Die Grenzen des Paternalismus
Viele westliche Regierungen und allen voran die deutsche Regierung haben es in ihren Bemühungen, ihr Paradies auf Erden herbeizuregulieren und ihren Bürgern die Last eigener Entscheidungen weitgehend abzunehmen, recht weit gebracht: Raucher werden kontinuierlich, über Steuern und Warnhinweise auf die Schädlichkeit ihres Tuns aufmerksam gemacht, Atomkraftwerkebetreiber gelten nach Bankern als die größten Volksschädlinge, Männer, deren Lebenserwartung um rund fünf Jahre hinter der von Frauen zurückbleibt, werden zum Sport treiben animiert, denn der Mangel an Bewegung bedingt die kürzere Lebenserwartung. Glühbirnen, Bananen, Benzin, Fettsäuren, einfach alles, was von den unmündigen Bürgern in der falschen Weise gebraucht oder verbraucht wird, wird zu deren Wohl und damit sie sich um die richtige Nutzung keine Sorgen machen müssen, aus dem Verkehr gezogen, besteuert, standardisiert oder einfach verboten. Im so begrenzten Angebot müssen sich “die Bürger” dann keine Sorgen mehr über die richtige Wahl machen, denn das, was es zu wählen gibt, ist von “wohlmeinenden” Staatslenkern vorsortiert.
Der staatliche Großversuch “Paradies durch Regulierung” erfährt Unterstützung nicht nur von denen, die seit je her den Hauptzweck ihres Daseins darin gesehen haben, Pläne für andere aufzustellen und anderen dabei zu helfen, ihr vermeintlich falsches Bewusstsein zu überwinden, auch Autoren, die sich für liberal erklären, entdecken den Paternalismus und neuerdings gibt es den Paternatlismus auch in seiner “bourgeoisen” Variante. Egal, von welchem ideologischen Aussichtspunkt Paternalismus betrieben wird, immer zielt er darauf, individuelle Wahlfreiheit zu begrenzen und immer verspricht er den so Bevormundeten das bessere Leben. Dieses Versprechen setzt voraus, dass die Versprecher sich im Besitz der Formel zum Lebensglück, zum besseren Leben wähnen (nicht befinden), und es setzt voraus, dass sie bestimmen können, was der Sinn des Lebens nicht nur für sie selbst, sondern vor allem für andere ist. Und gerade an diesem Punkt zeigt das Projekt “Paternalismus” doch erstaunliche Lücken, gerade wenn es darum geht, die Gefahren für das Leben bzw. die als richtig angesehene Länge des Lebens zu beseitigen, sind Rezepte und Zielgruppen der Lebenslängeverbesserungs-Projekte, wie man in der Statistik sagt, doch sehr verzerrt.
So zum Beispiel beim Thema Krebs und Herzkreislauferkrankungen. Haupttäter in der Herbeiführung von Ersterem ist angeblich Rauchen, Raucher entsprechend geächtet, als Hauptursache für Letzteres gilt gemeinhin Bewegungsmangel, Jogging- oder Quer-Feldein-Radfahr-Verweigerer sind entsprechend bedenklich. Die Mission für ein gesünderes Leben, die Regierung, Krankenkassen und Verbände aller Art in trauter Eintracht gegen Raucher und Bewegungsmuffel vorgehen lässt, lenkt indes den Blick von einem weiteren Spielfeld für den Paternalismus ab: dem Fleischkonsum.
Eine nagelneue Studie eines Forscherteams von der Harvard School of Public Health kommt zu dem Ergebnis, dass der Konsum von Schweinefleisch, Rinderfleisch, Kalbfleisch oder Lammfleisch in behandelter oder nicht behandelter Form das Risiko an Krebs oder an einer Erkrankung des Herz-Kreislauf-Systems zu sterben, erheblich erhöht: “…we found that a higher intake of red meat was associated with a significantly elevated risk of total CVD [cardio-vascular disease] and cancer mortality, and this association was observed for unprocessed and processed food” (An, 2012). In aller Kürze: Wer viel Schweine-, Rinder, Kalb- oder Lammfleisch isst, ist auf gutem Weg sein Leben nicht nur vorzeitig, sondern durch entweder Krebs oder eine Herzkreislauferkrankung zu beenden.
