Antisemitismus: Was kann man darüber wissen, was nicht?

Der Streit um die Deutungshoheit in Medien hat einen neuen Gegenstand: Antisemitismus. Andrej Reisin versucht sich einmal mehr als Faktenfinder und fragt in einem fast informiert zu nennenden Beitrag: „Sind die Statistiken irreführend?“. Dann vergleicht er eine Polizeiliche Statistik, mit einer quantitativen Befragung und mit einer Statistik, die eine Interessenorganisation erstellt hat und kommt – wenig überraschend – zu widersprüchlichen Ergebnissen. Wenn man drei Datenquellen, die nicht alle Statistiken sind, mit einander vergleicht, dann ist es kein Wunder, wenn man zu widersprüchlichen Ergebnissen kommt, bei denen einmal nahezu alle Gewalt gegen Juden von Rechten ausgehen soll, einmal von Muslimen und die in der Menge der vermeintlich gefundenen antisemitischen Vorfälle weiter nicht auseinander liegen könnten, weil die einen jeden Grashalm, der auf einem jüdischen Friedhof umgetrampelt wurde, als Antisemitismus zählen, während die Anderen nur dann zählen, wenn eine Straftat begangen wurde.

Doch beginnen wir vorne.

Antisemitismus ist eine latente Variable.

In der Realität gibt es keinen Antisemitismus. Man kann Antisemitismus nicht im Supermarkt kaufen, nicht in messbaren Einheiten nachweisen und ihn auch nicht objektiv bestimmen.

Das ist so mit latenten Variablen. Wer es nicht glaubt, der gehe hin und besorge ein Kilo Antisemitismus (und wenn er gerade dabei ist, kann er gleich noch einen Liter Intelligenz mitbringen).
In einem Beitrag, den wir vor einiger Zeit veröffentlicht haben, haben wir verschiedene Blickwinkel auf Antisemitismus zusammengetragen, die sich in vielen verschiedenen Definitionen, die nur wenig miteinander gemein haben, niederschlagen.

Wenn man eine Statistik, also z.B. eine Erhebung über die Häufigkeit von Antisemitismus erstellen will, dann beginnen alle Probleme damit, eine handhabbare Definition von Antisemitismus zu formulieren, die Kriterien enthält, anhand derer sich z.B. eine Tat als antisemitisch klassifizieren lässt.

Das klingt einfach, ist es aber überhaupt nicht.

Wenn A B auf die Nase haut und B Jude ist, ist die Tat dann antisemitisch:
1) Weil A B auf die Nase gehauen hat, weil B Jude ist?
2) Nur weil B Jude ist?

Alternative 2 ist offensichtlich kein gangbarer Weg, denn auf diese Weise wird jede Straftat, die sich gegen Juden richtet, vom Diebstahl über den Betrug bis zur Beleidigung unabhängig davon, ob der Täter weiß, dass sein Opfer Jude ist, zum Antisemitismus. Statistiken, in denen z.B. Sachbeschädigungen erfasst werden, die sich gegen jüdische Einrichtungen oder Friedhöfe richten, scheiden somit als Informationsquelle aus, solange nicht sichergestellt ist, dass der Farbfleck auf dem Grabstein sich tatsächlich gegen Juden richtet und nicht etwa das Ergebnis eines missglückten Scherzes von Jugendlichen ist.

Alternative 1 ist voller Probleme, denn: woher will man wissen, ob A, wenn er B auf die Nase haut, dies nur deshalb tut, weil B ein Jude ist? Tatsächlich gibt es eine Vielzahl von Ursachen für einen Faustschlag, die keinerlei Bezug zur religiösen Denomination von B haben müssen. Vielleicht ging dem Faustschlag ein Streit daüber voraus, welcher Mittelstürmer die beste Wahl für die nächste Fußballweltmeisterschaft ist. Man muss also irgendwie sicherstellen, dass der Schlag von A nur deshalb erfolgt ist, weil B ein Jude ist. Um dies sicherzustellen, benötigt man den Täter oder klare Angaben zum Täter und den Tatumständen. Im Rahmen der Statistik zu politisch motivierter Kriminalität soll dies angeblich der Bestimmung antisemitischer Straftaten zu Grunde liegen (Dazu kommen wir gleich noch).

