Was ist nur mit der Mitte los?

Normalverteilung_der_IntelligenzlSie kennen doch die Mitte? Die Mitte, das ist da, wo die Normalverteilung ihren Bauch hat. Die Mitte ist da, wo man sich zwischen zwei Stühle setzt. Sie ist nicht oben, aber auch nicht unten, nicht rechts und nicht links, nicht eindeutig, genau, identifizierbar, die Mitte eben. Diese Mitte, das Mittel zwischen Ober- und Unterschicht, zwischen reich und arm, diese Mitte ist im Umbruch, nein, sie laviert zwischen Stabilität und Fragilität, so wie man es erwartet hätte, schrumpfte nicht genau diese lavierende Mitte seit “nunmehr 15 Jahren”. So ist sie eben, die Mitte, sie kann sich einfach nicht entschließen, was sie will: Mitte sein oder nicht, stabil sein oder nicht, schrumpfen oder nicht, im Umbruch sein oder nicht. Man hat schon seine liebe Müh und Not mit der Mitte, denn sie ist nicht Fisch, nicht Fleisch, und deshalb hervorragend geeignet, ja geradezu prädestiniert, um als Tummelfeld für Sozialforscher zu dienen.

  • Die Mitte(lschicht) bewegt sich zwischen Stabilität und Fragilität, so weiß eine Studie der Konrad-Adenauer-Stiftung und das obgleich es doch auf die “Definition von Mittelschicht” ankomme, was man über die Mittelschicht aussagen könne. Die Mitte der Einkommen sei zwar wegen des staatlichen Umverteilungsprozesses stabil, die Mitte werde aber dennoch im “mittleren und oberen Bereich” ausgedünnt, dennoch sei eine Erosion der Mittelschicht, eine Reduktion der Mitte auch im Bewusstsein der Mittleren, der Mittelschichtler, derer, die sich in der Mitte (von was auch immer) sehen, nicht gegeben. Und zwar in den letzten 20 Jahren nicht.
  • “Die Mittelschicht in Deutschland schrumpft” seit 1997. Das hat eine Studie der Bertelsmann-Stiftung herausgefunden. Jeder Vierte in der Mitte mache sich latente Sorgen über den sozialen Abstieg. Dieses Ergebnis ist nicht irgendein Ergebnis. Es basiert auf den Daten des Sozioökonomischen Panels (SOEP), über dessen Qualität man zwar geteilter Meinung sein kann, das aber – in Ermangelung eines anderen longitudinalen Datensatzes in Deutschland – unter Sozialforschern, die in Deutschland schon immer Mangelverwalter par excellence waren, hoch im Kurs steht. Die schrumpfende Mitte der Bertelsmann-Stiftung ist im Gegensatz zur stabil-fragilen Mitte der Konrad-Adenauer-Stiftung das Ergebnis zweier Prozesse: Von unten kommen immer weniger in die Mitte nach und von oben wanderen nach wie vor ehedem Mittige in die Führungsetage der Oberschicht. Noch, so könnte man formulieren, gibt es keine gläserne Decke für die Aufstiegsambitionen der Mittigen.
  • Berichte aus Stiftungen wären nicht vollständig, wäre nicht die Friedrich-Ebert-Stiftung, jener Hort der parteinahen Berichterstattung, darin vertreten. In der Friedrich-Ebert-Stiftung wiederum ist die Mitte im Umbruch. Angesichts der Tradition der ehedem Arbeiterpartei SPD würde man nun erwarten, dass der Umbruch Momente des sozialen Aufstiegs von unten nach oben, also von der Arbeiterschicht in die Einkommensmitte der Gesellschaft berücksichtigt. Aber: weit gefehlt. Die umbrechende Mitte der Friedrich-Ebert Stiftung  ist eine Mitte, die in einer Vorgängerstudie schon in der Krise war, und nun ist aus der Krise ein Umbruch geworden, der den “rassistischen Diskurs in die Mitte der Gesellschaft” verschoben sieht. Ja. 8,2% der Mittigen oder nicht-Mittigen, weil eigentlich Extremen oder so, waren es in Kriseneiten, 9% in Zeiten des Umbruchs, die über ein “geschloessenes rechtsextremes Weltbild verfügen”, und deshalb und weil es manche vielleicht immer noch nicht verstanden haben, ist die Mitte aus der Krise und nunmehr im Umbruch: 0,8% deutschlandweit machen den ganzen Unterschied.

