Eingebildete Realität: Geringere Leistung gleiche Note
Das größte Problem, mit dem sich manche in Deutschland derzeit herumschlagen, das ist die Realität.
Sie ist einfach anders als gewünscht.
Sie fügt sich nicht in Modelle, sie beinhaltet Menschen, die sich anders verhalten, als sie sollen, sie widerspricht den einfachsten Wünschen und Einbildungen, und sie ist hartnäckig: Sie geht einfach nicht weg.
Die Versuche, sich der Realität zu entledigen, sie werden immer abstruser und reichen von der Kultbildung, die alle Beziehungen zur Realität abbricht (zu beobachten bei Genderisten, die selbst die in der Welt gesprochene Sprache ablehnen) bis zur vollständigen Negation.
Ein Ausdruck für Letzteres ist der Hype der anonymen Bewerbung, der zwischenzeitlich wieder im Abklingen ist. So als würde man einem Bewerber, der in Anonymität ausgewählt, in Person dann alle Vorstellungen und Erwartungen über den Haufen wirft, einen Gefallen tun, haben Ministerien und willfährige Forscher versucht, die anonyme Bewerbung zu propagieren. Aus Gründen der Chancengleichheit versteht sich.
Chancengleichheit ist in diesem Fall statisch gefasst und erstreckt sich nicht auf die Zeit nach ihrer Herstellung, was insofern misslich ist, als enttäuschte Erwartungen Konsequenzen haben. Wenn ein Personalverantwortlicher aufgrund einer anonymen Bewerbung eine bestimmte Erartung an den Bewerber gebildet hat, dann wird er diese Erwartung an den Bewerber herantragen, nachdem die Anonymität gelüftet ist, so wie dies bei nicht-anonymen Bewerbern auch der Fall ist.
Wenn der anonyme Bewerber die Erwartungen nicht erfüllt, dann wird er in seiner neuen Umgebung dieselben Konsequenzen zu tragen haben, die ein nicht-anonymer Beweber, der hinter den Erwartungen zurückbleibt, zu tragen hat. Nur werden sich im Falle des anonymen Bewerbers diejenigen, die ihn eingestellt haben, übers Ohr gehauen vorkommen, sich getäuscht fühlen, eben wegen der Anonymität.
Die Realität hat die heile Welt der anonymen Bewerbung eingeholt.
Die Realität, sie hat auch einen Schüler aus Bayern eingeholt, der sich bis zum Bundesverwaltungsgericht in Leipzig durchgeklagt hat, also vermutlich nicht er, sondern seine Eltern.
Dort ist er mit seiner Klage gescheitert.
Der Schüler ist Legastheniker und hatte als solcher eine Reihe von Vorteilen gegenüber seinen Mitschülern. Er hatte 10% mehr Zeit für seine Abiturprüfungen, und seine Lese- und Rechtschreibleistungen wurden bei der Notengebung nicht berücksichtigt. Entsprechend enthielt sein Zeugnis den Vermerk: “Aufgrund einer fachärztlich festgestellten Legasthenie wurden Rechtschreibleistungen nicht bewertet. In den Fremdsprachen wurden die schriftlichen und mündlichen Prüfungen im Verhältnis 1:1 bewertet”.
Und diesen Vermerk, den wollte der Schüler bzw. den wollten seine Eltern entfernt wissen. Er hat geklagt. Das Verwaltungsgericht München hat daraufhin entschieden, dass der Hinweis auf die Legasthenie enfernt werden müsse; der Hinweis auf die im Vergleich zu anderen Schülern ungleichen Leistungen, die durch die Noten des Schülers nicht zum Ausdruck gebracht werden, jedoch nicht. Das Oberverwaltungsgericht München hat auf Berufung des Schülers entschieden, dass auch dieser Hinweis gestrichen werden muss. Das Bundesverwaltungsgericht hat auf Revision des Freistaates Bayern entschieden, dass der Vermerk auf die unterschiedliche Bewertungen der Leistungen des Schülers auf dem Zeugnis vorhanden sein muss.
Die rechts-technischen Gründe wollen wir uns sparen. Interessant ist die Argumentation des Bundesverwaltungsgerichts, die da lautet: ungleiche Leistungen dürfen nicht gleich bewertet werden. Wenn Noten die ungleiche Leistung, die ihnen zugrunde liegt, nicht mehr zum Ausdruck bringen und entsprechend eine Vergleichbarkeit der Noten nicht mehr gegeben ist, dann muss dies auf dem Zeugnis vermerkt werden.
Ein Bekenntnis zum Leistungsprinzip von den Richtern des Bundesverwaltungsgerichts.
Mit weitreichenden Folgen?
