Im Großen und Ganzen unvernünftig: Rhetorische Strategien von Pro-Vaxxern und Anti-Vaxxer für oder gegen eine Covid-19-„Impfung“

Wir alle dürften uns noch gut an die Ausrufung der Covid-19-Pandemie im Frühjahr 2020 erinnern und an die Maßnahmen, die in Verbindung mit ihr als vermeintlich notwendige oder nützliche Maßnahmen von Regierungen fast überall auf der Erde getroffen oder verhängt wurden. Und wie die neuesten Versuche, erneut Angst vor Covid-19 (und vor anderen Krankheiten) zu schüren, zeigen, kann nicht unbedingt davon ausgegangen werden, dass diese Angelegenheit abgeschlossen ist und der Vergangenheit überantwortet werden kann.

Unter den getroffenen Maßnahmen war (und ist) nichts so stark umstritten wie die gentherapeutischen Interventionen per Injektion, die als „Impfungen“ gegen Covid-19 bezeichnet und beworben wurden, und die viele Menschen in gutem Glauben als solche wahrgenommen und sich ihnen unterzogen haben. Viele andere haben diesen Injektionen skeptisch gegenübergestanden, so dass durch allerlei Tricks – von Meldesystemen über den angedrohten Entzug der Möglichkeit, einkaufen gehen zu können, bis hin zur Verpflichtend-Machung der Injektionen für bestimmte Berufsgruppen und sogar Erwägungen, allgemeine Zwangsinjektionen durchzuführen, Gefügsamkeit erzwungen werden musste.

Es war eine schlimme Zeit, deren Folgen wir bis heute spüren, allen voran diejenigen, die von teilweise sehr schweren gesundheitlichen Schäden in Folge der Injektionen betroffen sind, aber nicht nur sie, sondern wir alle: wir alle haben die Steuergelder aufgebracht, die für nutzlose oder schädliche Maßnahmen ausgegeben wurden, viele unserer Pläne für die Zukunft wurden durch diese Maßnahmen ver- oder behindert, Existenzen (im ökonomischen Sinn) vernichtet u.v.m.

Und auf der Ebene der Gesamtgesellschaft hat sich weitere Trennlinie etabliert, die geeignet war und ist, die Gesellschaft (einmal mehr) in mehr oder weniger miteinander unversöhnliche Lager zu teilen, speziell in „Anti-Vaxxer“ und „Pro-Vaxxer“, wobei von „Pro-Vaxxern“ eigentlich gar nicht die Rede war, sondern nur von „Anti-Vaxxern“, die als unvernünftig, unanständig, weil unsolidarisch und kaltherzig gegenüber ihren Mitmenschen, besonders gegenüber „Schwachen“, von denen angenommen wurde, sie seinen durch SARS-CoV-2 besonders gefährdet, dargestellt wurden: Wer erinnert sich in diesem Zusammenhang nicht an den peinlichen Rückfall vermeintlich moderner Gesellschaften wie z.B. der deutschen, in die Zeit vor der Aufklärung, in die Zeit der Inquisition, der u.a. dadurch zum Ausdruck kam, dass Menschen, die sich keine Injektion(en) verpassen lassen wollten, als Oma-Mörder u.ä.m. betitelt und ausgrenzt wurden, nicht nur von Personen in öffentlichen Ämtern oder solchen, die als „Influencer“ benutzt wurden, um Menschen sozusagen an die Nadel zu bringen, sondern auch von „ganz normalen“ (oder bis dahin als solche geltenden) Menschen, die ihre „ganz normalen“ Mitmenschen in dieser Weise beschimpften und beleidigten?!

