fähig sind, sich argumentativ miteinander auseinanderzusetzen. Und es erfordert, dass Denk- und Redefreiheit im Unterricht – nicht nur an Hochschulen –, in schriftlichen Veröffentlichungen und im öffentlichen Diskurs routinemäßig praktiziert werden (Williams 2016: 198). Oder anders gesagt: es erfordert eine kulturelle Erneuerung, etwas, was man vielleicht die „Aufklärung 2.0“ nennen könnte.

Und damit endet der Textteil des Buches von Williams. An ihn schließt sich eine Bibliographie und ein Index an.

Es sollte klar geworden sein, dass das Buch im Zusammenhang mit der Frage nach Wissenschaftsfreiheit eine breite Kritik der heutigen Konformismus erzeugenden Höheren Bildung bzw. Universitäten entwickelt und aufzeigt, wie Entwicklungen in der Höheren Bildung/an Universitäten während der letzten Jahrzehnte im Zusammenspiel miteinander diese Konformismus erzeugende, aber Sinn entleerte Höhere Bildung/Universitäten erzeugt haben.

Es gehört m.E. zu den besten Darstellungen der Prozesse, die Universitäten oder überhaupt Höhere Bildung in die ideologischen Kaderschmieden verwandelt haben, die sie heute in weiten Teilen sind. Jedem, der Englisch flüssig lesen kann, sei das Buch deshalb zur Lektüre empfohlen. Jedem, der dies nicht kann, hoffe ich, die wichtigsten Elemente von Williams’ Argumentation in dieser Rezension vermittelt zu haben.

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