middle_classDie umbrechend fragile, aber dennoch stabil schrumpfende Mitte oder Mittelschicht, wie sie hier auf der Grundlage von nur drei Studien gezeichnet wurde (ich kann nicht mehr als drei Dimensionen verarbeiten, sonst hätte ich noch eine vierte Studie und eine fünfte Studie und eine sechste Studie, die wiederum zu anderen Ergebnissen gekommen sind, berücksichtigt. Aber ich denke, der Punkt ist klar – oder?), offenbart eine Sehnsucht nach einer festen und sich nicht wandelnden Welt, wie sie bereits Hereklit herbeigesehnt hat als er voller Missmut festgestellt hat, dass alles fließt: ’Alles fließt’, so sagt er [Heraklit], und‚ man kann nicht zweimal in denselben Fluss steigen.’ Enttäuscht argumentiert er gegen den Glauben, dass die bestehende soziale Ordnung ewig währen werde: ‚Wir dürfen nicht handeln und reden wie die Kinder, die nach dem beschränkten Grundsatz großgezogen wurden: Wie es uns überliefert ward’“ (Popper, 1992, S.19).

Christmas CarolEs scheint, viele Sozialforscher teilen mit Heraklit eine Aversion gegen Wandel, und sie teilen mit Aristoteles eine Vorliebe für die Mitte, die reine und schöne und gute und angenehme Mitte, in der die Wahrheit zu finden ist: “Es gibt also drei Grundhaltungen”, so schreibt Aristoteles in seiner Nikomachischen Ethik, “[z]wei fehlerhafte, durch Übermaß und Unzulänglichkeit gekennzeichnet, und eine richtige: die Mitte”. Da ist sie wieder die Mitte, der Ausgleich zwischen Feigheit und Tollkühnheit, den Aristoteles eher tollkühn, Tapferkeit nennt. Oder der Ausgleich zwischen Knausrigkeit und Verschwendungssucht, den er Großzügigkeit nennt. Man beachte, dass die Begrifflichkeiten, die Aristoteles benutzt, wertende Begrifflichkeiten sind, d.h. seine Gegensatzpaare und vor allem seine goldene Mitte kann man nur dann richtig finden, wenn man seine Wertsetzung und seine Begriffspaare akzeptiert.

Tut man das nicht, dann kann man seinen Extremen zuweilen etwas abgewinnen. Ohne Knausrigkeit, wäre Ebenezer Scrooge nie dem Ghost of Christmas begegnet. Ohne Verschwendungssucht von Regierungen würden ganze Bereiche der Sozialindustrie brach liegen. Wäre der verlorene Sohn nicht der Arbeitsmuffel gewesen, der er war, und wäre er nicht der Verschwender gewesen, der er war, die katholische Kirche wäre um einen Gegenstand der Vaterliebe, den verlorenen Sohn, und einen anderen Sohn, den ersten unfair behandelten, erstgeborenen Sohn der Literaturgeschichte ärmer.

mediocreDas Gegenteil von Feigheit ist nicht Tollkühnheit, sondern Mut, und das Gegenteil von Tollkühnheit ist Ängstlichkeit und nicht Feigheit. Die goldene Mitte von Aristoteles hat also mindestens so viele Prämissen wie die Sehnsucht nach einer stabilen Welt, in der sich vor allem die Bestimmung von Mitte nicht verändert. Und die meisten Prämissen weisen in die selbe Richtung, in Richtung der Angst vor Veränderung. Mitte ist in erster Linie ein Equilibrium, ein Zustand, der sich nicht ändert und auch nicht ändern soll, denn man hat sich gerade so schön in ihm eingerichtet. Entsprechend sind alle Prozesse des gesellschaftlichen Wandels eine Gefahr. Sie gefährden die Besitztümer (der Mitte), sie gefährden die soziale Struktur, die soziale Hierarchie, das Ausmaß sozialer Ungleichheit, und sie gefährden die Weltsicht derer, die so heftig davor warnen, dass sich die Mitte ändert. Zum Glück hat sich die Realität noch nie an die Vorlieben von Veränderungs-Aversen gehalten, sonst säßen wir jetzt noch in Höhlen und warteten auf die Erfindung des Feuers.

©ScienceFiles, 2012/2011

Literatur

Popper, Karl Raimund (1992). Gesammelte Werke 5: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, Band 1: Der Zauber Platons.
Tübingen: J.C.B. Mohr.

Bildnachweis:

IHVO
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