Die Studie aus Harvard ist insofern ein Schwergewicht unter der mittlerweile großen Zahl von Studien zu den Ursachen von Tod durch Krebs- und Herzkreislauf-Erkrankungen, als:
- die Studie auf einer Grundgesamtheit von 121.342 Männern und Frauen basiert,
- für diese 121.342 Männer und Frauen Daten seit 1986 vorhanden sind und im Abstand von jeweils zwei Jahren Daten erhoben wurden;
- der Zeitraum, für den die Untersuchung Daten zur Verfügung hat, somit von 1986 bis 2006 reicht,
- in diesem Zeitraum 23.926 Befragungsteilnehmer verstarben, 5.910 an einer Herzkreislauf-Erkrankung und 9.464 an Krebs,
- aus den Ergebnissen die Effekte, die z.B. von Rauchen, Trinken oder Übergewicht auf die Sterbewahrscheinlichkeit ausgehen, herausgerechnet wurden,
- die Ergebnisse aus einer durchdachten und sehr genauen statistischen Analyse resultieren.
Mit anderen Worten: Die Ergebnisse der Studie können nicht von der Hand gewiesen werden. Und im Wesenlichen besagen die Ergebnisse, dass die Esser von Schweine-, Rind-, Kalb- oder Lammfleisch ein um 16% höheres Risiko als Nicht-Esser der genannten Fleischsorten haben, an einer Herz-Kreislauferkrankung zu versterben und ein um 10% höheres Risiko an Krebs zu sterben. Wer die genannten Fleischsorten in verarbeiteter Form zu sich nimmt, der hat ein um 21% höheres Risiko an einer Herzkreislauf-Erkrankung zu sterben und ein um 16% höheres Risiko wegen Krebs das Dieseits zu verlassen als jemand der keine dieser Fleischsorten isst (An, 2012).
Damit haben sich Schweine-, Rind-, Kalb- und Lammfleisch in die Reihe der “Killer”, der Lebensverkürzer eingereiht. Sie stehen mit Rauchen und dem Konsum von Alkohol in einer Reihe und bereiten Paternalisten aller Provenienz Kopfzerbrechen. Was tun? Packungsaufdrucke der Art: “Schweinefleisch tötet” oder “Der Verzehr von Rindfleisch erhöht ihr Risiko, an Krebs zu sterben”? Steuern auf Schweine, Rind-, Kalb- und Lammfleisch, um die unmündigen Konsumenten vom Kauf dieser von der Fleischindustrie in böser Absicht angebotenen Todesursachen abzuhalten? Ein Verzehrverbot für alle genannten Fleischsorten? Man kann die paternalistischen Köpfe bereits rauchen sehen, rauchen im metaphorischen Sinne natürlich – oder auch nicht? Denn immer dann, wenn die Resultate paternalistischer Eingriffe in die Wahlfreiheit von Konsumenten zu nahe an den Lebensstil der Regulationen erlassenden Mittelschicht gelangen, ist es merkwürdig still, wenn es zur Regulation kommt. Wie viel einfacher ist es, dem Arbeiter seinen Korn, dem Dicken aus der Unterschicht seine fetten Pommes oder dem Maurer am Bau seine Zigarette zu besteuern oder madig zu machen als dem gesitteten Besucher des Italieners an der Ecke seinen Grappa oder Valpolicella? Und wenn es an das Sirloin oder Filet-Steak geht, dann ist Schluss mit Paternalismus – wetten?