Das war nicht nur in Deutschland so. Im vergangenen Jahr (2022) hat Reijo Savolainen, Professor emeritus an der Tampere-Universität in Finnland, einen Text veröffentlicht, in dem er auf der Basis von 2.257 Beiträgen, die auf der finnischen Diskussionsplattform Suomi24 im Zeitraum zwischen dem 21. Mai 2021 und dem 22. Oktober 2022 gepostet wurden, untersucht, welche rhetorischen Strategien „Anti-Vaxxer“ und „Pro-Vaxxer“ – neutrale Beitäge waren aus der Analyse ausgeschlossen – verwendet haben, um für oder gegen die Glaubwürdigkeit bzw. Zuverlässigkeit von auf die „Impfungen“ gegen Covid-19 bezogenen Informationen zu argumentieren (wobei „argumentieren“ hier im sehr weiten Sinn gebraucht wird). Savolainen legt seiner Auswertung der Beiträge die Unterscheidung von rhetorischen Strategien nach Aristoteles zugrunde, der drei rhetorische Strategien unterscheidet (auch bekannt als „rhetorisches Dreieck“):

„Sie sind zum einen im Charakter des Redners angelegt, zum anderen in der Absicht, den Zuhörer in eine bestimmte Gefühlslage zu versetzen, zuletzt in der Rede selbst, indem man etwas nachweist oder zumindest den Anschein erweckt, etwas nachzuweisen“ (Aristoteles, übersetzt von Gernot Krapinger, 2019: 12).

(1) „Ethos“ haben Reden (oder Schriften), in denen an die Adressaten appelliert wird, Eigenschaften des Redners (oder Schreibers) oder von Personen, auf die er sich beruft, in Rechnung zu stellen, z.B. seine/ihre lange Erfahrung, Integrität, Urteilsvermögen oder – negativ gewendet –Korruptheit, Bereitschaft, zu lügen, die aus der Vergangenheit bekannt ist, u.v.m. Unter die Kategorie „Ethos“ fallen u.a. das argumentum ad auctoritatem (der Appell an die Autorität) und soziale Generalisierungen, bei denen jemand als verlässlich oder nicht verlässlich eingeschätzt wird, weil er einer bestimmten Klasse von Personen zugerechnet wird oder zuzurechnen ist, z.B. weil er ein Befürworter oder Gegner der Injektionen zur Bekämpfung von Covid-19 ist oder weil er einer bestimmten sozialen Herkunft ist.

(2) „Pathos“ haben Reden (oder Schriften), in denen an die Werte oder die Gefühle der Adressaten appelliert wird. U.a. fallen unter diese Kategorie Argumente ad hominem bzw. „gegen die Person“ selbst (statt gegen eine Klasse von Personen, der diese Person zugerechnet werden kann).

(3) „Logos“ bezeichnet den Appell an den Verstand oder die Einsicht der Adressaten der Rede (oder Schrift), und dies bedeutet, dass der Redner (oder Schreiber) seine Adressaten durch sachbezogene Argumente zu überzeugen versucht. Dementsprechend wird er versuchen, sinnvolle und nachvollziehbare Verbindungen zwischen Fakten herzustellen und Behauptungen durch Fakten und Statistiken zu unterstützen, oder – im negativen Fall – demonstrieren, warum eine behauptete Verbindung zwischen Dingen tatsächlich gar nicht besteht, und sich dabei vielleicht auf Daten oder Forschungsbefunde berufen.

Auf diesen drei Kategorien aufbauend entwickelt Savolainen das folgende Schema, das er bei seiner Auswertung der posts auf Suomi24 benutzt:

Quelle: Savolainen 2022: Abbildung 1 (auf Seite 6 von 16)

Jeder Beitrag wurde von Savolainen daraufhin durchgesehen, welcher Art die Informationsquellen sind (z.B. persönliche Erfahrungen oder Mitteilungen, Nachrichtensendungen, wissenschaftliche Studien, Meinungsbeiträge z.B. im Internet, Aussagen von Menschen mit Gesundheitsberufen u.a.m.), auf die sich der Schreiber zur Stützung seiner Pro- oder Kontra-Haltung bezieht, und auf welche Weise er sich auf sie oder auf von Andersdenkenden angeführte Informationsquellen bezieht.

