Legitimationsforschung – Sozialwissenschaftler als Wegbereiter der Paternalisierung

Im letzten post haben Dr. habil. Heike Diefenbach und ich die Meinung vertreten und begründet, dass der Vorsatz, anderen etwas Gutes tun zu wollen, Teil eines Syndroms ist. Dieses Syndrom zeichnet sich dadurch aus, dass sich seine Inhaber von der realen Welt abkapseln, ihre guten Absichten auf der Grundlage von keinerlei oder verzerrter Information über die Wirklichkeit bergünden und letztlich auch nur an “Maßnahmen” und den mit ihnen einhergehenden finanziellen und personellen Vorteilen interessiert sind, nicht jedoch daran, ob ihre “Maßnahmen” überhaupt benötigt werden und welchen Nutzen oder Schaden die “Maßnahmen” in der Realität hinterlassen. Im Bemühen, so wenig wie nur möglich Realität zur Kenntnis nehmen zu müssen, werden die von uns als “Gutmenschen” bezeichneten Akteure von einer Vielzahl von u.a. Sozial”wissenschaftlern” unterstützt, die das Material für die kollektive Weltflucht liefern. Ein gutes Beispiel dafür ist ein neuer Beitrag in der Zeitschrift für Erziehungswissenschaft, der sich mit der “Bedeutung der familialen Lebenswelt für die Gesundheit von Kindern und Jugendlichen” beschäftigt.

Die Autoren dieses Beitrags, Petra Rattay, Thomas Lampert, Hannelore Neuhauser und Ute Ellert fassen die Ergebnisse ihrer Analysen wie folgt zusammen: “Auf der Basis der vorgestellten Ergebnisse kristallisiert sich als zentraler Ansatzpunkt einer familienorientierten Gesundheitsförderung die Verbesserung des innerfamilialen Klimas heraus. Gerade Strategien der Gesundheitsförderung, die die Verbesserung der sozialen Lebenschancen von benachteiligten Familien mit der Erweiterung von Verwirklichungschancen und Lebenskompetenzen von Eltern und Heranwachsenden und der Schaffung eines guten innerfamilialen Klimas verbinden, sind somit als zukunftsweisen einzustufen. … Hier wäre die Verzahnung der Gesundheitsförderung mit der Kinder- und Jugendhilfe hilfreich … Darüber hinaus scheint eine stärkere Vernetzung der familialen Lebenswerlt mit anderen pädagogischen Settings sinnvoll. … Eine ‘familienfokussierte Settingstrategie’ … erscheint somit insbesondere dann erfolgreich, wenn sie die Familien mit ihren Vernetzungen wahrnimmt und über die Familien ‘gesündere’ Handlungsoptionen anzubieten vermag …” (Rattay et al., 2012, S.167).

In aller Kürze kann man die politisch korrekt formulierten Forderungen wie folgt übersetzen: Kinder aus der Unterschicht (= benachteiligte Familien) sind häufiger krank, was vor allem am innerfamilialen Klima liegt (viel Streit, viel Alkohol, viel … [passendes Negativum einsetzen]), weshalb man Unterschichtsfamilien durch staatliche Institutionen (in denen viele Mittelschichtler beschäftigt sind) überwachen muss (familienfokussierte Settingstrategie), was es erforderlich macht, die entsprechenden staatlichen Institutionen (Sozial- und Jugendämter) mit zusätzlichen Befugnissen, (finanziellen) Mitteln und Angestellten auszustatten (Verzahnung der Gesundeitsförderung).

Diese weitreichenden Forderungen stehen am Ende eines 23seitigen (ohne Literaturverzeichnis) Beitrags, der auch insofern irritierend ist als die 23 Seiten sich auf 13 Textseiten und 10 Seiten, die mit Tabellen angefüllt sind, verteilen. Aber das ist nicht das einzige, was an dem Beitrag und seinen weitreichenden Forderungen irritiert. Die Reihe der irritierenden Ergebnisse beginnt damit, dass die Autoren nicht den Gesundheitszustand von Kindern gemessen haben, wie sie behaupten, sondern die Einschätzung der Gesundheit von Kindern durch ihre jeweiligen Eltern (wobei unklar bleibt, wer die Eltern sind, ob Väter, Mütter oder beide befragt wurden): “Wie würden Sie den Gesundheitszustand Ihres Kindes im Allgemeinen beschreiben?” (sehr gut, gut, mittelmäßig, schlecht, sehr schlecht”; Rattay et al., 2012, S.150). Der Einfachheit halber haben die Autoren die Kategorien “sehr gut” und “gut” als “gute Gesundheit” und “mittelmäßig”, “schlecht” und “sehr schlecht” als “nicht gute Gesundheit” zusammengefasst. Wer also bei der nächsten Befragung nach der Gesundheit seines Kindes gefragt wird, sollte nicht mittelmäßig sagen, weil das “nicht gut” bedeutet und nicht etwa “nicht schlecht”. Selbst durch diesen Trick gelingt es den Autoren lediglich 1.171 von 17.392 befragten Eltern als Eltern von Kindern mit als nicht gut eingeschätzter Gesundheit zu identifizieren.

