Der Inhalt von Nachrichten ist Befragten wichtig, nicht die Quelle: Kein genetischer Fehlschluss unter Befragten
von Dr. habil. Heike Diefenbach
Wir haben vor wenigen Tagen eine Junk-Studie (Einav et al. 2020) vorgestellt, in der die Autorinnen zwecks Bekämpfung von „fake news“ im Internet (und nur dort) dem genetischen Fehlschluss das Wort geredet haben, nämlich sich dafür aussprachen, bereits Schulkindern beizubringen, die Zuverlässigkeit von Aussagen danach zu bewerten, aus welcher Quelle sie stammen.
Zur Erinnerung oder für diesbezüglich unbedarfte Neuleser – und man kann es ohnehin nicht oft genug wiederholen:
Der genetische Fehlschluss vermeidet die Auseinandersetzung mit der Aussage, indem die Aussage aufgrund ihrer Herkunft als richtig oder falsch bzw. glaubwürdig oder unglaubwürdig beurteilt wird. Logisch besteht keinerlei notwendiger Zusammenhang zwischen der Quelle einer Aussage oder der Person dessen, der sie trifft, einerseits und der Verlässlichkeit oder dem Wahrheitsgehalt der Aussage andererseits (vgl. Walton 1998: 18-19).
Einav et al. sind mit ihrer Sympathie für den genetischen Fehlschluss keineswegs allein. Er wird von Personen, die sich für politische oder geistige Elite halten, geradezu kultiviert (wie jeder selbst prüfen kann, wenn der Fernsehen schaut oder Zeitung liest), auch von Personen mit formaler akademischer Bildung. In der Literatur über „fake news“ oder „Misinformation“ (in aller Regel: in sozialen Medien), die sich während der letzten Jahre regelrecht aufgetürmt hat, ist die Empfehlung durch Akademiker, genetische Fehlschlüsse zu ziehen, weit verbreitet. Am beliebtesten unter ihnen sind zwei Varianten von genetischen Fehlschlüssen, wie sie von Sadiku, Ese & Muza (2018) in ihrer Empfehlung darüber, wie man „fake news“ erkennen könne, beschrieben werden. Der erste genetische Fehlschluss kann dem Typ des argumentum ad hominem (Argument gegen die Person) zugeordnet werden:
„Evaluate Sources: Evaluate the source of the news and other stories from the same source. If the source is not credible, the message may be fake. Check the author … avoid citing sources that are not credible …” (Sadiku, Ese & Muza 2018: 188; Hervorhebung im Original).
Wie man die Glaubwürdigkeit einer Quelle, z.B. einer bestimmten Tageszeitung, beurteilen soll, ohne sie aus der Gesamtschau der Texte, die in ihr erscheinen, ableiten zu wollen, bleibt dabei rätselhaft. Und daher ist die Empfehlung, die Glaubwürdigkeit eines Textes aufgrund seines Erscheinens z.B. in einer bestimmten Tageszeitung beurteilen zu wollen, auch insofern ein logisches Unding als sie tautologisch ist: man dreht sich im Kreis: die Glaubwürdigkeit eines Textes soll anhand seiner Quelle erschlossen werden, und die Glaubwürdigkeit der Quelle kann nur anhand der Glaubwürdigkeit der von ihr veröffentlichten Texte erschlossen werden.
Die zweite Variante des genetischen Fehlschlusses, der zur Beurteilung von Glaubwürdigkeit oder Zuverlässigkeit von Aussagen oder Informationen akademisch anempfohlen wird, lautet
„Consult experts: You may ask the expert such as a librarians or consult of a fact-checking website. Information professionals, including librarians and journalists, can play crucial roles in helping the public to become informed consumers of information products and services …” (Sadiku, Ese & Muza 2018: 188; Hervorhebung im Original).
Diese Form des genetischen Fehlschlusses ist bekannt als argumentum ad auctoritatem, auch bekannt als „Appell an die Autorität“. Sie ist sozusagen die andere Seite der Medaille insofern sie die positive Variante des argumentum ad hominem ist: Auch in dieser Variante wird die Auseinandersetzung mit der Aussage verweigert bzw. sie wird verschoben auf eine andere Person (oder Organisation), von denen man nicht nur meint, sie hätten sich mit der in Frage stehenden Aussage auseinandergesetzt, sondern auch noch meint, die Beurteilung, zu der sie in dieser Frage kommen, sei (deshalb?) notwendigerweise richtig oder verlässlich, von denen man also meint, sie seien „Autoritäten“ (in der Sache).
Hier besteht dasselbe Problem wie beim argumentum ad hominem: Wie bestimmt man, wer eine „Autorität“ ist, wenn nicht aufgrund der Zuverlässigkeit der Aussagen, die diese Person in der Vergangenheit gemacht hat? Wenn man dies zum Maßstab nehmen wollte, könnte die pauschale Rede z.B. von sogenannten fact checkers oder vom Journalisten als „Informationsspezialisten“ aufgrund ihrer (Fehl-/)Leistungen in der Vergangenheit nur als grober Scherz interpretiert werden (s. Wang 2017 für ein einschlägiges Beispiel). Und selbst dann, wenn eine Person auf diese Weise als „Autorität“ ausgewiesen werden könnte, wäre es keineswegs notwendigerweise so, dass diese Person in der in Frage stehenden Sache ebenfalls zu einer richtigen/verlässlichen Beurteilung kommen müsste.