Der Autor machte also eine Bestandsaufnahme darüber, welche rhetorischen Strategien in den Beiträgen verwendet wurden, um die eigenen Informationsquellen oder solche, die andere angeführt hatten, als zuverlässig oder unzuverlässig darzustellen. Die Auswertungseinheit in dieser Untersuchung sind also nicht die Beiträge bzw. die Personen, die die Beiträge geschrieben haben, sondern die in den Beiträgen genannten Informationsquellen. Dementsprechend wurde dann, wenn in einem Beitrag mehrere Informationsquellen angeführt wurden, jede von ihnen als ein Fall gezählt, in dem der Schreiber eine Informationsquelle durch Pathos, Ethos oder Logos als zuverlässig/glaubwürdig oder unzuverlässig/unglaubwürdig darstellt, und für jeden Fall wurde die verwendete rhetorische Strategie den Kategorien „Pathos“, „Ethos“ oder „Logos“ zugeordnet. Savolainen berichtet (auf Seite 7 seines Textes), dass er dabei auf einige Grenzfälle gestoßen ist, die er durch genaue Betrachtung des Kontextes, in dem sie auftauchten, der einen oder anderen Kategorie zuordnen konnte.

In den von Savolainen berücksichtigen 40 Diskussions-Strängen erwähnten „Pro-Vaxxer“ insgesamt 515 und „Anti-Vaxxer“ 659 Informationsquellen verschiedener Art. Die Informationsquellen, auf die sich „Pro-Vaxxer“ am häufigsten bezogen haben, sind mit 43,3 Prozent Quellen persönlicher Art, d.h. es sind Freunde, Familienangehörige oder Verwandte, und die Informationen basieren auf eigenen Erfahrungen. Mit deutlichem Abstand – 15,9 Prozent aller Informationsquellen, auf die sich „Pro-Vaxxer“ beziehen – folgen Nachrichten aus Zeitungen, Fernsehen, oder dem Internet, und mit 12,8 Prozent Quellen, die Savolainen „persuasive“ Quellen nennt. Darunter versteht er solche, die einen bestimmten Standpunkt vertreten und damit die öffentliche Meinung zu beeinflussen versuchen, was wohl bedeuten soll, dass es sich um „Influencer“ der ein oder anderen Art handelt (vermutlich unter Ausschluss staatlicher „Influencer“ und Trolle). Es sind diese „persuasiven“ Quellen, auf die sich „Anti-Vaxxer“ am häufigsten beziehen: 33,2 Prozent der Informationsquellen, auf die sie sich beziehen, sind „persuasive“ Quellen. An zweiter Stelle in der Rangfolge der Informationsquellen, auf die sich „Anti-Vaxxer“ am häufigsten beziehen, stehen (mit 20,2 Prozent) Quellen persönlicher Art, die bei den „Pro-Vaxxern“ die Quellen sind, auf die sie sich am häufigsten beziehen. Wissenschaftliche Quellen spielen bei „Pro-Vaxxern“ mit 3,5 Prozent der Quellen, auf die sie sich beziehen, und „Anti-Vaxxern“ mit 3,3 Prozent gleichermaßen eine geringe Rolle.

Quelle: Savolainen 2022: Tabelle 2 (auf Seite 8 von 16)

Da wir nicht wissen, wie sich „Pro-Vaxxer“ und „Anti-Vaxxer“ auf diese Informationsquellen bezogen haben, insbesondere, ob sie sich auf sie berufen haben, um den eigenen Standpunkt zu begründen, oder ob sie diese Quellen in einem Kontext angeführt haben, in dem es darum ging, sie als unglaubhaft zu erweisen, ist die Interpretation dieser Ergebnisse nicht so einfach wie es vordergründig erscheinen mag. So ist es z.B. möglich, dass „Anti-Vaxxer“ sich dann, wenn sie sich auf „persuasive“ Quellen berufen, damit indirekt auf wissenschaftliche Studien berufen, wenn diese „persuasiven Quellen“ ihrerseits mit Befunden aus wissenschaftlichen Studien argumentieren. Was die Ergebnisse von Savolainen mit Bezug auf die Häufigkeit bestimmter Arten von Informationsquellen betrifft, auf die sich „Pro-Vaxxer“ und „Anti-Vaxxer“ beziehen, so sind sie also schwierig zu deuten, und deshalb würde ich sie nicht überbewerten.