Aber nein, so ganz können Paternalisten das paternalistisch sein nicht lassen. So hat unlängst das Robert-Koch-Institut vor dem Verzehr von rohem Fleisch gewarnt. Beim Bundesamt für Risikoforschung hat diese Warnung Niederschlag unter der Überschrift “Hackepeter und rohes Mett sind nichts für kleine Kinder!” gefunden. Die Überschrift wird gefolgt von einer höchst unappetitlichen Beschreibung der Inhaltsstoffe rohen Fleisches (Campylobacter, Salmonella Enteritidis, Yersina enterocolitica usw.), gefolgt von einer nicht weniger ekeligen Beschreibung der Folgen, die der Verzehr der genannten Inhaltsstoffe nach sich zieht. Aber: Entwarnung ist angesagt, Salmonellen sind offensichtlich in der Lage, nach Alter zu diskriminieren und so schadet Hackepeter nicht dem gemeinen Menschen, sondern nur kleinen Kindern (und Schwangeren versteht sich). Das mag den Erwachsenen ein Trost sein, die mit den einschlägigen Folgen einer “milderen” Salmonellenvergiftung konfrontiert sind, die sich in allen Richtungen des Verdauungsweges Bahn brechen. Meldungen wie diese lassen vermuten, dass es noch ein weiter Weg ist, bis sich die paternalistischen Schutzmaßnahmen auch auf den Konsum von Fleisch erstrecken – immer vorausgesetzt, es werden keine Kinder oder gar Schwangere durch den Verzehr von Fleisch nachweislich und in großer Zahl geschädigt. Und so zeigt sich der Paternalismus als das, was er ist, en Herrschaftsinstrument, mit dem vermeintlich wohlmeinende Gutmenschen einen Herrschaftsanspruch begründen wollen, mit dem sie den Lebensstil anderer kontrollieren und beschränken, und das die nette Nebenwirkung mit sich bringt, den eigenen Lebensstil für sakrosankt zu erklären.
Literatur
An, Pan, Qi, Sun, Bernstein, M. Adam, Schulze, Matthias B., Manson, JoAnn E., Stampfer, Meir J., Willett, Walter C. & Hu, Frank B. (2012). Red Meat Consumption and Mortality. Archive of Internal Medicine; Online First.
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Dazu habe ich die Frage, wie sieht die Altersverteilung der an Herz-Kreislauferkrankungen und Krebs Verstorbenen in dieser Untersuchung aus?
Eine zweite Frage in diese Richtung ist folgende. Wer viel Fleisch ist, ist üblicherweise auch nicht gerade schlank und fällt ist bereits in einer Risikogruppe. Des Weiteren muss man bei solchen Langzeitstudien sehr vorsichtig sein. Wie will man garantieren, dass die Kontrollgruppe garantiert kein Fleisch gegessen hat. Bei dem Konsum von relativ viel Salz ist man sich über die Wirkung auch nicht sicher.
Generell finde ich die Grundintention des Artikels sehr lustig. Warum? Zum einen ist rauchen nicht verboten. Indem man auf die Verpackung schreibt, dass es die Gesundheit gefährdet klärt man den Konsumenten in gewisser Weise auf. Denn Waffengleichheit hat er nicht gegenüber den Großkonzernen.
Zum anderen wird der Staat und die Gesellschaft kritisiert, weil sie solche Verbote oder Warnungen ausgeben. Wenn ich mich bei einer privaten Krankenkasse anmelden will, dann spielen diese Dinge (rauchen sie, treiben sie Sport, waren sie krank, etc.) eine Rolle. Das heißt, dass die Erziehung des Staates schlecht ist, die identische Sache betrieben von den Unternehmen aber gut?!
Man kann sicherlich fragen, ob die Menge der Warnungen und Verbote gerechtfertigt ist. Ein generelles Nein dazu, ist Blödsinn.
Der Witz an der Langzeitstudie besteht darin, dass diese Einflüsse kontrolliert wurden. Es gab keine Kontrollgruppe, denn es handelt sich um kein Experiment. Die rund 121.000 Befragten haben Angaben gemacht und ich denke, wenn jemand von sich sagt, er sei Veganer oder Vegetarier, dann muss man kaum prüfen, ob er auch wirklich kein Fleisch ist… zumal es sich bei den Befragten ausschließlich um Ärzte, Krankenschwestern und sonstige Angestellte im Gesundheitswesen handelt.