Und das sind – in aller Kürze – die Probleme mit genetischen Fehlschlüssen aller Art; sie alle stellen Versuche dar, der Auseinandersetzung mit einer Aussage aus dem Weg zu gehen, und statt dessen einfache „Formeln“ an die Hand zu geben, deren Befolgung kein eigenes Denken und kein eigenes Wissen erfordern. Das Ganze ist dann nur noch eine Frage der eigenen Vorurteile, der eigenen Gefühle, der eigenen Sympathien oder Antipathien. Jemand, der auf diese Weise zu Einschätzungen oder Beurteilungen von Informationen oder Aussagen kommt, ist auf grundlegende Weise urteilsunfähig.
Man kann deshalb nicht umhin, festzuhalten, dass Empfehlungen zur Identifizierung von „fake news“ oder Misinformation wie die Betrachtung der Quelle und des Gehorsams gegenüber „Autoritäten“ Aufforderungen dazu sind, die eigene Urteilsfähigkeit zugunsten von Fremdvorgaben oder irgendwelchen Gefühlen aufzugeben. Vor Personen, die einem solches empfehlen, kann nicht genug gewarnt werden.
Erfreulicherweise scheint die breite Bevölkerung oder scheinen zumindest andere Bevölkerungsgruppen für diese Form der Aufgabe der eigenen Persönlichkeit aber weniger anfällig zu sein als die Gruppe derjenigen, die sich für irgendwie geartete „Eliten“ halten. Dass
„… the participants do not blindly judge the content of articles based on the news source, regardless of their own partisanship and ideology“ (Clayton et al., 2019: 129; Hervorhebung d.d.A.),
ergibt nämlich die U.S.-amerikanische Studie von Katherine Clayton et al. (2019) vom Dartmouth College in Hanover (in New Hampshire), die wir hier vorstellen wollen.
Die Autoren wenden sich bewußt ab vom Streit um absichtlich platzierte „fake news“ und den Streit darum, wer aus welchen Gründen versucht, Menschen zu täuschen, ebenso wie vom fast schon obsessiven Blick auf internet-basierte soziale Medien, der diesem Streit zugrunde liegt. Sie gehen vielmehr von dem viel wichtigeren und häufigeren Fall aus, dass Information in mainstream-Medien gewöhnlich quasi-objektiv als „Nachrichten“ präsentiert werden und häufig keinen klaren Hinweis auf ihren Wahrheitswert enthalten, also z.B. wenn sie nicht als Satiren erkennbar sind oder explizit als Richtigstellung gekennzeichnet werden, oder – und dies dürfte der bei Weitem häufigste Fall sein – keinen Hinweis auf die parteipolitische Färbung der Information gegeben wird, vielleicht „Experten“-Meinungen als faktisch richtig berichtet werden statt als Meinungen, vielleicht von „Experten“ mit parteipolitischen Neigungen oder gar Bindungen. Die Autoren nennen solche Informationen „ambiguous“ (Clayton et al. 2019: 129), d.h. mehrdeutig:
„Our focus is on ‘ambiguous’ false information major news networks could disseminate regardless of their intention. We define the content of news as ‚ambiguous‘ if it provides no clear clues about its truth value or about its partisan slant“ (Clayton et al. 2019: 129).
Die Autoren wollen die Frage klären, ob Menschen, wenn sie in den mainstream-Medien solche mehrdeutigen Informationen präsentiert bekommen (also in der Regel!), das Medium selbst als Indikator für den Wahrheitswert bzw. die Zuverlässigkeit der Information heranziehen:
„… do people rely on the congeniality of the news outlet [gemeint ist: das berichtende Medium] to judge whether the information is true or false?“ (Clayton et al. 2019:
Theoretisch bezieht sich die Frage auf die sogenannte These vom “motivated reasoning”. Sie besagt im Kern, dass wir dazu neigen, Informationen zu vertrauen, die unsere bestehenden Überzeugungen bestätigen, um auf diese Weise kognitive Dissonanzen zu vermeiden:
„Motivation to reduce cognitive dissonance can lead to biased information processing. Hot weather in the summer confirms what most understand as rapid climate change. An unusually cold winter disconfirms it for climate change sceptics … Psychologists sometimes call this kind of thinking confirmation bias, the tendency for people to accept information that confirms their beliefs while avoiding evidence that contradicts them. Rhetoricians refer to fantasy themes that are constructed by individuals to make sense of ambiguous or confusing realities” (Woodward & Denton 2019: 122-123: Hervorhebungen im Original).
