EU-Referendum: Macht die Formulierung der Frage einen Unterschied?

Während in Deutschland die Frage danach, ob die Bevölkerung Deutschlands die Möglichkeit haben soll, über Verbleib in oder Austritt aus der EU zu entscheiden, von offizieller Seite nicht ernsthaft erwogen, ja, nicht einmal thematisiert wird, werden im Vereinigten Königreich derzeit Pläne darüber geschmiedet, wie die Frage lauten soll, die im Rahmen des EU-Referendums, das die alte und die neue Tory-Regierung durchzuführen angekündigt hat, gestellt wird.

In der britischen Presse wird berichtet, dass David Cameron die Frage “Should the UK remain a member of the EU?” erwäge, und weiter hieß es bei der BBC am 27. Mai 2015: “The prime minister is said to believe this would allow those who want Britain to remain in the EU to style themselves as the Yes campaign”. Matt Qvortrup, der Professor für angewandte Politikwissenschaft an der Coventry University ist, betrachtet dies als “an attempt to be the positive campaign because nobody likes to be seen as negative”.

Britain may leave
Vox Europe

Wenn es stimmen sollte, dass jeder oder zumindest die Mehrheit der Menschen lieber zustimmt als widerspricht, jeder lieber “ja” sagt als “nein”, lieber die Bereitschaft signalisiert, ein Projekt (neu) anzugehen, als es zu beenden, dann erscheint es wichtig, dass die Frage, die im Rahmen des EU-Referendums gestellt wird, so formuliert wird, dass nicht über den Austritt aus der EU, sondern über den Verbleib in ihr zu entscheiden ist. Wenn man sich wünscht, dass am Ende des Referendums eine Mehrheit für den Verbleib in der EU steht, würde man seinem Ziel also ein Stück näher kommen, wenn man fragt: “Soll das Vereinigte Königreich [oder Deutschland …] ein Mitglied der EU bleiben?”, statt zu fragen: “Soll das Vereinigte Königreich [oder Deutschland …] seine Mitgliedschaft in der EU beenden?” oder “Soll das Vereinigte Königreich [oder Deutschland …] aus der EU austreten?”.

Die Frage ist, ob es tatsächlich so ist, dass die Mehrheit der Menschen lieber “ja” sagt als “nein” und ob dies in allen möglichen Situationen zutrifft oder nicht. Im Vereinigten Königreich gibt es Leute, die das so sehen, einfach, weil sie die Erfahrungen aus der Vergangenheit entsprechend interpretieren. So wurde die britische Bevölkerung im Jahr 1975 gefragt “Do you think the UK should stay in the European Community (Common Market)?”, zu Deutsch: “Sind Sie der Ansicht, dass das Vereinigte Königreich in der Europäischen Gemeinschaft … bleiben sollte?”. Damals hat sich eine Mehrheit der Bevölkerung für den Verbleib ausgesprochen, also die “ja”-Option statt der “nein”-Option gewählt. Aber was gibt es aus Sicht der empirischen Sozialforschung dazu zu sagen?

Tatsächlich ist die Tendenz von Personen, einer Frage oder Aussage in Befragungen zuzustimmen oder sie positiv zu bewerten, bereits im Jahr 1946 von Lee J. Cronbach in einem Aufsatz über “Response Sets and Test Validity” berichtet worden. In diesem Aufsatz beschreibt Cronbach die Ergebnisse einiger methodischer Experimente, die er mit Studierenden durchgeführt hat, und unter dem Stichwort “Bias; acquiescence” schreibt er:

“When students are offered two alternatives, as ‘True’ versus ‘False’, ‘Like’ versus ‘Dislike’, ‘Agree’ versus ‘Disagree’, etc., some use one more than the other. This effect has been demonstrated in the true-false test and in personality and attitude tests … Individual differences in asquiescence (tendeny to say ‘Yes’ or ‘True’) are reliable by split-half and parallel-test-with-elapsed-time methods …” (Cronbach 1946: 479-480).

Eine Zustimmungstendenz bedeutet, dass jemand eine Präferenz dafür hat, “ja” zu sagen oder zuzustimmen oder etwas positiv zu bewerten, unabhängig vom Inhalt der Frage. Fragt man also nach Zustimmung zur Aussage “Deutschland hat von der Mitgliedschaft in der EU überwiegend Vorteile”, dann wird eine Person mit Zustimmungstendenz ihr zustimmen, statt ihr nicht zuzustimmen oder sie abzulehnen, und dasselbe wird sie tun, wenn man sie nach ihrer Zustimmung zur Aussage “Deutschland hat von der Mitgliedschaft in der EU überwiegend Nachteile” fragt.

