Repräsentativität: Einblicke in die Alchemistenlabors der Meinungsforscher

Es hat nicht lange gedauert, bis ein anonymer Kommentator, der eine geistige Verwandtschaft mit der Sesamstraße empfindet und sich entsprechend als “Bert1984” von “sesamstraße.de” mit seinem Kommentar verewigt hat, das Wörtchen repräsentativ in Stellung gebracht hat, um die Ergebnisse der Umfrage von ScienceFiles, an der sich zwischenzeitlich 751 Leser beteiligt haben, von denen inszwischen 72% (N = 540) der Ansicht sind, in Deutschland sei eine totalitäre Regierungsform gegeben, in Frage zu stellen.

Anlass genug, uns einmal mehr dem Konzept der “Repräsentativität” zu widmen, ein Konzept, um das Meinungsforschungsinstitute sehr viel Trara machen.

Beginnen wird doch einmal mit der Worbedeutung von Repräsentativität. Etwas soll für etwas anderes repräsentativ sein. In der Regel machen 1000 Befragte bei Meinungsforschungsinstituten einen repräsentativen Sample aus, von dem aus Aussagen über die Bevölkerung in Deutschland gemacht werden. 1000 Befragte sollen also für rund 80 Millionen Einwohner repräsentativ sein.

Die nächste Frage, die sich aufdrängt lautet: repräsentativ im Hinblick worauf?

Menschen können über eine Vielzahl von Merkmalen beschrieben werden: Schuhgröße, Augenfarbe, Intellekt, Sprachfähigkeit, Haarlänge, Sauberkeit, Nasenlänge, Lebensstil, Einstellung zu Gewalt, zu Flüchtlingen, Laufgeschwindigkeit, Körperfülle, Fitness, Wohnort, Fernsehkonsum, Beeinflussbarkeit, Kaffeeverbrauch, um nur einige zu nennen.

Was sind also die Merkmale, die im Alchemistenlabor der Meinungsforscher genutzt werden, um angeblich Repräsentativität herzustellen?

Zunächst ist es eine Zufallsauswahl, d.h.: Wenn jeder deutsche Bürger dieselbe Chance hat, befragt zu werden, wenn es also für den langhaarigen Lispeler mit Schuhgröße 45 ebenso wahrscheinlich ist, befragt zu werden, wie für den Aktivisten der Antifa, der gerade wieder eine Polizeiwache in Leipzig angesteckt hat, dann soll eine Auswahl repräsentativ sein, egal, ob der Lispler oder der Antifa dann auch befragt wurde. Was zählt, ist die gleiche Wahrscheinlichkeit, befragt zu werden.

Schnell hill esserDas ist die wohlwollende Definition von Repräsentativität. Eine exakte Definition, die die Problematik, die sich mit Repräsentativität verbindet und regelmäßig dazu führt, dass das Unternehmen “Repräsentatitivität” scheitert, wäre: Eine Stichprobe ist dann ein repräsentatives Abbild einer Grundgesamtheit, wenn alle Merkmale und Merkmalskombinationen, die im Hinblick auf die Fragestellung von Wichtigkeit sind, im selben Anteil vorhanden sind wie in der Grundgesamtheit. Nur dann sind die entsprechenden Merkmale oder Merkmalskombinationen nämlich angemessen repräsentiert. Diese Definition macht einerseits die Problematik von “Repräsentativität” deutlich, denn um die Kriterien von Repräsentativität zu erfüllen, muss vorab bekannt sein, was erst untersucht werden müsste. Andererseits zeigt die Definition, warum der Ausrede über die Zufallsstichprobe für viele Repräsentativitäts-Alchemisten so wichtig ist.

Aber selbst wenn man den Repräsentativitäts-Alchemisten ihre Zufallsauswahl lässt, ergeben sich Probleme, die unüberwindbar sind. So haben wir bereits in der Vergangenheit dargelegt, dass es nicht möglich ist, die Voraussetzungen zu erfüllen, die an eine Zufallsauswahl auch nur der erwachsenen Wohnbevölkerung in Deutschland gestellt werden. Eine Vielzahl von Gründen steht der Auswahl einer repräsentativen Menge von erwachsenen Deutschen per Zufallsauswahl im Wege.