Um ihre Frage danach, ob Menschen zur Einschätzung der Glaubwürdigkeit oder Zuverlässigkeit von mehrdeutigen Informationen, die sie von mainstream-Medien präsentiert bekommen, das jeweilige Medium selbst als Indikator heranziehen, zu untersuchen, haben die Autoren ein Experiment durchgeführt, und zwar ein Experiment im 2×2-Design:
Die beiden Medien, die sie für ihr Experiment ausgewählt haben, sind CNN und Fox News, denn CNN ist der beliebteste Sender unter Liberalen (wohlgemerkt „Liberalen“ im U.S.-amerikanischen Kontext), und Fox News ist der beliebteste Sender unter (U.S.-amerikanischen) Konservativen. (Dass dies tatsächlich so ist, ist durch andere Studien belegt, die die Autoren zitieren.)
„We note that whether these sources actually disseminate false information is not important for the purpose of our research. What matters is whether American people think that the news content provided by these major media networks is believable” (Clayton et al. 2019: 132-133).
Als „motivated“ Personengruppen haben die Autoren Konservative und Liberale unterschieden und zusätzlich Republikaner und Demokraten. Diese Unterscheidungen erfolgten aufgrund der Selbstauskunft der Befragten. Sie konnten sich auf entsprechenden Skalen als (mehr oder weniger eher) konservativ oder liberal identifizieren bzw. als Republikaner oder Demokraten. Diejenigen, die jeweils die Mittelpunkte auf der Skala wählten, wurden aus der folgenden Analyse ausgeschlossen (Clayton et al. 2019: 133; Fußnote 9).
Im Einklang mit der These vom „motivated reasoning“ bzw. dem „confirmation bias“ oder der Bestätigungstendenz haben die Autoren die Hypothese aufgestellt, dass dann, wenn eine falsche Information oder Aussage mit dem Logo von Fox News versehen wird, Republikaner (und Konservative) häufiger als Demokraten (und Liberale) angeben würden, die Information/Aussagen für wahr zu halten, und dann, wenn sie mit dem Logo von CNN versehen wird, Demokraten (und Liberale) sie häufiger für wahr halten würden als Republikaner und Demokraten (Clayton et al. 2019: 132).
Den insgesamt 3.932 Befragten (allesamt bei Amazon Mechanical Turk Registrierte; s. hierzu Horton, Rand & Zeckhauser 2011; Mason & Suri 2012) wurde jeweils ein Text zur gesetzlichen Regelung der Krankheitsversorgung vorgelegt, und zwar in einer von zwei Varianten. Beide Varianten waren weitgehend identisch, unterschieden sich aber in einer wichtigen Hinsicht: In einer Variante wurde behauptet, dass junge Menschen bis zum Alter von 26 mit ihren Eltern mitversichert sind, in einer anderen – falscherweise –, dass sie nur bis zum Alter von 18 Jahren mit ihren Eltern mitversichert seien (Clayton et al. 2019: 134-135).
Vor dem Hintergrund, dass der „Affordable Care Act“, der diese Regelung enthält, dauerhaft Gegenstand von Diskussionen, Reformvorschlägen und Reformen gewesen ist (Clayton et al. 2019: 134), handelt es sich hier um eine mehrdeutige Information im Sinn der Autoren und nicht um eine einfache Wissensfrage.
Wer welchen Text zum Lesen erhielt, wurde per Zufall entschieden. Die Befragten wurden anschließend gefragt,
„How accurate is the following statement?: In the new health care bills proposed by the House and Senate, young adults would lose coverage through their parents’ health insurance plan when they turn 18” (Clayton et al. 2019: 135).
Die Befragten wurden also direct danach gefragt, für wie zuverlässig sie die falsche Information halten, die die Autoren in der zweiten Variante des Textes eingebaut hatten. Ihre Antwort konnten sie auf einer Vierer-Skala abstufen. Anhand eines OLS-Regressionsmodells (näher beschrieben bei Clayton et al. 2019: 136) haben die Autoren dann ihre These geprüft, indem sie die Zuverlässigkeitsbeurteilungen in den experimentellen Kombinationen und in der Kontrollgruppe derer, die eine wahre Information ohne Logo von Fox News oder CNN vorgelegt bekamen, miteinander verglichen.
Es zeigte sich, dass die Befragten, denen der Text mit der falschen Information vorgelegt wurden, diese häufiger als richtig beurteilten als die Befragten, denen der Text mit der richtigen Information vorgelegt wurden, und zwar unabhängig von ihrer politischen Präferenz (Clayton et al. 2019: 138):
„Specifically, the coefficient estimates for the interaction of the false information condition and the CNN condition … and the interaction of the false information condition and the Fox News condition … are all small and statistically insignificant with one exception … Democrats are less likely to think the false statement is accurate, compared to the baseline condition, when it is attributed to Fox News … However, we are not able to reject the null hypothesis of no difference between Democrats and Republicans … In terms of the effect to exposure to false information originating from CNN, Republicans are not siginificantly less likely to think the false statement is accurate, as compared to the baseline condition. Again, this result is contrary to our expectation … Overall, the results of … additional analysis [mit Bezug auf weitere, vor allem soziodemogrpaische Variablen, die ebenfalls erfragt wurden] suggest that our main results are robust to different model specifications and that there is no substantial treatment effect heterogeneity ” (Clayton et al. 2019: 138-189).