Aber die Forschungsfrage, die Savolainen vorrangig beantworten möchte, ist ja auch nicht die nach den verwendeten Informationsquellen selbst, sondern die nach den rhetorischen Mitteln, durch die sie auf die Informationsquellen Bezug nehmen. Das Ergebnis der diesbezügliche Auszählung, die Savolainen durchgeführt hat, sieht wie folgt aus:

Quelle: Savolainen 2022: Tabelle 3 (auf Seite 9 von 16)

Wie man der Tabelle entnehmen kann, waren Strategien, die an die Werte oder die Gefühle der Adressaten appellierten („Pathos“) mit 45 Prozent aller beobachteten Strategien am häufigsten, und zwar sowohl unter „Pro-Vaxxern“ als auch unter „Anti-Vaxxern“, gefolgt von Strategien, bei denen an die Adressaten appelliert wurde, Eigenschaften der Informationsquellen in Rechnung zu stellen („Ethos“) mit 40,2 Prozent, und – mit deutlichem Abstand – Strategien, bei denen an den Verstand der Adressaten appelliert wurde oder auf Fakten oder Daten verwiesen wurde („Logos“), mit 14,5 Prozent.

Während Savolainen keinen statistisch signifikanten Unterschied zwischen „Pro-Vaxxern“ und „Anti-Vaxxern“ mit Bezug auf die Häufigkeit der Verwendung von „Pathos“- und „Logos“-Strategien feststellen konnte, hat er einen statistisch signifikanten Unterschied (mit einer Irrtumswahrscheinlichkeit von 5 Prozent) zwischen beiden Gruppen mit Bezug auf „Ethos“-Strategien feststellen können, die von „Pro-Vaxxern“ häufiger benutzt wurden als von „Anti-Vaxxern“. Dieser Unterschied geht auf die Verwendung zweier bestimmter „Ethos“-Strategien zurück, nämlich auf Appelle an „blameworthiness“ bzw. „Schuldigkeit“ oder „Schuldhaftigkeit“ und auf soziale Generalisierungen.

Bei Appellen an die „Schuldigkeit“/“Schuldhaftigkeit“ wird die Verlässlichkeit einer Person oder hier: einer Informationsquelle, in Frage gestellt, indem sie als jemand/eine dargestellt wird, die voreingenommen ist oder absichtlich Falsches behauptet. Einen Fall von „Appell an Schuldigkeit/Schuldhaftigkeit“ aus seinem Untersuchungsmaterial zitiert Savolainen wie folgt:

„Overall, we rate the Daily Expose a Tin-Foil Hat Conspiracy and Quackery level Pseudoscience website based on promoting false and misleading information regarding Covid-19” (Savolainen 2022: Seite 5 von 16),

d.h. etwa:

„Insgesamt stufen wir Daily Expose als eine pseudowissenschaftliche Webseite auf dem Niveau von Alu-Hut-Verschwörungstheorien und Quacksalbereien ein, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, falsche und irreführende Informationen zu Covid-19 zu verbreiten“ (Savolainen 2022: Seite 5 von 16).

Als „soziale Generalisierung“ bezeichnet man – wie oben schon bemerkt –, wenn jemand als verlässlich oder nicht verlässlich eingeschätzt wird, weil er einer bestimmten Klasse von Personen zugerechnet wird oder zuzurechnen ist. Das Beispiel, das Savolainen hierfür aus seinem Untersuchungsmaterial anführt, lautet:

“This guy is definitely a sectarian – he believes but doesn’t know“(Savolainen 2022: Seite 5 von 16),

d.h.

„Dieser Typ ist definitiv ein Sektierer – er glaubt, aber er weiß nichts/weiß es nicht“(Savolainen 2022: Seite 5 von 16).

