Das Pflegegebot: Du sollst den zu Pflegenden lieben wie Dich selbst!

Mittlerweile hat es sich auch bis zum letzten Hinterbänkler im Bundestag durchgesprochen, dass die deutsche Gesellschaft altert: Immer mehr Deutsche leben immer länger, die Lebenserwartung für ein im Jahr 2010 geborenes männliches Kind beträgt 77,51 Jahre, für ein im Jahr 2010 geborenes weibliches Kind 82,59 Jahre. Als Konsequenz dieser Entwicklung wächst die Zahl der sich in stationärer Pflege befindlichen Alten stetig. Fanden sich im Jahr 2001 604.365 Pflegebedürftige in stationärer Pflege, so waren es im Jahre 2009 bereits 748.889, eine Steigerung um 23% in acht Jahren, d.h. die Anzahl der Pflegebedürftigen weist eine lineare Wachstumsrate von rund 2,9% auf. Wäre dieses Wachstum ein Wirtschaftswachstum, die Politiker würden frohlocken, aber es ist ein Wachstum das weitgehend in Krankheit und Gebrechlichkeit stattfindet, die entsprechenden Kosten mit sich bringt, die entsprechenden Löcher in der öffentlichen Finanzierung hinterlässt und so ist die Freude über die wachsende Zahl der Alten doch eher gedämpft.

Pflegebedüftige Alte sind, so sei der erste Abschnitt an dieser Stelle resümiert, ein Wachstumsmarkt. Allein das Wort, Markt, wird bei den vielen, die sich der Altenpflege, dem Verfassen von “Lehr- und Lernbücher” zur Pflege verschrieben haben, zu erheblichem Unwohlsein führen, denn in ihren Augen ist die Altenpflege der Hort der Nächstenliebe, an dem humanistisch-altruistische Menschenfreunde wirken, die ihre Liebe bereitwillig an alle zu Pflegenden und natürlich in gleichem Ausmaß verteilen und am Ende eines Arbeitstages, der sie als bereitwillige Liebesspender gesehen hat, zu Hause in den Sessel sinken, um sich bei der Tagesschau oder bei der Berichterstattung über die Olympiade in London aufzuladen, damit sie am nächsten Tag in alter Frische und Freude ihrem Lebensinhalt, Liebe zu spenden, nachgehen können. Was wie hier wie eine Übertreibung meinerseits erscheint, ist weitgehend geteilter Tenor der meisten Lehrbücher, die sich mit Pflege beschäftigen. Die Distanz zwischen dem, was mit diesen Lehrbücher vermittelt werden soll und dem, was man die Erfordernisse des Pflegealltags nennen könnte, kann kaum größer sein.

Ich habe die letzten Tage eine Reihe von diesen Lehrbüchern (quer-)gelesen, deren Verfasser Pfleger mit einem “Liebens-” oder einem emotionalen Anspruch überhäufen, deren Verfasserder Meinung sind, die Pflege Kranker bestehe in erster Linie aus dem guten Zureden, dem Trost Spenden, erfordere also die emotionale Einbindung, die emotionale Kompetenz von Pflegern und sei deshalb nicht einfach eine Dienstleistung, sondern mehr als das. Die Art und Weise, wie diese Verfasser von Lehrbüchern Pfleger mit emotionalen Anforderungen überhäufen, ist furchtbar und hat zudem mit der wissenschaftlichen Darstellung dessen, was in Altenpflege oder Pflege allgemein von einem Pfleger erwartet wird, nichts zu tun. Und eine wissenschaftliche Darstellung zu geben, behaupten alle Autoren, die entsprechende Publikationen verfassen. Drei der Lehrbücher, die ich in den letzten Tage gelesen habe, will ich den Lesern dieses Blogs auszugsweise zumuten. Alle ausgewählten Auszüge handeln vom Umgang mit dem Leid, das Pflegende in der Pflege tagtäglich sehen:

“Leid betrifft den Einzelnen immer in seiner Eingebundenheit in ein soziales System, in Familie, Gruppe, Gemeinschaft, Volk. So ist Leid auch immer Gegenstand menschlicher Kommunikation. Sicherlich gibt es viel verborgenes Leid und nicht jede schmerzliche Erfahrung verträgt gleich die offene oder öffentliche Diskussion, doch ist die liebende Zuwendung in allen Situationen des menschlichen Lebens, insbesondere in der Erfahrung von Leid eine wichtige Kraft, Leiden erträglich zu machen und zu lindern und vielleicht auch zu verhindern” (Arndt, 2002, S.26)