Die Hypothese, die die Autoren in Übereinstimmung mit der These vom “motivated reasoning” bzw. vom Bestätigungseffekt aufgestellt haben, konnte also nicht bestätigt werden. D.h. die Befragten haben bei ihrer Einschätzung des Wahrheitsgehaltes bzw. der Zuverlässigkeit („accuracy“) der in Frage stehenden Aussage nicht das Medium, das sie verbreitet hat, in Rechnung gestellt. Und das wiederum heißt, dass ihren Einschätzungen kein genetischer Fehlschluss von der Quelle bzw. dem Medium, von dem die Information stammt, auf die Zuverlässigkeit der Information zugrunde liegt:
„Mere exposure to ambiguous but false information explains study participants‘ rating of a false statement as accurate, regardless of the news source from which the information originates and of participants’s political beliefs“ (Clayton et al. 2019: 139).
Dieses Ergebnis mag für viele überraschend sein und steht auch im Gegensatz zu dem, was im Rahmen von “fake news”-Forschung behauptet (und manchmal auch empirisch festgestellt) wird. Aber es steht im Einklang mit einer älteren Studie, einer Studie von John G. Bullock aus den Jahr 2011, der ebenfalls festgestellt hat, dass Menschen durchaus dazu fähig sind, eine Sicht auf Politiken zu formulieren, die unabhängig ist von den Sichtweisen der Partei, zu der sie politisch neigen:
“… their attitudes seem to be affected at least as much by that information as by cues from party elites. The experiments also measure the extent to which people think about policy. Contrary to many accounts, they suggest that party cues do not inhibit such thinking. This is not cause for unbridled optimism about citizens’ ability to make good decisions, but it is reason to be more sanguine about their ability to use information about policy when they have it” (Bullock 2011: 496).
Auch die Studie von Bullock zeigt also, dass Menschen ihrer Meinungsbildung nicht routinemäßig genetische Fehlschlüsse zugrunde legen, sondern sich dabei auf den Inhalt von Informationen oder Argumenten konzentrieren.
Wähend dies für Bullock ein Grund dafür ist, in die Urteilsfähigkeit von Menschen auch angesichts von falschen oder auch nur mehrdeutigen Informationen zu vertrauen, interpretieren Clayton et al. den selben Befund anders:
„We argue that people tend to simply believe information uncritically when they are exposed to it, even false information” (Clayton et al. 2019: 139; Hervorhebung im Original).
Dies klingt zunächst wie ein Zugeständnis an das Vorurteil, nach dem die Masse der „normalen“ Menschen aufgrund ihrer Einfalt Anleitung und Hilfe durch andere, die sich für „Eliten“ halten, bedürften. Liest man weiter im Text, wird aber deutlich, dass die Autoren weniger dieses Vorurteil propagieren wollen als vielmehr eine höhere Qualität des Berichtens bei mainstream-Medien fordern wollen:
“The implication of our research … is that major media outlets should attempt to prevent any false information from reaching readers or viewers in the first place, rather than emphasizing the sources of the information or focusing on who takes in information from which news outlet(s). Specifically, journalists have an obligation to ensure that all published material is fully supported by facts” (Clayton et al. 2019: 139).
Und es stimmt, denn auch dann wenn man, wie ich, es als grundlegend wichtig für kritisches Denken betrachtet, genetische Fehlschlüsse zu vermeiden, und Bullock deshalb und angesichts der beschriebenen empirischen Befunde darin zustimmt, dass die meisten Menschen ein weit größeres Urteilsvermögen haben als “Eliten”-Angehörige ihnen gewöhnlich zugestehen wollen (oder selbst haben), kann das nicht bedeuten, dass (gerade) mainstream-Medien sozusagen aus der Pflicht genommen sind, wahrheitsgemäß zu berichten, Vermutungen klar von Fakten zu trennen und Aussagen klar zu attribuieren, also eben möglichst keinen Raum für Mehrdeutigkeiten zu lassen.
Dann ist es z.B. nicht akzeptabel, dass von „Studien“ berichtet wird, ohne eine nachvollziehbare Zitation der entsprechenden Publikation und ggf. einen link zur Studie oder Studienbeschreibung anzufügen, und ohne mitzuteilen, ob es sich um eine wissenschaftliche Studie handelt oder eine von politischen Einrichtungen in Auftrag gegebene Legitimations-„Studie“, oder dass Meinungen von Einzelnen als Mitteilungen eines „Experten“ ausgegeben werden, der das in Frage stehende Thema notwendigerweise umfassend kennen, geschweige denn: würdigen, könnte, nur, weil ihn das Thema interessiert oder er sich kraft Anstellungsverhältnis damit beschäftigt oder beschäftigen muss.
Kurz: Haltungsjournalismus bei mainstream-Medien ist nicht akzeptabel, auch, wenn Menschen ihm anscheinend weit weniger auf den Leim gehen als manche das erwartet – und in Teilen sicherlich gehofft – haben.
