Die hohe Kunst, über Leichen zu gehen
Die hohe Kunst des Über-Leichen-Gehens besteht darin, den Blick nicht nach unten zu richten (SF).
Suchen Sie nicht nach dem Verfasser dieses Satzes. Dieses Bonmot stammt von uns.
Anlass für die Zeilen ist eine Form der kognitiven Beschränkung, die uns gerade begegnet ist, und zwar in Form eines Berichts auf Focus.de.
“Blockupy-Mitorganisator Wilken lehnt Rücktritt von Landtagsposten ab“.
“Ich werde auf jeden Fall nicht zurücktreten”, so wird er zitiert. Und für seine Entscheidung gibt er die folgende Begründung:
“Am Nachmittag haben wir das gemacht, wofür Blockupy steht: bunter, lauter und entschiedener Protest, aber ohne Gewalt”, sagt Wilken der Zeitung.”
Die Auguren von ScienceFiles haben diese Reaktion von Wilken übrigens vorhergesagt!
Kognitive Beschränkungen finden sich in der Sozialpsychologie in einer Vielzahl von Varianten. Sie finden sich (1) als Umgang mit kognitiver Dissonanz, bei dem Fakten, die der eigenen Überzeugung widersprechen, schlicht ausgeblendet werden. Sie finden sich (2) als Bestandteil des panischen Versuchs, eine soziale Identität an Stelle einer personalen Identität zu setzen, bei dem die soziale Identität überhöht und von allem, was negativ sein könnte, freigehalten wird. Und sie finden sich (3) als Framing, bei dem Sorge getragen wird, dass bestimmte Folgen eigener Handlungen oder bestimmte Fakten, die mit eigenen Überzeugungen in Widerspruch stehen, gar nicht erst die Wahrnehmung erreichen.
Auf Ulrich Wilken passen alle drei Varianten des Umgangs mit der Gewalt, die den Auftritt von Blockupy in Frankfurt ausgezeichnet hat:
(1) Er beginnt seine Wahrnehmung erst am Nachmittag, gliedert den Vormittag und die heftige Gewalt am Vormittag einfach aus, erklärt sie zum Nicht-Bestandteil von Blockupy, was ungefähr der Behauptung entspricht, dass für den Fall, dass er und seine richtige Variante von Blockupy gar keine Demonstration angemeldet hätte, es dennoch zu den Ausschreitung der Chaoten gekommen wäre.
(2) Die soziale Identität von Blockupy, so definiert sie Wilken, ist bunt, laut und entschieden. In der sozialen Identität kommt keine Gewalt vor, also hat Blockupy in Frankfurt auch nicht zu Gewalt geführt. Die Geschädigten vor Ort, es wird sie freuen.
(3) Per Framing sorgt Wilken dafür, dass die Gewalt ausgeblendet wird: Sie wird auf den Vormittag verschoben. Blockupy war am Nachmittag. Sie wird aus der Beschreibung von Blockupy mit für Wilken positiv konnotierten Adjektiven “bunt, laut und entschieden” ausgegliedert und ist entsprechend nicht existent. Wo die Schäden in Frankfurt herkommen? Es ist ein Mysterium.
Die drei sozialpsychologischen Varianten der Ausblendung der Wirklichkeit, die hier berichtet wurden, werden von ihren Autoren übrigens als Abweichung vom Normalzustand beschrieben. Wer (1) anwendet, der kann mit Dissonanzen nicht umgehen und versucht, sich Ihnen zu entziehen. Wer sich mit (2) beschäftigt, ist mit dem Versuch gescheitert, eine eigenständige Identität aufzubauen, und wer (3) zum Opfer fällt, hat seine Versuche, rational zu handeln, eingestellt.
Was mit Personen ist, die alle drei Strategien nutzen, um die Wirklichkeit zu verleugnen, ist eine Frage, die derzeit mangels einer umfassenden Theorie noch offen ist.
Indes kann man die Aussagen von Ulrich Wilken, der immerhin als Vizepräsident des Hessischen Landtages eine gewisse Vorbildfunktion haben sollte, nutzen, um einen Präzendensfall, die Lex Wilken, zu schaffen, der sich auch anderweitig anwenden lässt.
Z.B. so:
Der Karlsruher SC ist Ende 2014 vom Sportgericht des DFB zu 40.000 Euro Strafe verurteilt worden, weil KSC-Fans im Zweitligaspiel beim 1. FC Kaiserslautern randaliert haben.
Das selbe Sportgericht hat den 1. FC Köln wegen Fanrandale zu einer Geldstrafe von 200.000 Euro verurteilt.
Beiden Vereinen empfehlen wir, die Lex Wilken zum Einsatz zu bringen und die Zahlung zu verweigern bzw. bereits gezahlte Strafen zurückzufordern, denn aus der Lex Wilken geht hervor, dass die Randale nichts mit dem KSC oder dem FC Köln zu tun hat.
Beide, der KSC und der FC Köln sind Fussballvereine. Die Spieler der Vereine treffen sich mit Spielern anderer Vereine zum Ballaustausch, der zwei Halbzeiten á 45 Minuten in Anspruch nimmt. Die entsprechenden Spiele sind bunt, laut und entschieden und in jedem Fall gewaltfrei. Sofern also vormittags vor den Spielen oder nach den Spielen Gewalttaten zu verzeichnen sind, haben diese mit dem Fussballspiel keine Verbindung, die 22 Spieler treffen sich explizit zum Spielen und nicht zur Gewalt.
Im englischssprachigen Ausland gibt es den Begriff der “Nuremberg Defense”, Die Nuremberg Defense besteht darin, dass man seine eigenen Schandtaten damit rechtfertigt, dass man z.B. zum Öffnen des Gashahns im KZ-Auschwitz per Befehl aufgefordert wurde. Entsprechend hat nicht das Gehirn dessen, der den Hahn aufdreht, dessen Finger bewegt, sondern der Befehl, was letztlich die Schuld auf den Schultern von Himmler und Hitler ablädt.
Die Nuremberg Defense steht für eine Unwilligkeit, die Verwantwortung für eigene Handlungen zu übernehmen. Die Lex Wilken scheint eine neue Variante der selben Verteidigungsform zu sein, nun wird nicht mehr im Befehl Absolution gesucht, sondern in der Uhrzeit.
©ScienceFiles, 2015
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Verantwortung oder Haftung im konkreten Fall sind keineswegs fest stehende moralische Konstrukte oder rechtliche Normen, die (allein) kognitiv zugänglich wären. Das Übernehmen oder Zurückweisen von Verantwortung ist möglich und muss nicht mit kognitiven Dissonanzen erklärt werden. Im Falle eines Strafverfahrens hätte ein Richter nach Klärung des Sachverhaltes am Ende eine wertende Entscheidung zu treffen.
Das ist genau der Punkt! Verantwortung hat etwas mit moralischer und sittlicher Reife zu tun. Und die Angst vor Verantwortung hat etwas mit dem Fehlen beider zu tun.
Das sind aber doch zwei verschiedene Dinge: Wenn ich mich recht entsinne, hatte blockupy ja schon angedeutet, was passieren sollte; aber den Vertretungsberechtigten etwa des Karlsruher Sc kann wohl kaum an Randale während eines Spiels gelegen sein. Aber selbst wenn Herr Wilken Sachbeschädigung u.a. zumindest billigend in Kauf genommen hat – ist er dann dafür verantwortlich?