Nehmen wir an, sie wollen eine Telefonumfrage durchführen. Das ist die Umfrageform, die derzeit am häufigsten genutzt wird. Nehmen wir weiter an, Sie haben ein Befragungsinstitut mit einem Telefonpool und rufen abends von 17 Uhr bis 22 Uhr die Personen an, die sie aus dem Telefonbuch zufällig gezogen haben:

  • Alle, die nicht im Telefonbuch stehen, eine Geheimnummer haben, sind nicht im Datensatz;
  • Alle, die zwischen 17 Uhr und 22 Uhr nicht zuhause sind, weil sie z.B. Schicht arbeiten oder in einer Kneipe sitzen, sind nicht im Datensatz;
  • Alle, die zwischen 17 Uhr und 22 Uhr nicht ans Telefon gehen, weil sie sich beim Abendessen oder bei was auch immer nicht stören lassen wollen, sind nicht im Datensatz;

Wie man es dreht und wendet, der Datensatz ist nicht repräsentativ, denn nicht alle Elemente der Grundgesamtheit haben dieselbe Wahrscheinlichkeit, an der Befragung teilzunehmen (das wäre zu einer anderen Uhrzeit nicht anders).

Und die genannten, sind nicht die einzigen systematischen Ausfälle:

  • Wer im Krankenhaus liegt, der fällt aus.
  • Wer im Pflegeheim ist, der fällt aus.
  • Wer in Urlaub ist, der fällt aus.
  • Wer obdachlos ist, der fällt aus.
  • Wer stumm ist, der fällt aus.
  • Wer gehörlos ist, der fällt aus.
  • Wer entmündigt wurde, der fällt aus.
  • Wer im Gefängnis sitzt, der fällt aus.
  • Bei wem die Telekom das Telefon gesperrt hat, weil er seine letzten beiden Rechnungen nicht bezahlt hat, der fällt aus.

Das sollte eigentlich ausreichen, um die Repräsentativität ein für alle Mal in das Reich der Mythologie zu entlassen.

Wie wir schon einmal festgestellt haben, ist es das aber leider nicht. Die Lust an einen Mythos zu glauben, ist einfach größer als die Vernunft, von einem liebgewonnenen Mythos Abschied zu nehmen.

Umfrageinstitute wissen in der Regel, dass die Daten, die sie erheben, nicht repräsentativ sind. Deshalb bessern sie nach. Wer jemals einen Datensatz zu Gesicht bekommen hat, der eine repräsentative Stichprobe darstellen soll, der wird die Phalanx der Gewichtungsvariablen kennen, die zu Beginn des Datensatzes abgelegt ist.

Diese Gewichte dienen abermals dazu, die Repräsentativität herzustellen, die man doch angeblich bereits durch die angebliche Zufallsauswahl hergestellt hat. Hat man aber nicht, wie die Existenz dieser Gewichte belegt, womit wir wieder bei den eingangs gestellten Fragen sind:

Woraufhin soll eine Auswahl von Befragten repräsentativ sein?

Was sind die Merkmale zur Herstellung von Repräsentativität?

Was sind die Merkmale, die einen Deutschen ausreichend beschreiben?

Survey ResearchUmfrageforscher gehören nicht zu den Einfallsreichen unter den Forschern, entsprechend gibt es keine Gewichtungsmerkmale wie Lebensstil, Augenfarbe, Schuhgröße, Bierverbrauch oder Body-Mass-Index. Nein, zur repräsentativen Beschreibung der Deutschen reicht es nach Ansicht der Repräsentativitäts-Alchemisten aus, sie nach Alter, Geschlecht und zuweilen Wohnort zu differenzieren – was Hohn und Spott für alles ist, was die empirische Sozialforschung in den letzten Jahrzehnten herausgefunden hat.

21,5% der Deutschen sind über 65 Jahre alt. Sind im Datensatz nur 16,5% über 65 Jahre alt, so werden die über 65jährigen mit dem Faktor 1,3 multipliziert, um dem Datensatz den Anschein der Repräsentativität zu geben. Das Durchschnittsalter der männlichen Deutschen ist 45,4 Jahre, das der weiblichen Deutschen 47,5 Jahre. Ist das Durchschnittsalter der männlichen Deutschen im Datensatz 55,4, dann werden sie durch Gewichtung mit dem Faktor 0,82 entsprechend verjüngt, sind die weiblichen Deutschen im Datensatz im Durchschnitt 35,4 Jahre alt, dann werden sie um den Faktor 1,3 gealtert.

Repräsentativität ist also nichts anderes als eine nicht haltbare Behauptung über die Auswahl der Befragten ergänzt um Rechentricks, die aus einer nicht repräsentativen Stichprobe in der Weise eine repräsentative Stichprobe machen sollen, wie Alchemisten aus Stroh Gold gemacht haben.