Literatur:
Bullock, John G., 2011: Elite Influence on Public Opinion in an Informed Electorate. The American Political Science Review 105(3): 496-515.
Clayton, Katherine, Davis, Jase, Hinckley, Kristen & Horiuchi, Yusuka, 2019: Partisan Motivated Reasoning and Misinformation in the Media: Is News from Ideologically Uncongenial Sources More Suspicious? Japanese Journal of Political Science 20(3): 129-142.
Einav, Shiri, Levey, Alexandria, Patel, Priya & Westwood, Abigail, 2020: Epistemic Vigilance Online: Textual Inaccuracy and Children’s Selective Trust in Webpages. British Journal of Developmental Psychology. (Early View) https://doi.org/10.1111/bjdp.12335.
Horton, John J., Rand, David G. & Zeckhauser, Richard J., 2011: The Online Laboratory: Conducting Experiments in a Real Labor Market. Experimental Economics 14(3): 399-425
Mason, Winter & Suri, Siddharth, 2012: Conducting Behavioral Research on Amazon’s Mechanical Turk. Behavior Research Methods 44(1): 1-23.
Sadiku, Matthew N. O., Eze, Tochukwu P & Musa, and Sarhan M., 2018: Fake News and Misinformation. International Journal of Advances in Scientific Research and Engineering 4(5): 187-190. DOI: dx.doi.org/10.7324/IJASRE.2018.32728
Walton, Douglas, 1998: Ad Hominem Arguments. Tuscaloosa: The University of Alabama Press.
Wang, A B., 2017: ABC News Apologizes for ‘Serious Error’ in Trump Report and Suspends Brian Ross for Four Weeks. December 3. https://www.washingtonpost.com/news/arts-and-entertainment/wp/2017/12/03/abc-news-apologizes-for-serious-error-in-trump-report-suspends-brian-ross-for-four-weeks/.
Woodward, Gary C. & Denton, Robert E., Jr., 2019: Persuasion and Influence in American Life. Long Grove, Ill.: Waveland Press.
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So wertvoll solche Untersuchungen auch sein mögen: ich treffe in meinem persönlichen und beruflichen Umfeld nahezu ausschließlich auf Personen, die den Wahrheitsgehalt einer Aussage danach beurteilen, von welcher Quelle sie stammt. Das mag an der Dominanz der Mainstream-Medien in Deutschland liegen, ist aber zu einem großen Teil auf Bequemlichkeit zurückzuführen. “Glauben” ist einfach, “Denken” ist schwer – Kahneman läßt grüßen – und “Denken” erfordert auch Arbeit, sich nämlich zu informieren. Dagegen ist es ein Kinderspiel, zu glauben. Und: wer nix weiß, glaubt jeden Scheiß.
Ich stelle fest: Sie müssen die Personen in ihrem persönlichen und beruflichen Umfeld sorgfältiger auswählen.
@Rainer Wittman
Die Studie wurde in den USA durchgeführt.
Sofern Ihre persönliche Erfahrung generalisierbar sein sollte, müsste man vermuten, dass Leute in Deutschland einfältiger sind als in den USA. Viele mainstream-Medien in den USA sind auch nicht viel besser als ARD und ZDF, so dass das (allein) nicht die Erklärung sein kann.
Es ist aber die Möglichkeit ausgeschlossen, dass sowohl die Mehrzahl der Konservativen und Liberalen einfach jeder “Autorität” vertrauen, egal woher die Nachrichten kommen? Also: Die Leute sind gar nicht besonders kritisch, sondern viel unkritischer als erwartet? (Unabhängig davon, dass hier nachgewiesen wurde, dass sie nicht nur der eigenen Filterblase vertrauen.)
@bollo
Ihre Spekulation entspricht in etwa der Interpretation von Clayton et al., und aus ihr haben sie ihre Forderung abgeleitet, dass Berichterstattung faktisch richtig sein muss, Quellen angeben muss, personelle Verbandelungen nicht unterschlagen darf etc.
Und wer wollte als Konsument von Medien-Informationen dieser Forderung widersprechen!?
Mit der Forderung habe ich auch keine Schwierigkeiten, aber ich denke, dass die Interpretation, dass die Leute halt “alles” glauben, was von Medien kommt, falsch ist, schon deshalb, weil niemand etwas und sein Gegenteil gleichzeitig glauben kann (ohne Schizophrenie zu entwickeln):
Wie soll es z.B. möglich sein, dass ein Mensch glaubt, dass Joe und Hunter Biden im Zentrum eines des größten Korruptionsfälle in der amerikanischen Politik stehen,(wie es u.a. Fox News berichtet hat) und gleichzeitig glaubt, dass sie es nicht tun, das also eine erfundene Geschichte sei (wie es linke Medien probeweise behauptet haben)?!
Wie muss man sich einen “unkritischen” Nachrichtenkonsumenten vorstellen, der beides (bzw. alles) glaubt?!