Aber gut, besser 1.171 als gar keine Eltern, die die Gesundheit ihrer Kinder als” nicht gut” einschätzen. Für diese 1.171 Kinder, von denen ihre Eltern sagen, ihre Gesundheit sei  “mittelmäßig, schlecht oder sehr schlecht” (nicht gut in der Diktion der Autoren) untersuchen die Autoren nun, wie sie sich von den Eltern unterscheiden, die die Gesundheit ihrer Kinder als gut (also “gut” oder “sehr gut”) bezeichnen. Sie tun das für eine Vielzahl von unabhängigen Variablen, von denen sie, warum auch immer einen Effekt auf die Einschätzung der Gesundheit von Kindern durch ihre Eltern erwarten. Leider gibt es keinerlei theoretische Begründung für die Wahl von Variablen wie “Geschlecht”, “Zusammenwohnen mit beiden Elternteilen”, “Wohnfläche pro Person”, “Migrationshintergrund”, “Sozialstatus Eltern”, “Übergewicht Eltern”, “Rauchen in Wohnung”, “Stillen”, “Familienklima”. Doch nicht nur darüber, weshalb die Autoren die Variablen nutzen, die sie nutzen, wird der Leser des Beitrags im Dunkeln gelassen, die Frage, wie die entsprechenden Variablen gemessen wurden, wird ebenfalls nicht beantwortet. Dies ist in Teilen verschmerzlich, denn die Frage nach dem Rauchen kann man sich ungefähr vorstellen, bei zentralen Konzepten wie dem Familienklima, das die Autoren in ihren Forderungen als besonders wichtig betonen, ist dies jedoch ebenso unverzichtbar wie bei der Messung des Sozialstatus’. Da die Befragten nicht gefragt wurden, ob sie einen niedrigen Sozialstatus haben oder starke Defizite im Familienklima aufweisen, den entsprechenden Befragten der “niedrige Sozialstatus” und die starken Defizite im Familienklima von den Autoren aufgrund anderer Angaben der Befragten zugeschrieben wurden, ist es für die Interpretation der Ergebnisse unerlässlich, dass man weiß, wie gemessen wurde, was die Autoren ihren Lesern hier einfach als gegeben unterschieben wollen.

Dessen ungeachtet rechnen die Autoren munter drauflos, und zwar logistische Regressionen (- deshalb die dichotome abhängige Variable mit den Ausprägungen “gut” “nicht gut” – ein wenig Datenreduktion aus technischen Gründen). Die vielen Ergebnisse, die die Autoren in Modellen berechnen und Tabellen berichten, zeichnen sich dadurch aus, dass  es dem Leser unmöglich ist, die Qualität der berechneten Modelle nachzuvollziehen. Die berichteten Koeffizienten werden ohne Signifkanzen ausgewiesen (ein kapitaler Verstoß gegen wissenschaftliche MIndeststandards), die Anzahl der Befragten, auf deren Angaben die einzelnen Berechnungen basieren, wird nicht berichtet (ein ebenso kapitaler Verstoß gegen wissenschaftliche MIndeststandards) und anstelle des üblichen Gütekriteriums (Hosmer & Lemeshows chi-quadrat) wird Nagelkerkes r-quadrat als Maß für die Güte der Modelle berichtet, also dafür, wie gut es mit den unabhängigen Variablen (Familienklima, Sozialstatus der Eltern …) gelingt, die Einschätzung der Gesundheit der Kinder durch ihre Eltern zu erklären. Da sich Nagelkerke’s Maß nicht als Gütekriterium eignet, wie sich in  vielen Veröffentlichungen zum Thema nachlesen lässt (am komprimiertesten: Hosmer & Lemeshow, 2000, S.164-167), ist es Standard, die Anzahl der durch die logistische Regression richtig klassifizierten Fälle anzugeben. Dass Rattay et al. dies unterlassen, ist entweder statistischer Ahnungslosgkeit geschuldet oder der Tatsache, dass ein Bericht dieses Gütekriteriums die weitreichenden Forderungen der Autoren in Frage gestellt hätte.