Es sind also diese Arten von rhetorischen Strategien, besonders soziale Generalisierungen, die „Pro-Vaxxer“ statistisch signifikant häufiger verwendet haben als „Anti-Vaxxer“. „Pro-Vaxxer“ haben auch häufiger als „Anti-Vaxxer“ versucht, eine Informationsquelle dadurch zu diskreditieren, dass sie sie lächerlich gemacht haben („appeal to ridicule“), oder durch ein argumentum ad hominem wie im von Savolainen Beispiel:

“Stop your silly writing. No one is interested in your stupidity” (Savolainen 2022: Seite 5 von 16),

d.h.

„Hör‘ auf, dummes Zeug zu schreiben. Niemand interessiert sich für deine Dummheit“ (Savolainen 2022: Seite 5 von 16).

„Pro-Vaxxer“ haben diese Strategien allerdings nicht so viel häufiger benutzt als „Anti-Vaxxer“, dass die entsprechenden Unterschiede statistisch signifikant wären. Interessanterweise waren es häufiger „Anti-Vaxxer“, die zu überzeugen versucht haben, indem sie sich auf Autoritäten berufen. Weil Gesundheitsbehörden bekanntermaßen der „Impfung“ massiv das Wort geredet haben, ist nicht plausibel anzunehmen, dass „Anti-Vaxxer“ sie als „Autoritäten“ angeführt haben; vielmehr ist plausibel zu vermuten, dass sie sich auf einzelne Forscher oder wissenschaftliche Studien berufen haben, die sich skeptisch über die Covid-19-„Impfung“ geäußert haben. Zu dieser Interpretation des Befundes von Savolainen passt der Befund, nach dem „Anti-Vaxxer“ häufiger als „Pro-Vaxxer“ an den Verstand der Adressaten ihrer Beiträge appelliert haben, insbesondere in der Form des „appeals to reason“, dem Appell an die Vernunft (im engeren Sinn), z.B. dann, wenn sie darauf hinwiesen, dass eine Quelle nicht hinreichend gewürdigt wurde oder das, was sie berichtet, tatsächlich auf einer korrekten Argumentation beruht oder umgekehrt: das, was eine Quelle behauptet, auf einer falschen Argumentation beruht (Savolainen 2022: Seite 12 von 16).

Savolainen stellt fest, dass sowohl die „Ethos“-Strategien als auch die weit seltener in den Beiträgen vertretenen „Logos“-Strategien hauptsächlich in negativer Weise verwendet wurden, d.h. um die Glaubwürdigkeit von Quellen – die der jeweilige „Gegner“ angeführt hatte – in Frage zu stellen, statt in positiver Weise, d.h. um die Glaubwürdigkeit von Quellen, auf die man selbst sich beruft, zu verteidigen oder zu belegen (Savolainen 2022: Seite 13 von 16). Und vielleicht ist das der Hauptgrund dafür, dass

“[i]n the final end, the debates strengthened the partisan beliefs rather than offered a fertile ground for respectful comments and constructive reflection” (Savolainen 2022: Seite 14 von 16),

d.h.

„[i]m Endeffekt stärkten die Debatten eher die jeweiligen Überzeugungen, als dass sie einen fruchtbaren Boden für respektvolle Kommentare und konstruktive Überlegungen boten“ (Savolainen 2022: Seite 14 von 16).

Savolainen meint vor diesem Hintergrund, dass

“This gives rise to a practical question of whether it would be possible to make our dialogs better or more constructive on social media … Realistically, the only effective way to encourage a constructive dialog is the adoption of a sensible moderation policy which systematically removes denigrating or inflammatory content” (Savolainen 2002: Seite 14 bis 16).
„[…]sich [daraus] die praktische Frage [ergibt], ob es möglich wäre, unsere Dialoge in den sozialen Medien besser oder konstruktiver zu gestalten … Realistisch gesehen […] die einzige wirksame Möglichkeit, einen konstruktiven Dialog zu fördern, die Einführung einer vernünftigen Moderationspolitik [ist], die systematisch verunglimpfende oder hetzerische Inhalte entfernt“ (Savolainen 2002: Seite 14 bis 16).