Menschen “glauben” auch nicht einfach, was ihnen erzählt wird, sondern sie versehen das, was sie hören, sozusagen mit einem Wahrscheinlichkeitswert, Es bedürfte noch vieler Forschung, um zu klären, wie genau sie zu diesem geschätzten Wahrscheinlichkeitswert kommen.
Aber jedenfalls kann man festhalten:
Der Maßstab dafür, diese Wahrscheinlichkeit zu bestimmen, ist anscheinend nicht die Quelle; also: es ist nicht so, dass alle Leute schlechthin einfach “nach Sympathie” mit dem Überbringer der Botschaft glauben
– aber dass sie es tun würden, ist die These vom “(partisan) motivated reasoning”, die in der Literatur immer wieder bemüht wird, um für die Kontrolle von Medien (oder einzelnen Nachrichten) zu werben oder sie zu legitimieren.
Aber die These ist nun schon mehrfach widerlegt.
Ich persönlich finde das sehr erfreulich, denn das bedeutet erstens, dass Leute nicht massenhaft genetische Fehlschlüsse vornehmen, sondern durchaus zwischen Nachricht und Sender unterscheiden, und zweitens, dass der Alp-/Traum (je nachdem) von der systematischen Indoktrination eben das ist: ein Alp-/Traum, der der Realität bestenfalls in Teilen entspricht.
Es gibt eine Reihe von Studien, die zeigen, dass Menschen außerdem fähig sind, angesichts einer Nachricht, deren Wahrheitswert sie nicht bestimmten zu können glauben, Neutralität zu wahren bzw., wenn die Nachricht sie hinreichend interessiert, selbst zu recherchieren und verschiedene Quellen heranzuziehen.
Eine von diesen Studien ist ganz aktuell, und ich hatte ohnehin vor, sie demnächst auf SF vorzustellen.
Klar, dass Leute, die mit dem Kampf gegen “fake news” (die immer die Nachichten sind, von denen sie nicht möchten, dass jemand sie glaubt.) ein Auskommen haben oder die ihn lediglich vorschützen, um Freiheitsrechte einzuschränken, oder die ihre Version der Dinge kraft “Autoritäten” wie z.B. sogenannten Faktencheckern, durchsetzen wollen, die Urteilsfähigkeit von Menschen möglichst kleinreden wollen.
Und wenn Menschen eben nicht “alles” glauben (was psychologisch unmöglich ist) und eben nicht nur das glauben, was jemand sagt, den sie mögen, dann nimmt das diesen Leuten das Argument vom einfäligen, urteilsunfähigen “Normal”-Menschen, dem man Informationen vorenthalten oder systematisch abfüttern müsse oder könne.
Deshalb sind solche Studien wie die von Clayton et al. oder von Bullock so wichtig.
Vielen Dank für die Antwort! Die Kernaussage war mir nicht ganz klar. Aber dass man zwei gegensätzliche Darstellungen glauben (bzw. oder nicht glauben) kann, geht schon. Sie schreiben es ja selbst. 😉 Entweder es landet in der Schublade “Egal”, vielleicht auch in der Ablage “P”, oder der Konsument gibt sich damit zufrieden, dass die Faktenlage wohl noch umstritten oder nicht eindeutig ist. Wenn ich es also richtig verstanden habe, hat der Umgang mit der Nachricht auch dann nichts oder sehr wenig mit dem Überbringer zu tun.
Bekommt man eine neue Information, bleibt einem erst einmal nicht viel anderes übrig als an ihren mitvermittelten Wahrheitswert zu glauben, bis man die Richtigkeit oder Falschheit geprüft hat, und aus dem Glauben Wissen wird. Die Studie hat das Verhalten von Individuen gemessen, die sich entweder der Gruppe der Demokraten oder der Gruppe der Republikaner zuordnen. Hat die Studie auch die Zugehörigkeit zu demokratischen und republikanischen Organisationen berücksichtigt? Aus meiner Erfahrung mit mir und meinen Mitmenschen in Organisationen heraus, denke ich, dass Menschen fähig sind, ihre Ansichten auf zwei (oder mehr?) Ebenen anzupassen: Eine offizielle Meinung, die Fakten unberücksichtigt lässt, und dazu tendiert, die erwünschten Worte und Phrasen zu sprechen, und eine individuelle, die vom Gruppendenken gelöst ist, Fakten berücksichtigt und zu Ergebnissen kommt, die man als gruppenübergreifend bezeichnen könnte, weil die Realität sich nicht an Gruppen orientiert, sondern einfach nur “ist”. Es erscheint mir so, dass man Offenheit und Verschlossenheit einer Gruppe daran messen kann, inwieweit die wahre begründete Meinung eines Individuums von der offiziellen Meinung abweichen darf, und inwieweit die Gruppe fähig ist, die wahre begründete Meinung eines Individuums zu analysieren und gegebenenfalls anzunehmen. Man müßte noch klären, wie es kommt, dass die Art des Umgangs mit Informationen, ihre Präsentation, ihr Verschweigen in Politik und mainstream-Medien auf