Zunächst, chriwi, freut es mich, dass Sie etwas sehr lustig finden. Ich hatte bislang immer den Eindruck, dass Sie wenig bis keinen Spass verstehen. Dann aber muss ich meinerseits darauf hinweisen, dass Sie einen Scheinkrieg führen. Wie kommen Sie darauf, hier würde ein Gegensatz zwischen Staat und privater Wirtschaft hergestellt? Kritisiert wird Paternalismus, und entsprechend würde ich auch die Tatsache kritisieren, dass private Krankenkassen denken, Sie kennen das Leben ihrer Versicherten besser als die Versicherten selbst und deshalb Frauen, die keinen Kinderwunsch haben, dessen ungeachtet höhere Beiträge auferlegen. Aber im Gegensatz zu staatlicher Einflussnahme kann man sich privatwirtschaftlicher Einflussnahme immer noch entziehen, denn niemand wird gezwungen, eine priavte KV abzuschließen, aber jeder wird gezwungen, sich mit blödsinniger Post der GKV zum Thema Organspende oder idiotischen Hinweisen wie “Rauchen tötet” konfrontieren zu lassen, der eine Entscheidung gegen Organspende und für Rauchen getroffen hat. Das ist etwas grundsätzlich anderes. Kein privates Unternehmen kommt des Wegs und behauptet zu wissen, was für ALLE das beste ist – im Gegensatz zu Regierungen.
Wenn Sie den Text richtig lesen, dann werden Sie feststellen, dass darin von Paternalismus als solchem die Rede ist. Dass Paternalismus in erster Linie etwas ist, was von staatlichen Institutionen ausgeht, weil man in der Wohlfahrtsgesellschaft eine bestimmte Art von Bürger benötigt, das ist ein nachgeordnetes Phänomen, macht aber den Staat zum ersten Paternalisten….
“dass darin von Paternalismus als solchem die Rede ist”
Dann ziehe ich diese Aussage natürlich zurück.
“We analyzed data from 2 prospective cohort studies: the HPFS (initiated in 1986, n=51 529 men aged 40-75 years) and the NHS (started in 1976,
n=121 700 women aged 30-55 years). Detailed descriptions of the cohorts are provided elsewhere. 7,8 Questionnaires were administered biennially
to collect and update medical, lifestyle, and other health-related information, and the follow-up rates exceeded 90% in each 2-year cycle for both cohorts. In the present analysis, we used 1986 for the HPFS and 1980 for the NHS as baseline, when we assessed diet using a validated food frequency questionnaire(FFQ);49 934 men and 92 468 women returned the baseline FFQ. We excluded 5617 men and 5613 women who had a history ofCVDor cancer at baseline and 6619 men and 3211 women who left more than 9 blank responses on the baseline FFQ, had missing information about meat intake, or reported implausible energy intake levels (500 or3500 kcal/d). After the exclusions, data from 37 698 men and 83 644 women
were available for the analysis. The excluded participants and those who remained in the study were similar with respect to red
meat intake and obesity status at baseline. The study protocol was approvedbythe institutional review boards of Brigham and Women’s
Hospital and Harvard School of Public Health.
Man könnte ja die ketzerische Frage stellen, ob nicht durch die Möglichkeit sich mit Fleisch – das heißt relativ teuer zu ernähren – nicht mit einem höheren hygienischen und gesundheitlichen Standard einhergeht. Dieser wiederum schließt den Tod durch Infektionskrankheiten weitgehend aus, so daß eben Krebs-und Herz-Kreislauferkrankungen anfangen die Todesursachen zu dominieren.
Insofern ist die gefundene Korrelation äquivalent mit der Aussage, daß bessere hygienische und gesundheitliche Versorgung der Bevölkerung das Risiko an Krebs- oder Herz-Kreislaufkrankheiten zu sterben erhöhen.
Dieser Einwand
“Es gab keine Kontrollgruppe, denn es handelt sich um kein Experiment.”
zielt auf den Kern des Problems. Jedoch ist mit den modernen Methoden der Programmevaluation (Propensity Score Matching u.ä) durchaus eien Methodik vorhanden derartige nichtexperimentelle Studien anzugehen. Angesichts der großen Popuation sollten die Daten auch ausreichen.
Es ist immer wieder bedauerlich, wenn bestimmte Berufsgruppen bestimmte Probleme immer erst neu entdecken müssen, die von anderen bereits gelöst wurden.