Ich halte dies für eine überaus enttäuschende, weil unangemessene und fehlerhafte Schlussfolgerung aus interessanten und wichtigen Daten. Savolainen begeht hier nämlich einen schwerwiegenden Fehlschluss, genau: einen non-sequitur-Fehlschluss: ein konstruktiver Dialog stellt sich nämlich keineswegs als eine notwendige Folge von mehr „Moderation“, d.h. Zensur, ein. Vielmehr führt Zensur bekanntermaßen dazu, dass bestimmte Stimmen, u.a. solche, die sich vielleicht so ausdrücken können oder wollen, wie die Zensierenden aus der Mittelschicht das für „richtig“ halten, aus dem Dialog ausgeschlossen werden, noch bevor sie jemand gehört hat, bloß, weil irgend jemand, dem die schmutzige Arbeit des Zensierenden aufgetragen wurde, nach gusto oder nach Erwartung darüber, was ein Vorgesetzter hören oder nicht hören will, löscht oder veröffentlicht.

Vor allem befördert jede Zensur Selbstzensur. So können Personen aufgrund ihrer vom offiziellen Narrativ abweichenden Auffassung oder aufgrund eines vergleichsweisen Mangels an Selbstbewusstsein meinen, sie würden ohnehin zensiert werden oder sie könnten ihren Punkt ja doch nicht so ausdrücken, dass er durch die Zensur „durchkäme“. Dialog oder Debatte werden nicht dadurch gefördert, dass sie durch Zensur mehr oder weniger einseitig werden, sondern vielleicht sogar gänzlich zerstört. Savolainens Vorschlag ist aus diesen Gründen keine bessere Alternative zur Schaffung oder Förderung von Dialog oder Debatte als ein „laissez-faire“-Modell. Sein non-sequitur ist auch bekannt als „pot-shot fallacy“, nach der jemand glaubt, dass jemand (vielleicht er selbst), der einen bestimmten Zustand, sagen wir, eine bestimmte Form der Debatte, beklagt, mit seiner alternativen Vorstellung von Debatte automatisch eine bessere Alternative vorschlagen würde. Es kann aber sein, dass die Verwirklichung seines Vorschlages überhaupt nichts ändern würde oder negative Folgen hätte, die den Zustand, der behoben werden sollte, weiter verschlimmert.

Und wenn Savolainen davon überzeugt ist, dass Zensur geeignet sei, Dialoge oder Debatten zu fördern, dann wäre es nur konequent, Zensur nicht auf soziale Medien zu beschränken, sondern auch (ehemalige) mainstream-Medien wie Fernsehen und Zeitungen einer entsprechenden Zensur zu unterwerfen. Wenn Texte, die in mainstream-Medien veröffentlicht werden und offensichtlich eine bestimmte Person in der Öffentlichkeit diskreditieren sollen, wie das derzeit z.B. mit Bezug auf „Berichterstattung“ über Hubert Aiwander in den ehemaligen mainstream-Medien der Fall ist, dann müsste dies, zu einer entsprechenden Zensur aufgrund der systematisch verunglimpfenden oder hetzerischen Inhalte, die diese „Berichterstattung“ verbreitet (noch dazu in Verbindung mit falschen Behauptungen), entfernt.

Dass Savolainen dies nicht vorschlägt, mag dafür spechen, dass (auch?) er die Wahrnehmung hat, dass Dialoge oder Debatten ohnhin nur noch in sozialen Medien bzw. im Internet stattfinden, aber nicht in den ehemaligen mainstream-Medien, oder anders ausgedrückt: dass mainstream-Medien ohnehin das Lied singen, des Brot sie essen, und daher zu einem großen Teil gleichgeschaltet sind.

Wie dem auch sei – es gibt keinen guten Grund, anzunehmen, dass die Daten aus Finnland, die Savolainen in seinem Beitrag präsentiert, nicht auf andere europäische Länder mehr oder weniger übertragbar sind, und wenn das so ist, dann liegen Diskutanden (mehr oder weniger) überall in Europa „Ethos“- und „Pathos“-Strategien deutlich näher als „Logos“-Strategien. Statt Zensur würde ich angesichts dieser Lage empfehlen, darauf hinzuwirken, dass rhetorische Strategien als solche erkannt werden und Argumente, also im Wesentlichen „Logos“-Strategien, als solche von „Pathos“- und von „Ethos“-Strategien unterschieden werden können. Außer bei „Pathos“-Strategien ersetzt dies nicht die Würdigung des einzelnen Argumentes, aber es macht es sehr viel einfacher, zu erkennen, womit man es hier zu tun hat.