Noten aus Bremen, das ist lange bekannt, sind mit Noten aus Bayern nicht vergleichbar. Schulabschlüsse, die in Berlin erreicht wurden, nicht mit denen, die in Baden-Württemberg erreicht wurden, gleichzusetzen. Die Ansprüche an die Schüler sind zu unterschiedlich, so dass man anhand von PISA-Studien zeigen kann, dass Hauptschüler in Bayern oftmals bessere Leistungen erbringen als Abiturienten in Bremen.
Mit anderen Worten: Was auf dem Zeugnis steht, garantiert keine Vergleichbarkeit der erbrachten Leistungen und spiegelt insofern ein Leistungsvermögen bei Schülern vor, das ihrem tatsächlichen Leistungsvermögen nicht entspricht.
Was tun?
Man könnte auf die Zeugnisse schreiben: “Dieses Abitur wurde in Bremen erreicht und ist daher nur bedingt mit dem Abitur, das in anderen Bundesländern erreicht wurde, zu vergleichen”. Oder: “Die Noten auf diesem Zeugnis spieglen das Leistungsvermögen des Schülers nur in Bremen, nicht jedoch im Vergleich zu Schülern aus anderen Bundesländern wider”.
Man könnte auch ein Zentralabitur einführen, das die Wettbewerbsverzerrung beseitigt, die derzeit dadurch entsteht, dass die Noten und das Leistungsvermögen, das durch sie ausgedrückt werden soll, zwischen den Bundesländern nicht vergleichbar sind.
Das wäre sicher die beste Lösung, und deshalb wird es sie nicht geben, denn damit würde ein Stück Realität in die schulische Benotung geholt, ein Stück Realität, das es nicht geben wird, so lange deutsche Kultusfürsten über ihre Bildungsparzelle wachen. Die Realität der Nichtvergleichbarkeit von Schulnoten, sie holt die entsprechenden Notenträger dann spätestens im Berufsleben ein – immer vorausgesetzt, sie finden sich auf dem privaten Arbeitsmarkt und nicht im öffentlich-rechtlichen Schutzraum wieder.
Dies führt zurück zum Schüler aus Bayern und seiner Klage.
Welchen Zweck hat er mit seiner Klage verfolgt?
Dass er Legastheniker ist, das wird ein Arbeitgeber spätestens dann merken, wenn er das erste schriftliche Erzeugnis seines neuen Mitarbeiters liest. Und wenn der Arbeitgeber bis dahin im Dunkeln gehalten wurde, keine Ahnung hatte, dass er einen Legastheniker eingestellt hat, wie wird er wohl reagieren? Die Realität der Legathenie lässt sich nun einmal nicht leugnen. Sie geht nicht weg.
… selbst dann nicht, wenn Richter am Oberverwaltungsgericht München in ihrem Urteil, das zwischenzeitlich Makulatur geworden ist, entschieden haben, dass der Vermerk auf die geringere Leistung, die in einer relativen Bevorzugung des legasthenischen Schülers gemündet ist, gestrichen werden muss, was wiederum dem Bundesverwaltungsgericht zu weit ging.
Die Entscheidung der Oberverwaltungsrichter ist die eigentliche Katastrophe: Haben die Richter doch entschieden, dass geringere Leistungen, die aus fachärztlich attestierten Ursachen zur selben Note geführt haben wie bessere Leistungen anderer Schüler, nicht als solche erkennbar gemacht werden müssen. Damit haben sie letztlich jede Form der Benotung ad absurdum geführt und jede Form der Unterscheidung nach Leistungsfähigkeit.
Es mag in der kleinen Welt der Münchner Oberverwaltungsrichter keine besondere Rolle spielen, welche Leistung ein Oberverwaltungsrichter erbringt oder nicht, in der Realität tut es das, und – wie man erfreulicher Weise feststellen kann, am Bundesverwaltungsgericht auch:
“Mit dieser als Notenschutz bezeichneten Maßnahme werden allgemeingültige, von der Person des Schülers unabhängige Anforderungen durch individuelle Anforderungen ersetzt, deren Bezugspunkt das Leistungsvermögen des einzelnen Schülers ist. Eine Fachnote, die durch die Anwendung von Notenschutz zustande gekommen ist, enthält nicht mehr die Aussage, dass der Schüler den der jeweiligen Note entsprechenden Anforderungen genügt. Aufgrund der unterschiedlichen Bewertungsmaßstäbe innerhalb einer Prüfung sind die Prüfungsergebnisse nicht mehr vergleichbar.”
Jetzt müssen die Bundesrichter nur noch den Schritt gehen und ihr Urteil auf die Vergleichbarkeit von Noten zwischen Bundesländern anwenden.