Schnell hill esserSeit Cronbachs Veröffentlichung (und einer bekannten Folgeveröffentlichung im Jahr 1950) und einer entsprechenden, sehr bekannt gewordenen Untersuchung von Berg und Rapaport aus dem Jahr 1954 ist die so genannte Zustimmungs- oder Ja-Sage-Tendenz in der methodischen Literatur über empirische Sozialforschung immer wieder untersucht worden, und die Diskussion hat sich längst dahingehend entwickelt, dass nicht mehr direkt die Frage nach der Existenz der Zustimmungstendenz gestellt wird, sondern danach gefragt wird, ob die Zustimmungstendenz als Persönlichkeitseigenschaft bzw. als Antwortstil einer Person aufzufassen ist, oder ob die Zustimmungstendenz der Befragungssituation geschuldet ist oder den Eigenschaften der in der Befragung verwendeten Messinstrumente. Ebenfalls diskutiert wird, ob Zustimmungstendenzen kulturell bedingt sind und entsprechend in verschiedenen Kulturen – meist werden aber tatsächlich Angehörige verschiedener Staaten, nicht Kulturen, untersucht – unterschiedlich stark ausgeprägt sind, was für die Zuverlässigkeit von Ergebnissen aus interkulturell oder international vergleichenden Studien von erheblicher Bedeutung ist (vgl. z.B. Herk et al. 2004).

Auch, wenn diese Diskussionen (noch) nicht beendet und die entsprechenden Fragen (noch) nicht geklärt sind, kann man versuchen, die Zustimmungstendenz zu identifizieren und ihr idealerweise entgegenzuwirken. So gilt die Formulierung von so genannten ungleichgerichteten Aussagen, wie sie von Converse und Presser 1986 vorgeschlagen wurde, im Rahmen von Fragebatterien als gute Praxis in der empirischen Sozialforschung. Bestimmte Überzeugungen werden im Rahmen einer Reihe von Fragen erhoben, die sich in der Richtung der Formulierung unterscheiden. Wenn Personen konsistente Überzeugungen zu einer bestimmten Sache haben, sollten sie diese Überzeugung auch bei in der Formulierung unterschiedlich gerichteten Fragen äußern. Bei einem Referendum wird aber aus Gründen der Klarheit und aus Kostengründen nur eine einzige Frage zu der Sache gestellt, über die entschieden werden soll, so dass diese Lösung bei einem Referendum nicht in Frage kommt.

Alternativ könnte man eine so genannte “balanced question”, zu Deutsch: “ausbalancierte Frage(formulierung)” stellen. Eine ausbalancierte Frageformulierung würde mit Bezug auf das oben gewählte Beispiel z.B. lauten: “Hat (Ihrer Meinung nach) die Mitgliedschaft in der EU für Deutschland eher Vorteile oder eher Nachteile?”, und die Antwortvorgaben für diese Frage müssten lauten: “eher Vorteile” und “eher Nachteile”. Und im Rahmen des EU-Referendums könnte eine ausbalancierte Frage lauten: “Soll das Vereinigte Königreich [Deutschland …] weiterhin Mitglied der EU bleiben, oder soll es nicht weiterhin Mitglied der EU bleiben?”

Es scheint, dass ausbalancierte Frageformulierungen die Zustimmungstendenz tatsächlich reduzieren, aber sie können unnötig lang und umständlich formuliert auf die Befragten wirken. Deshalb sind einige Studien durchgeführt worden, die testen, ob oder welche Unterschiede es macht, wenn die Balance in Frageformulierungen unterschiedlich hergestellt wird. Man unterscheidet inzwischen zwischen vollständiger und minimaler Balance und erfreulicherweise haben verschiedene Untersuchungen gezeigt, dass es keinen nennenswerten Unterschied macht, ob eine vollständige oder eine minimale Balance in der Frageformulierung verwendet wird (Schaeffer et al. 2005).