die Empfänger abfärben kann. Gibt es (sozial-)psychologisch begründbare Eigenheiten des Menschen, der ihn für den genetischen Fehlschluss empfänglich macht? Gründe, die vielleicht sogar buchstäblich genetischer Art sind? Man vertraut einer Person, einer Institution, und neigt dadurch dazu, der Person, der Institution Glauben zu schenken, solange das Behauptete einen Graubereich nicht überschreitet. Wir hatten vor eins, zwei Monaten das Thema von der Unterwanderung der Institutionen. Wie haben es die Unterwanderer geschafft, zu unterwandern? Sie haben sich viele Jahrzehnte Zeit gelassen. Tröpfchenweise den Stein ausgehöhlt. Erst in den letzten Jahren sind die “linken” Themen regelrecht explosionsartig in den Vordergrund gerückt worden, so dass die dahinterliegende Motivation nicht nur den wenigen Menschen, die bereits vor Jahrzehnten die richtige Vorraussicht gehabt haben, sondern auch den Massen, immer deutlicher wird. Vielleicht ist es ein deutsches Problem, das Problem der Obrigkeitshörigkeit, das Problem einer langen quasi-sozialistischen Geschichte, die einmal in das Dritte Reich ausgeartet ist, und jetzt anscheinend in ein Viertes (EU/UNO) Reich gemündet werden soll. Die US-Amerikaner mögen von ihrer christlichen Ausrichtung (nicht zuletzt auch vernünftig begründet) abweichen, und sozialistischen Lebensweisen zusprechen, aber gleichzeitig scheint ein größeres Bewußtsein für Freiheit und amerikanischer Einheit zu herrschen. Vielleicht täusche ich mich aber auch gewaltig. 🙂
@Marvin Falz
Sie haben so Vieles vorgebracht – ich kann hier nur auf Weniges eingehen, aber:
In der Studie wurde sowohl danach gefragt, ob man ideologisch eher “liberal” (also im U.S.-amerikanischen Sinn, nicht im “klassischen”!) oder eher “konservativ” sei, als auch danach, ob man parteipolitisch eher den “Demokraten” oder den “Republikanern” zugeneigt sei.
BEIDES hatte keinen Einfluss darauf, ob die Leute die “Test”-.Nachricht eher glaubten, wenn sie (angeblich) von CNN oder von Fox News kam. Insofern wird Ihre Idee von der “Anpassung” auf verschiedenen Ebenen (wenn ich sie richtig verstehe) falsifiziert oder vielleicht eher: ist im Kontext der Studie irrelevant.
Außerdem wurden in der Studie all diejenigen Befragten ausgeschlossen, die auf diesen Fragen oder der Frage nach der Vertrauenswürdigkeit der “Test”-Nachricht einen Mittelpunkt einnahmen oder die korrekte Antwort gegoogelt hatten (was in einer Nachfrage erhoben wurde).
D.h. die Autoren haben schon dadurch dafür gesorgt, dass die Befragten, die in die Analyse eingingen, überhaupt irgendeine eine ideologische oder parteipolitische Neigung hatten, und ihre Einschätzungen der “Test”-Nachricht nicht durch Googeln zustandekam.
Die Studie ist, soweit ich es der Publikation entnehmen kann, wirklich gut gemacht, nach den Regeln der Kunst, wie man so schön sagt. Methodische Gründe, ihr Ergebnis anzuzweifeln, sehe ich daher nicht.
Was Ihre Argumentation mit Bezug auf Individuen und Gruppen betrifft, so bezieht sie sich auf ein viel umfassenderes Thema als den Gegenstand der Studie, nämlich auf Beeinflussung des Einzelnen durch die Gruppe, wobei anzumerken bleibt, dass der UMGEKEHRTE Effekt, also Beeinflussung von Gruppen”meinungen”, d.h. verlautbarten Meinungen, ebenso zu berücksichtigen wäre).
Gruppenidentifikation spielte in der Studie von Clayton et al. wie oben beschrieben nur mit Bezug auf die Identifikation als “liberal”, “konservativ”, “Demokrat” oder “Republikaner” eine Rolle, und wie gesagt hatte sie keinen Effekt.
Möglicherweise wäre das anders, wenn sie Kleingruppen untersuchen würden, die persönliche Bezugsgruppen für jemanden darstellen, also Leute, mit denen man täglich oder sehr regelmäßig Umgang hat, denen man nahe steht. Aber vielleicht auch nicht. Anekdotenhaftes spricht dafür, dass Leute nicht quasi automatisch die Meinung haben oder annehmen, die ihnen Nahestehende haben (oder zu haben scheinen).
Wenn Sie z.B. die “walk away”-Videos verfolgen, die wir hier auf SF schon einige Male thematisiert haben, dann fällt stark auf, dass Leute davon berichten, UNREFLEKTIERT übernommen zu haben, was ihre Eltern, Geschwister, Freunde, gesagt/getan haben, BIS irgendetwas eine EIGENE RECHERCHE ausgelöst hat, Viele in diesen Videos berichten, dass diese Lösung vom Unreflektierten sozial einigermaßen schwierig war, aber der Punkt ist: sie haben sie trotzdem vollzogen!