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Hat dies auf psychosputnik rebloggt.
Sätze wie “Dieses Abitur wurde in Bremen erreicht und ist daher nur bedingt mit dem Abitur, das in anderen Bundesländern erreicht wurde, zu vergleichen” stehen ja schon auf den Zeugnissen drauf. In dem Fall abgekürzt durch den Begriff “Bremen”.
Arbeitgeber oder Ausbildungsbetriebe berücksichtigt das vmtl. auch, mindestens inoffiziell. Nur bei den Studienberechtigungen müsste man noch nachbessern. Ein Abitur aus Bremen sollte in anderen Bundesländern nicht als Hochschulzulassung zählen, sondern als Zulassung Fachoberschule.
Allein schon der politische Aufstand in der Bremer Bürgerschaft wäre es wert…..
Leider ist das beschriebene Problem nicht nur für allgemeinbildende Schulen vorhanden, sondern existiert in zweierlei Form auch im deutschen Hochschul-Lehr- und Wissenschafts-Betrieb.
1.) Durch mein Kind (hat gerade das 2. Semester in einem Ingenieurs-Beruf an einer ostdeutschen Hochschule absolviert) weiß ich, daß auch dort viel zu milde und gut benotet wird. O-Ton: “wir glauben die Zensuren einfach nicht mehr und verlassen uns nur noch darauf, wovon wir wissen, daß wir uns die Kenntnisse selber angeeignet haben.”
Dies ist nach meiner Meinung ein denkbar schlechtes Zeugnis für das Lehr-Personal an der betreffenden Hochschule!
2.) Schon vor einigen Jahren war ein Artikel in der FAZ, in dem die “Doktorflut” in Deutschland behandelt wurde. Der Artikel stellte fest, daß die meisten Doktorarbeiten in vielen Fachbereichen (z. B. Medizin, Zahnmedizin, Jura und Philosophie) nur noch völlig unsinnige, nichtsagende Themen zum Gegenstand hätten. Es sei eben ein Statussymbol, auch und insbesondere für öffentliche Arbeitgeber. – Auch das spricht Bände über die Verhältnisse im deutschen Lehrbetrieb.
Hinzu kommt noch, daß es vermutlich tausende von Doktorarbeiten gibt, die von den Titelinhabern weder selber verfaßt, geschweige denn verstanden wurden oder eben einfach nur billige Plagiate sind.
Ich habe mich schon immer gewundert, wieso wir 16 verschiedene Bildungs- und Notensysteme brauchen. Vergleichbarer wird davon nichts!
Die Bewertung von Hochschulen erfolgt in letzter Zeit immer mehr nach erfolgreichen Absolventen (gekoppelt mit moralischem und monetärem Zwang). Das hilft keinem, auch den Absolventen nicht.
Eigentlich weiss auch jeder, dass Noten wenig Rückschlüsse auf Intellekt oder Fähigkeiten zulassen, da sie sich ja immer auf den vermittelten oder geforderten Stoff beziehen.
Insofern müsste man sicher auch einmal über Zulassungsverfahren nachdenken…
Wenn ich dereinst recht informiert wurde, verglich die böse zvs damals je nur Abiturienten der Bundesländern untereinander.
In diesem Sinn hätte es damals bei einem von der zvs vergebenen Platz gerade nicht den Fall gegeben, dass der 1.3er Abiturient aus x durch den 1.1er Abiturienten aus y ubertrumpft wurde.
Heutzutage ist das eh alles anders 🙂
Wäre so eine Klage in Österreich eingebracht worden, hätte es geheißen:”Na, da haben die Eltern sicher das falsche Parteibuch gehabt!” Leider noch immer traurige Realität im Land an der Donau! Sollte sich aber endlich mit Einführung der Zentralmatura ändern, denn jetzt sind alle gleich unter Niveau!
Vielleicht sollten alle Plätze, Stellen usw. In einem Lotterieverfahren, d.h. das Auslosen vergeben werden. Völlig losgelöst von irgendwelchen Bewertungen. Die Traumwelt aller Gleichheitsapologeten wäre doch damit erfüllt.
“…Schulabschlüsse, die in Berlin erreicht wurden, nicht mit denen, die in Baden-Württemberg erreicht wurden, gleichzusetzen.”
NOCH!
Eine weitere Legislaturperiode der Grünen Khmer in BaWü wird dafür sorgen, daß sich das Niveau dort an Bremen anpaßt.
Abitur in Ausdruckstanz und Blockflöte wird nicht mehr lange auf sich warten lassen.
“Grüne Khmer”…vielen Dank. Damit haben Sie mir den Tag gerettet.