Die große Anomie: Etablierte Parteienkaninchen und die AfD-Schlange

Robert K. Merton ist u.a. für seine Anomietheorie berühmt geworden. Und wie so viele Theorien, die in die Hände von Wissenschaftlern aus der Mittelschicht gefallen sind, wird sie seither vornehmlich auf die Arbeiter- und Unterschicht angewendet, auf diejenigen, die den Mittelschichtlern fremd sind, auf Deviante, Delinquente oder in der Erweiterung durch Agnew auf Menschen, deren Versuch, im Leben Fuß zu fassen, an einer Reihe unterschiedlicher Stressoren gescheitert ist.

Es ist uns kein Ansatz bekannt, in dem die Wissenschaftler aus der Mittelschicht, seien sie Soziologen oder Politikwissenschaftler, versuchen, Merton‘s Theorie auf sich selbst und Akteure in Institutionen anzuwenden. Dabei liegt die entsprechende Nutzung der Anomietheorie so nahe, wie sie nur nahe liegen kann.

Betrachtet man z.B. den Chor der Aufgeregten, die sich mit der AfD beschäftigen, dann zeigt sich ein klassischer Anwendungsfall der Anomietheorie, denn die Vertreter etablierter Parteien, deren Abhängige bei den Medien und die sonstigen Kostgänger des etablierten Parteiensystems, sie sind anomisch, so anomisch wie das sprichwörtliche Kaninchen vor der Schlange.

culture_more than sheepMit der AfD ist die politische Welt, wie sie die Etablierten kannten, verschwunden. Dabei hatten sie sich gerade so nett darin eingerichtet. Und dann kommt die AfD, und bringt alles durcheinander. Die ganze selbstgefällige Welt des Berliner Parteiensystems, sie ist dahin. Alles steht auf einmal zur Disposition: die nepotistischen Strukturen, die man heute Netzwerke nennt, die Selbstbedienung etablierter Parteien, die man Parteienfinanzierung nennt, die selbstverliebte Ignoranz und die paternalistische Selbstherrlichkeit gegenüber den Wählern, die man glaubt, belehren zu können, ganz so, als könnte ein Politiker mit abgebrochenem Studium einen Unternehmer, einem Selbständigen, einem Handwerker oder einem Arbeiter etwas sagen, was der nicht selbst viel besser weiß. All das ist zu ende. Die Gesellschaft wandelt sich.

Wandel erfordert Anpassung, erfordert neue Ideen, neue Techniken, neue Strategien. Die etablierten Parteien, sie haben weder neue Ideen noch neue Techniken, geschweige denn neue Strategien. Sie sind Modernisierungsverlierer:

Die SPD versucht das Gespenst der AfD dadurch zu bannen, dass gesellschaftlicher Neid geschürt wird. Dabei sollen die Armen instrumentalisiert und gegen die Reichen, die steuerflüchtigen Reichen in Stellung gebracht werden. Das besonders Pikante daran: Die SPD scheint selbst zu den Steuerflüchtigen zu gehören, sie nutzt Steuerlücken, um die Gewinne ihres Firmenimperiums nicht im Rechenschaftsbericht der Partei auftauchen zu lassen und betreibt scheinbar eine Briefkastenfirma in Hong Kong.

Die CDU und die CSU versuchen sich als starke Männer aufzubauen, als harte Kerle, die hohe Integrationshürden errichten, um sicherzustellen, dass sich die vielen Flüchtlinge auch so in die deutsche Gesellschaft integrieren, dass man sie nicht mehr sieht. Erinnern Sie sich noch an die letzte Asyldebatte in den 1990er Jahren, als die Zahl der Asylbewerber, die nach Deutschland kamen, sehr hoch war: Andere Zeit, selbe Politik. Die CDU und die CSU, sie erweisen sich als ideen-, saft- und kraftlos.

Die Grünen, die Grünen sind das, was man als den Prototyp faschistischer Parteien ansehen kann. Ihre Reaktion auf neue Herausforderungen besteht darin, sich an das Gegebene zu klammern, jeden Wandel zu verweigern und die neue Herausforderung als faschistisch, extremistisch und in jedem Fall bösartig zu bezeichnen, immer in der Hoffnung, die Herausforderung, im vorliegenden Fall die AfD, ließe sich dadurch beseitigen. Die Grünen, sie glauben offensichtlich an die Macht apotropäischer Wortmagie, wie Dr. habil. Heike Diefenbach regelmäßig feststellt. Es gibt wenig Belege dafür, dass die entsprechende Wortmagie z.B. außerhalb der Gesellschaft der australischen Aborigines Wirkung zeigt, aber die Grünen glauben ja auch an die heilende Kraft des Windes und der Sonne. Wir sagen nur: Sturmtief Elvira!