Man gestatte mir ein paar deutliche Worte: (1) Auch Eremiten können leiden. (2) Sagen Sie niemandem auf der Straße, dass sie leiden, sonst werden sie am Ende noch mit “liebender Zuwendung” übergossen. (3) Ich dachte bislang, Liebe ist ein exklusives Gefühl, mit dem man ausgewählte Menschen beglückt. Es war mir unbekannt, dass es unter uns Liebesspender gibt, die undifferenziert Liebe spenden. (4) Von einem Pfleger, und um Pfleger geht es Arndt, zu verlangen, dass er jeden zu Pflegenden mit liebender Zuwendung überhäuft, ist eine Anforderung, die Arndt vermutlich nicht einmal an sich selbst stellen würde, hätte sie eine Ahnung, welche die Würde von Menschen zumindest untergrabende Tätigkeiten sich mit der Pflege verbinden. (5) Liebe ist nichts, was man einfach so verteilen kann und von dem man ausgehen kann, dass es willig aufgenommen wird. Es soll Menschen geben, die wollen mit der liebenden Zuwendung anderer nicht belästigt werden oder, noch schlimmer, sie sind eigen und wollen mit der liebenden Zuwendung eines bestimmten anderen nichts zu tun haben.

Diese Auffassung, die  eine “liebende Zuwendung” auf eine Ebene mit der Einnahme einer Aspirin-Tablette stellt und gleichzeitig von Menschen verlangt, alle anderen bedingungslos und gleich mit ihrer liebenden Zuwendung zu überfrachten, geht nicht nur an den emotionalen Ressourcen” der einzelnen, sondern auch weitgehend an den konkreten Bedingungen und der erforderlichen Tätigkeiten im Rahmen der Pflege vorbei, wie sie z.B. in einer Vergütungsvereinbarung mit der AOK haarklein erfasst sind (Abbildung). In der Realität ist Pflege eine Dienstleistung und keine Darbietung von Liebe, was abermals und für andere ein Problem ist:

“Pflege als Dienstleistung von Menschen an Menschen kann nur Beziehungspflege sein, d.h. sie ist in erster Linie als Interaktionsprozess zu verstehen. Obwohl Pflege einerseits eine bezahlte Dienstleistung ist, also eine Ware, müssen die Pflegekräfte andererseits ihre “wahre” Herzenskraft mit einbringen, um gute Pflege tatsächlich zu erbringen. Um diesen Balanceakt tagtäglich zu bewältigen, ist eine professionelle Nähe-Distanz-Regulierung notwendig: Um gut zu pflegen, muss ich Nähe erlauben, diese Nähe wiederum belastet durch den täglichen Umgang mit Leid, Trauer usw.: um diese Belastung zu verkraften, muss ich mich immer wieder nach der Arbeit regenerieren; nur dann kann ich am nächsten Tag wieder neue, neu belastende Nähe zulassen” (Mettrop & Charlier, 2007, S.397).

Der Mythos des liebenden Pflegers scheint mir in diesem Zitat auf die Spitze getrieben zu sein (und ganz nebenbei bemerkt, eine Dienstleistung ist keine “Ware”). Pfleger dürfen nicht Arbeiter sein, die ihre Job machen, nein, das wäre zu wenig. Sie müssen Nähe zulassen, sich dem Leid anderer ausliefern, worin man, nachdem, was ich gerade zitiert habe, eine Form der Reinigung der durch die Bezahlung pflegerischer Tätigkeiten verursachten Befleckung sehen kann. Aber, damit kein Zweifel bleibt: Pfleger haben sich voll einzubringen, sie erhalten ihr Geld nicht einfach dafür, dass sie Pflegeleistungen erbringen, nein, der ganze Mensch ist gefordert. Das Erfordernis, Nähe herzustellen, übersieht einmal mehr, dass zur Nähe zwei gehören, ein Pfleger, der sie herstellen will und ein zu Pflegender, der es will, dass ein bestimmter Pfleger Nähe zu ihm herstellt. Aber was sind schon die Interessen von Individuen, wenn es darum geht, den Gott der “compassion” zu feiern, wenn es darum geht, einen Mythos davon aufzubauen, dass Pflege und andere “Dienste am Nächsten” die in der deutschen Gesellschaft zwar nicht hoch bezahlten, aber doch hoch bewerteten und in jedem Fall am höchsten mit Werten überfrachtete Tätigkeiten sind. Lässt sich der so geschaffene liebende Pfleger-Mythos doch trefflich gegen den phantasierten, egoistischen Marktmechanismus einsetzen, der dem Mammon und nicht der Liebe zwischen Menschen huldigt, aslo: In deutschen Pflegeheimen wird geliebt, dass sich die Balken biegen, und dazwischen werden Katheder gelegt und Schmerzmittel verabreicht und dann wird noch die Abrechnung für die AOK erstellt.