Eine vollständig balancierte EU-Referendums-Frage könnte lauten:

“Soll das Vereinigte Königreich [Deutschland …] weiterhin Mitglied der EU bleiben, oder soll es nicht weiterhin Mitglied der EU bleiben?”, und die Antwortvorgaben müssten lauten: “Es soll weiterhin Mitglied in der EU bleiben”, und “Es soll nicht weiterhin Mitglied in der EU bleiben”.

Eine minimal balancierte Formulierung könnte lauten:

“Soll das Vereinigte Königreich [Deutschland …] weiterhin Mitglied der EU bleiben oder nicht?”, und die Antwortkategorien könnten lauten: “soll Mitglied bleiben” und “soll nicht Mitglied bleiben”.

Weil die Forschung Belege dafür erbracht hat, dass die Zustimmungstendenz besonders bei Fragen zu beobachten ist, denen dichotome Antwortvorgaben wie “ja” und “nein” oder “stimme zu” und “stimme nicht zu” beigegeben sind (Krosnick 1999), ist es tatsächlich eine brisante Frage, wie eine Frage im Rahmen eines Referendums gestellt wird, ob also z.B. gefragt wird: “Soll …. aus der EU austreten?” oder “Soll … Mitglied in der EU bleiben?”. Wer sich nicht dem Vorwurf aussetzen möchte, er wolle die Befragten in Richtung einer bestimmten Entscheidung “drücken”, muss daher eine minimal balancierte Frageformulierung verwenden.

Im Vereinigten Königreich sollte dementsprechend nicht gefragt werden:

“Should the UK remain a member of the EU?” (“yes”/”no”),

sondern

“Do you think the UK should or should not remain a member of the EU?” (“should”/”should not”).

Number 10Diese Frageformulierung ist hinreichend kurz und verständlich und sie ist geeignet die Zustimmungstendenz zu verringern. Falls man sich in Number 10 Downing Street dennoch aus strategischen Gründen entschließen sollte, die erste Frageformulierung zu wählen, so ist dies zwar ein Verstoß gegen die Regeln der Kunst der empirischen Sozialforschung, aber dieselbe bietet dennoch Trost: In der Studie über Antwortmuster der Befragten in sechs EU-Staaten von Herk et al. (2004) hat sich gezeigt, dass “… British tended to display the lowest acquiescence of all EU repondents” (357).

Wen wundert’s? Uns nicht. Und die Deutschen werden ja ohnehin nicht danach gefragt, ob sie in der EU bleiben wollen oder nicht – außer von uns.

Und in diesem Zusammenhang bleibt anzumerken, dass unsere eigene Befragung nach dem Verbleib Deutschlands in der EU auch nicht den Regeln der Kunst entsprochen hat, was die Frageformulierung betrifft (was aber anscheinend niemand bemerkt hat, auch oder gerade nicht unter denen, denen das Abstimmungsergebnis nicht gefällt). Nur: Sie reduziert die Zustimmungstendenz nicht, und dennoch antworten – derzeit – knapp 93 Prozent der Befragten mit “nein”!

Literatur:

Berg, Irwin A. & Rapaport, Gerald M., 1954: Response Bias in an Unstructured Questionnaire”. The Journal of Psychology: Interdisciplinary and Applied 38,2: .475-481.

Converse, Jean M. & Presser, Stanley, 1986: Survey Questions: Handcrafting the Standardized Questionnaire. Beverly Hills: Sage.

Cronbach, Lee J., 1950: Further Evidence on Response Sets and Test Design. Educational and Psychological Measurement 10, 1: 3-31.

Cronbach, Lee J., 1946: Response Sets and Test Validity. Educational and Psychological Measurement 6, 4: 475-494.

Herk, Hester van, Poortinga, Ype H. & Verhallen, Theo M. M., 2004: Response Styles in Rating Scales: Evidence of Method Bias in Data From Six EU Countries. Journal of Cross-Cultural Psychology 35, 3: 346-360.

Krosnick, Jon A., 1999: Maximizing Questionnaire Quality, pp. 37-58 in: Robinson, J. P., Shaver, P. & Wrightsman, L. (eds.): Measures of Political Attitudes. San Diego: Academic Press.

Schaeffer, Eric M., Krosnick, Jon A., Langer, Gary E. & Merkle, Daniel M., 2005: Comparing the Quality of Data Obtained by Minimally Balanced and Fully Balanced Attitude Questions. Public Opinion Quarterly 69, 3: 417-428.

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