Die LINKE hat mit der AfD vielleicht die geringsten Probleme, was eine Folge davon sein kann, dass die LINKE vornehmlich mit sich selbst beschäftigt ist.

Alle etablierten Parteien sind mit einer neuen Situation konfrontiert, die die Erreichung ihrer jeweiligen Ziele gefährdet. Entsprechend müssen sie reagieren und in der Theorie von Merton sind fünf Möglichkeiten der Reaktion vorgesehen. Merton nennt sie Anpassungstypen, um deutlich zu machen, dass die Erreichung von Zielen die Anpassung der eigenen Mittel voraussetzt.

Konformität, Ritualismus, Apathie, Innovation und Rebellion, das sind die fünf Anpassungstypen. Konformität wäre schlichte Resignation angesichts der Tatsache, dass es nunmehr mit der AfD eine neue Partei gibt. Konformität scheidet aus. Innovation würde neue Ideen und neue Technologien und neue Strategien voraussetzen, die genutzt werden, um der Herausforderung durch die AfD zu begegnen. Neue Ideen? Neue Technologie? Neue Strategien? Bei etablierten Parteien? Fehlanzeige. Innovation scheidet aus. Rebellion ebenso, denn Rebellion setzt ein Aufbegehren gehen die herrschenden Verhältnisse voraus. Etablierte Parteien haben sich die herrschenden Verhältnissen gerade so schön eingerichtet. Sie und ihre Kostgänger profitieren davon. Also auch keine Rebellion.

10 down.jpgEs bleiben Apathie und Ritualismus. Letzteren findet man bei der SPD, die wieder die Neidkarte auspackt und versucht, die Gesellschaft in Neider und Beneidete zu spalten. Man findet ihn bei der CDU/CSU, deren Vertreter immer noch glauben, es gäbe in Deutschland jemanden, der ihnen abnimmt, sie hätten die Flüchtlingskrise im Griff. Apathie findet man bei den Grünen, die angesichts der neuen Herausforderung durch die AfD nichts anderes als Reaktionsmuster haben, als Beschimpfung und Verweigerung des Dialogs und somit interessanterweise dieselben Reaktionsmuster, die große Teile der institutionalisierten Sozialwissenschaft auszeichnen. Einzig die LINKE entzieht sich einer Einordnung in die Mertonschen Anpassungstypen. Hier muss man wohl warten, bis die innerparteilichen Nicklichkeiten ein Ende gefunden haben.

In jedem Fall lässt sich feststellen, dass keine der etablierten Parteien bislang eine Antwort auf die Herausforderung gefunden hat, die die AfD darstellt. Entsprechend stehen sie in der Gefahr, aus dem politischen Leben zu verschwinden, mit ihren Wählern auszusterben. Das Projekt 10%, das die SPD derzeit verfolgt, ist dafür ebenso ein Beleg wie das Projekt, weniger als 30%, an dem die CDU/CSU arbeitet. Und so richtig sieht man nicht, woher die Ideen kommen sollen, die die etablierten Parteien aus dem Schlamassel, in das sie mit dem Auftauchen der AfD geraten sind, zu befreien. Das eben ist das Problem von Netzwerken: Isomorphie. DiMaggio und Powell (1983) haben sie ausführlich beschrieben: In Netzwerken wird dasselbe gedacht, es gelten dieselben Normen, die Leute werden sich immer ähnlicher, tragen dieselben Klamotten, äußern die selben Gedanken, imitieren diejenigen, die scheinbar erfolgreich sind und arbeiten auf diese Weise emsig am gemeinsamen Projekt: Bedeutungslosigkeit. Neue Ideen kommen unter mimetisch Konvergenten nicht vor. Es ist geradezu das Markenzeichen einer Isomorphie, die die Netzwerke der etablierten Parteien zur geballten Ladung Langeweile der Nachplapperer hat werden lassen, dass die Netzwerker genau eines nicht haben: Ideen. Ideen, Innovationen, Neuerungen, sie sind ihnen so fremd, wie dem Uranus das flüssige Wasser. Und so kommt es, dass etablierte Parteien, das, was sie am nötigsten brauchen, schon deshalb nicht haben, weil die Nachzugseffekte der Mittelmäßigkeit dazu geführt haben, dass sie genau das ausgeschlossen haben: neue Ideen!


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