Damit kommen wir zurück zur Aussage, dass die ScienceFiles-Umfrage nicht repräsentativ ist. Sicher ist sie das nicht. Sie ist vermutlich auch selegiert, da es sich bei den Lesern von ScienceFiles um überdurchschnittlich kritische Zeitgenossen handeln dürfte.

Nur: Das ist kein Problem.

Die Umfrage ist nicht repräsentativ, behauptet nicht einmal repräsentativ zu sein und streut Lesern entsprechend nicht den Sand in die Augen, mit dem Meinungsforschungsinstitute ihre 1000 Befragten zu etwas anderem machen wollen, als sie sind: 1000 Befragte. Wir haben zwischenzeitlich 751 Befragte und es werden nach wie vor mehr.

Die Ergebnisse basieren somit auf den Angaben von 751 Befragten, die in einer sozialen Umwelt leben, die mit anderen Menschen interagieren, Meinungen austauschen und beeinflussen. Und insofern es sich bei den Lesern von ScienceFiles um eine überdurchschnittlich kritische Auswahl von Lesern handelt, kann man davon ausgehen, dass viele von Ihnen einen erheblichen meinungsbildenden Effekt auf ihre Umgebung ausüben (Seit der Erie-County Studie von Lazarsfeld, Berelson und Gaudet aus dem Jahre 1940 gibt es dafür den Begriff des Opinion Leader (Meinungsführer)).

Aber selbst wenn das nicht der Fall sein sollte, selbst wenn es in ganz Deutschland nur die 751 Leser von ScienceFiles gäbe, die der Ansicht sind, Deutschland habe eine totalitäre Regierungsform, wäre das nicht Grund genug, die Ursachen dafür festzustellen und zu versuchen, die entsprechenden Ursachen zu beheben. Wäre es nicht nur eine lohnende Aufgabe, weil es ja nur 751 Leser sind, sondern eine selbst für Politiker machbare Aufgabe, sich um die 751 Leser, die in ihrer Mehrheit die Legitimität der deutschen Regierungsform anzweifeln, zu kümmern.

Angesichts des Tohuwabohu, das um die wenigen LSTTIQ oder wie das aktuelle Akrnonym gerade lautet, gemacht wird, angesichts der Tatsache, dass zwanzig vermeitliche Rechtsextremisten, die in der Nähe des Erzgebirges gesichtet worden sein sollen, ganze Busladungen von Aktivisten auf die Straße bringen (mit oder ohne Finanzierung durch die thüringische Landesregierung), sollte es doch ein Leichtes und eine entsprechend leichte Übung für Politiker sein, die paar Hundert ScienceFiles-Leser, die jedes Vertrauen in ihre Regierung verloren haben und der Regierungsform die Legitimität absprechen, zu adressieren und vom Besseren zu überzeugen.

Das jedenfalls sollte man meinen.

Und wie gesagt, die Annahme, dass die 751 ScienceFiles-Leser nur für sich stehen und nicht nur der sichtbare Teil der Bürger sind, die mit dem politischen System, mit der vorhandenen Regierungsform keine Legitimität verbinden, ist eine sehr konservative und eine statische Annahme.

Die Geschichte ist voller Beispiele dafür, dass wenige Unzufriedene schnell zu vielen Unzufriedenen und zum gesellschaftlichen Flächenbrand geworden sind. In der Chaostheorie ist dieser Umstand als Butterfly-Effect bekannt. Es gibt viele Gründe, die Legitimitätsprobleme der deutschen Regierungsform ernst zu nehmen und den Kopf nicht in den Sand zu stecken oder hochnäsig auf die vermeintlich Wenigen herabzublicken, die zu wenige sind, als dass man sie ernst nehmen wollte.

Hochmut kommt bekanntlich vor dem Fall.

Fazit: Die Behauptung der Repräsentativität sollte kritische und vernünftige Zeitgenossen eigentlich dazu führen, hellhörig zu werden und sich zu fragen, warum aus den Angaben von 1000 Befragten mehr gemacht werden soll, als die Angaben von 1000 Befragten, d.h.: sich zu fragen, wer ein Interesse daran hat, Repräsentativität zu behaupten und welcher Nutzen für wen mit dieser Behauptung verbunden wird. In einer Zeit, in der Legionen der Ansicht sind, soziale Fakten seien konstruiert, ist es doch eine einfache Übung, das soziale Konstrukt der “Repräsentativität” auf den Nutzen für seine Konstrukteure und die Interessen, die dahinterstehen, hin zu untersuchen.

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