[Technische Erläuterung

Punkte"wolke" und zugehörige logistische Regressionskurve

Mit einer logistischen Regression werden Wahrscheinlichkeiten im Hinblick auf eine binäre abhängige Variable geschätzt. Im vorliegenden Fall wird die Wahrscheinlichkeit geschätzt, dass Kinder entweder eine von den Eltern eingeschätzte gute oder eine nicht gute Gesundheit haben. Für die unabhängigen Variablen, wie z.B. Familienklima oder sozialer Status der Eltern wird ihr jeweiliger Einfluss auf die Wahrscheinlichkeit, dass Eltern entweder eine “gute” oder eine “nicht gute” Gesundheit für ihre Kinder berichten, geschätzt. Entsprechend ist es möglich, die Befragten auf der Grundlage des berechneten Modells (also über die Werte der unabhängigen Variablen) in Befragte zu klassifizieren, die eine gute Gesundheit ihrer Kinder berichtet haben müssten, wäre das Modell richtig, und solche, die eine nicht gute Gesundheit ihrer Kinder berichtet haben müssten. Die so gewonnen Verteilung der Eltern kann man dann mit den tatsächlichen Antworten der Eltern vergleichen und bestimmen, wie hoch die Anzahl der Fehlklassifikationen ist (also wie viele Eltern müssten nach der Modellberechnung gesagt haben, ihre Kinder hätten eine “nicht gute” Gesundheit, haben aber tatsächlich gesagt, ihre Kinder haben eine gute Gesundheit). Je mehr Fehlklassifikationen, desto schlechter das Modell. Dieses Gütekriterium ist das einfachste und am leichtesten zu interpretierende Maß, das ich kenne. Um so erstaunlicher, dass die Autoren es nicht berichten.]

Wie die oben zitierten Forderungen der Autoren zeigen, soll vom Familienklima eine besonders starke Wirkung auf die “eingeschätzte Gesundheit der Kinder” ausgehen. Es setzt den berichteten Nachlässigkeiten bzw. Unterschlagungen die Krone auf, dass die Variable “Familienklima” in keinem der von den Autoren dargestellten Modelle den behaupteten Stellenwert hat. In jedem Modell gibt es mindestens zwei Variablen, die besser erklären (zum Beispiel die Variablen “nie gestillt” bzw. nie Vollzeit erwerbstätig, beide Variablen wirken sich negativ auf die Einschätzung der Gesundheit der Kinder aus).

Rattay et al. fordern am Ende ihres Beitrags vollmundig, dass sich staatliche Institutionen in das Leben von “benachteiligten Familien” einmischen sollen, wobei benachteiligte Familien natürlich nicht der Mittelschicht entstammen, zu der die Autoren gehören, sondern der Unterschicht. Wie meine Darstellung gezeigt hat, werden die Forderungen der Autoren durch ihre Ergebisse in keiner Weise gestützt. Die Ergebnisse sind methodisch nicht nachvollziehbar, statistisch fragwürdig und stützen selbst dann, wenn man methodische und inhaltliche Fehler übersieht, die Interpretation der Autoren in keiner Weise. Somit stellt sich die Frage, wieso Rattay et al. die Schlüsse aus ihren Ergebnissen ziehen, die sie ziehen. Die einzige Antwort, die mir dazu einfällt, lautet: Es war von Anfang an klar, welche Ergebnisse die “Forschung” erbringen soll. Die “Forschung” ist Legitimationsforschung für paternalisierende Maßnahmen, und sie war zu keinem Zeitpunkt als an der Realität ausgerichtete Forschung gedacht. Das Ziel war einzig und allein die Legitimation weiterer staatlicher Eingriffe (oder die Bestätigung der eigenen Vorurteile gegenüber “benachteiligten Familien”, was davon schlimmer ist, weiß ich im Moment nicht). Entsprechend handelt es sich bei dem von Rattay et al. veröffentlichten Beitrag um Legitimationsbeschaffung, die mit der Realität nichts zu tun hat und nur dazu gedacht ist, die eigenen Traumwelten und die davon ausgehenden Paternalisierungen zu legitimieren. Es handelt sich dabei nicht um einen wissenschaftlichen Beitrag, was die Frage aufwirft, ob die Zeitschrift für Erziehungswissenschaft jetzt alles druckt ohne es durch ein Gutachterverfahren auf Qualität prüfen zu lassen oder ob die Gutachter ebenso wenig über wissenschaftliche Standards verfügen wiedie Autoren – was die Klassifikation der Gutachter als Lehrstuhlbesetzern nach sich ziehen würde.

Literatur
Hosmer, David W. & Lemeshow, Stanley (2000). Applied Logistic Regression. New York: Wiley.

Rattay, Petra, Lampert, Thomas, Neuhauser, Hannelore & Ellert, Ute (2012). Bedeutung der familialen Lebenswelt für die Gesundheit von Kindern und Jugendlichen. Ergebnisse des Kinder- und Jugendgesundheitssurveys (KIGGS). Zeitschrift für Erziehungswissenschaften 15(1): 145-170.

Bildnachweis
Rose Rubicondior

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