Aber Clayton et al. hat das alles nicht interessiert, Ihre Untersuchung galt der “(partisan) motivated reasonng”-These im Zusammenhang mit Mediennutzung und -vertrauen, die ihrerseits im Zusammenhang mit “fake news” sehr oft vorgebracht wird. Und sie konnten diese These nicht untersützen.
Zuletzt noch kurz zur “Übernahme” von Institutionen/Organisationen:
Ich habe mehrfach hier auf SF dafür argumentiert, dass es eine “Übernahme” nicht gegeben hat und nicht geben kann. Es gab vielmehr eine Zerstörung von Insitutionen/Organisationen und deren Ersetzung durch neue, die lediglich dem Namen nach und formal an die zerstörten alten Organisationen anschlossen.
Das Ministerium für Staatssicherheit z.B. gibt es dem Namen nach nicht mehr, aber seine Funktionen und sogar seine typischen Strategien und Maßnahmen sind in dem Namen nach (gleich mehrere) “alte” Insitutionen/Organisationen überführt worden, wo sie die “alten” Funktionen verdrängt haben. Die Frage: “Gibt es in Deutschland derzeit ein Ministerium für Staatssicherheit?” ist daher keineswegs so einfach zu beantworten, wie man das auf den ersten Blick vielleicht meinen könnte.
Oder nehmen sie z.B. “die” Gewerkschaften. Es gibt heute Einrichtungen, die heißen “Gewerkschaften”, und es gab vor hundert Jahren Einrichtungen, die hießen “Gewerkschaften”.
Beide haben so gut wie nichts miteinander gemeinsam – außer der Bezeichnung.
Wenn man sagen wollte, Gewerkschaften seien “übernommen” worden, dann müsste es möglich sein, einen nach wie vor bestehenden Kern zu benennen, um den herum sich Dinge verändert haben. d.h. man müsste irgendeine IDENTITÄT feststellen können, die nach “Übernahme” durch Andere noch erkennbar ist, im Fall der Gewerkschaft: die Vertretung der Interessen der Arbeiterschaft.
Wenn aber Angehörige der unteren oder mittleren Mittelschicht “übernommen” haben und Vieles verändert haben, vor allem die Vertretung der Interessen der Arbeiterschaft durch die Vertretung der Interessen der unteren/mittleren Mittelschicht ersetzt haben, dann ist “die” Gewerkschaft im Kern augehöhlt. Es gibt sie nicht mehr. Es gibt jetzt eine Interessenvertretung für Mittelschichtler, also eine ANDERE Organisation.
Den alten Namen zu okkupieren, vielleicht teilweise nach alten Verwaltungsstrukturen zu agieren, dient lediglich der Legitimation der neuen Organisation: Sie muss ihre Existenz dann nicht selbst t legitimieren; die Legitimation für eine Organisation namens “Gewerkschaft” wurde vor hundert Jahren (tatsächlich vor noch längerer Zeit) angesichts der Lage der Arbeiterschaft geschaffen!
Also nennen wir uns doch auch einfach “Gewerkschaft”, dann fragt uns niemand nach der Legitimation für unsere Existenz, auch, wenn wir gänzlich andere Interessen vertreten.
Also: ja, natürlich ist mir klar, warum Leute von “Übernahme” sprechen; sie stellen dabei auf den rein formalen Aspekt der Namensführung und des Verwaltungstechnischen ab.
Aber in dieser Weise von “Übernahme” zu sprechen, finde ich irreführend, weil die Realität der neuen Organisation mit dem alten Namen in keiner irgendwie inhaltlichen oder ideellen Weise der Realität der alten so bezeichneten Organisation entspricht. Salopp gesagt; Nicht in allem, auf dem “Gewerkschaft” draufsteht, ist auch “Gewerkschaft” drin.
Dasselbe könnte man am Beispiel von “Universitäten” durchdeklinieren.
Mir geht es nicht darum, festzuschreiben, was “wirklich” Gewerkschaft oder Universität ist, sein soll oder zu sein hat, sondern darum, nicht den ggf. enormen UNTERSCHIED zwischen Insittutionen/ Organisationen zu verwischen, der – aufgrund von Namensgleichheit – leicht als nicht oder kaum vorhanden betrachtet werden könnte, wenn tatsächlich – in manchen Fällen – die alte Organisation und die neue Organisation mit demselben Namen GEGENTEILIGES betreiben, für GEGENTEILIGE Ideen stehen und GEGENTEILIGE Interessen bedienen.
Als Soziologe geht es mir um die deutliche Sichtbarkeit dieses Unterschiedes, und der läuft Gefahr, unterschlagen zu werden und aus der Sicht zu geraten, wenn man von “Übernahme” (von nach wie vor Existentem, denn nur so macht der Begriff Sinn) spricht.
Vielen Dank für Ihre umfangreiche Antwort!
Sehr interessant – danke hierfür!