Bedauerlicherweise spricht Savolainen auch diesbezüglich die gegenteilige Empfehlung aus:

“Most importantly, the information user has to ask: who is the author [of the] information and what is the origin of the information source (e.g. medical research article or an opinion presented in a blog?) Moreover, it is important to find out whether the information is up-to-date and why is the information shared (e.g. to provide facts about COVID-19 vaccines or to advocate vaccine hesitancy?)”.
„Am wichtigsten ist, dass der Informationsbenutzer fragen muss: Wer ist der Autor [der] Informationen, und was ist der Ursprung der Informationsquelle (z.B. medizinischer Forschungsartikel oder eine Meinung, die in einem Blog präsentiert wird?). Außerdem ist es wichtig, herauszufinden, ob die Information aktuell ist und warum sie geteilt wird (z.B. um Fakten über COVID-19-Impfstoffe zu liefern oder um Impfstoffzögerlichkeit zu befürworten?)“.

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Und damit legt Savolainen nicht nur einige unbegründete Prämissen offen – wie die, nach der Leute Beiträge schreiben können, um „Impfstoffzögerlichkeit“ zu befürworten, aber nicht, um so viele andere Leute wie möglich „an die Nadel“ zu bringen, um möglichst viel Geld zu verdienen, oder die, nach der es keine blogs geben könne, die keinen medizinischen Forschungsarbeiten berichten können (er hat anscheinend noch nie von SF gehört!), sondern empfiehlt dem „Informationsnutzer“ die Benutzung von Strategien, die den „Ethos-“ oder „Pathos“-Strategien zuzuordnen sind, aber nicht den „Logos“-Strategien. So spielt die Frage, wer eine bestimmte Information wo präsentiert, eine Rolle im Zusammenhang mit Fehl“argumenten“ wie dem argumentum ad hominem oder dem argumentum ad auctoritatem oder dem Appell an „blameworthiness“ bzw. an „Schuldigkeit“ oder „Schuldhaftigkeit“ (wie oben erklärt), für ein echtes Argument, das per definitionem an den Verstand von Menschen appelliert, sind diese Fragen jedoch in der Regel irrelevant.

Die Daten, die Savolainen vorgelegt hat, zeigen, dass Menschen sich „Ethos“- und „Pathos“-Strategien ohnehin viel häufiger bedienen als vernünftigen Argumenten – auch ohne Savolainens dahingehende Empfehlung -, und dass es die ersten beiden Arten von Strategien es sind, die in Auseinandersetzungen zu unüberbrückbarer Lagerbildung führen, eben weil sie für relevant erklären, wer wo etwas gesagt hat, statt was aufgrund welcher empirischen Belege oder plausibler, begründeter Hyothesen gesagt wurde. Aristoteles hat betont, dass es nicht Aufgabe der Rhetorik sei, Leute zu etwas zu überreden, sondern sie dabei zu unterstützen, zu erkennen,

„… was … jeder Sache an Überzeugendem zugrunde liegt … dazu kommt, dass es ebenso Aufgabe der Rhetorik ist, Überzeugendes und scheinbar Überzeugendes zu erkennen …“ (Aristoteles 2019, übersetzt von Gernot Krapinger: 11).

Wenn man sich auf das Gesagte statt darauf, wer es wo wie gesagt hat, konzentriert, hat man vieles überhaupt nicht oder nur scheinbar Überzeugende von vornherein vermieden.


Literatur

Aristoteles, übersetzt von Gernot Krapinger, 2019: Rhetorik. Stuttgart: Reclam.

Savolainen, Reijo, 2022: Defending and Refuting Information Sources Rhetorically: The Case of COVID-19 Vaccination. Journal of Librarianship and Information Science. 


 

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