In jedem Fall hat eine Beziehung zwischen Pfleger und zu Pflegendem mehr zu sein als eine Beziehung zwischen Kunde und Auftraggeber, und ich behaupte an dieser Stelle, dass sich diese Überfrachtung der Beziehung zwischen Pfleger und zu Pflegendem negativ auf die Qualität der Pflege auswirkt, denn niemand ist in der Lage, jedem gegenüber und in identischer Weise, dieselbe Sympathie, geschweige denn, dieselbe Liebe aufzubringen. Entsprechend können Forderungen wie die zitierten, bei denen, die sie glauben, nur zu Enttäuschung und Leid führen. Deshalb sind derartige Forderungen vielleicht in Kirchen, in denen es um moralische Vorsätze geht, die man nach Besuch des Gottesdienstes wieder vergessen hat, angebracht, nicht jedoch in Lehrbüchern, die mit einem wissenschaftlichen Anspruch auftreten und die eigentlich mit der Realität beschäftigt sein sollten, mit der Realität von z.B. Leid in Pflegeheimen, wie es massenhaft durch Iatrogenese, also Erkrankung als Folge von Behandlung, verursacht wird. Aber, wie Meuche (2011, S.118) weiß und vor ihr schon der von ihr zitierte, aber leider ohne Quellenangabe verbliebene “Frankl” wusste:

Die Bedeutung von Leiden ist darin zu sehen, dass die Leidenden in ihrem Leid einen Sinn suchen können.

Das ist bemerkenswert und hat bestimmt all denjenigen, die im Stellungskrieg des Ersten Weltkrieges oder den Vernichtungsstätten des Zweiten Weltkriegs elendiglich gestorben sind, weitergeholfen, denn bestimmt hatte das Leiden, das sie erlitten haben, einen geheimen Sinn, auch wenn wir bis heute vergeblich nach ihm suchen. Macht nichts, Hauptsache die Leidenden glauben an die Erlösung und die Bedeutung und den Sinn, dann ist das Leiden halb so schlimm.

Damit die Nähe-Distanz-Relation zwischen dem was sich in so genannten Lehrbüchern findet, und dem, was es in der Realität gibt, in das richtige Licht gerückt wird, abschließend eine kleien Statistik aus der Gesundheitsberichterstattung des Bundes. In der Statistik habe ich die Entwicklung der Anzahl der Patienten stationärer Pflege und die Entwicklung der vollzeit- und zeilzeitbeschäftigten Pfleger zusammengestellt. Wie man sieht, muss die liebende Zuwendung offensichtlich im Vorbeigehen erfolgen, denn die Arbeitszeit, die für Pflegeleistungen aufgebracht werden kann, ist relational zu der Anzahl der Pflegenden gesunken, so dass sich die Frage stellt: Wasch’ ich, oder lieb’ ich.

Literatur
Arndt, Marianne (2002). Pflege bei Sterbenden: den Tod Leben dürfen: vom christlichen Anspruch der Krankenpflege. Hannover: Schlütersche.

Mettrop, Susanne & Charlier, Siegfried (2007). Lehrbereich 4 – Altenpflege als Beruf. In: Charlier, Siegfried (Hrsg.). Soziale Gerontologie. Stuttgart: Thieme, S.330-430.

Meuche, Nicole (2011). Pflege heute. München: Urban & Fischer.

Bildnachweis
Nursing Home Neglect Attorney


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