Zurück zu Reisin und seinem Versuch, Fakten zu finden.
Er vergleicht die Polizeiliche Statistik Politisch motivierter Kriminalität mit einer Studie der Universität Bielefeld, die Andreas Zick, ein sehr erfolgreicher akademischer Unternehmer in Sachen (Rechts-)Extremismusforschung und Julia Bernstein durchgeführt haben. Mit anderen Worten, Reisin vergleich Kartoffeln mit Petersilie.

Die Polizeilich Statistik politisch motivierter Kriminalität ist eine politische Statistik, die Straftaten zusammenstellt, die von Landeskriminalämtern gesammelt werden und nachträglich und auf Grundlage der ermittelten Tatverdächtigen von Mitarbeitern des Bundeskriminalamts den einzelnen Bereichen Links-, Rechtsextremismus, Antisemitismus usw. zugeordnet werden. Die Kriterien, nach denen diese Zuordnung erfolgt, sind mehr als schwammig und sehen eine „Würdigung der Tat und der Tatumstände“ vor. Auf Basis dieser „Würdigung“ soll dann entschieden werden, ob Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass „Bezüge zu völkischem Nationalismus, Rassismus, Sozialdarwinismus oder Nationalsozialismus ganz oder teilweise ursächlich für die Tat waren“. Ist dies der Fall, gilt die entsprechende Tat als politisch-rechts motivierte Straftat.

Man muss sich den armen Polizeibeamten beim BKA einmal vorstellen, der mit einer Köperverletzung konfrontiert ist, bei der das Opfer Jude ist und der nun herausfinden soll, ob die Körperverletzung durch andere latente Variablen, die man in der Realität nicht findet, durch Sozialdarwinismus, Nationalsozialismus oder Rassismus VERURSACHT ist. Es ist kein Wunder, dass die Statistik politisch motivierter Kriminalität im Bereich „Antisemitischer Straftaten“ fast nur rechts motivierte Gewalt oder Straftaten verzeichnet. Antisemitismus war ein fester Bestandteil des Nationalsozialismus. Wenn derjenige, der B auf die Nase geschlagen hat, auch nur entfernt mit einer rechten Gruppe in Verbindung gebracht werden kann, wird der Beamte die Zuordnung politisch-motivierte Straftat – rechts vornehmen. Handelt es sich beim Täter um einen Ausländer, dann muss der arme Beamte nicht nur nachweisen, dass A B deshalb auf die Nase geschlagen hat, weil B Jude ist, er muss auch nachweisen, dass dies aus rassistischen Motiven erfolgt ist. Ein Problem, das nur dann zu lösen ist, wenn der Täter sagt, er habe B auf die Nase geschlagen, weil er Juden hasse, die entsprechende Kausalität also selbst herstellt. Dies erklärt die Seltenheit, mit der Ausländer als Täter antisemitischer Straftaten in der Statistik politisch-motivierter Straftaten erfasst werden.

Die Statistik politisch-motivierter Straftaten ist deshalb die Zeit nicht wert, die in sie gesteckt wird. Sie ist ein politisches Instrument, das von Politikern in Auftrag gegeben wurde, um eine bestimmte Sichtweise auf die Realität durchzusetzen. Mehr nicht.

Kommen wir zur Studie „Jüdische Perspektiven auf Antisemitismus in Deutschland“, die Reisin gegen die Statistik politisch-motivierter Straftaten stellt und von der er der Ansicht ist, sei sei auch eine Statistik. Die Studie ist aber keine Statistik. Sie ist ein weitgehend gescheiterter Versuch, eine quantitative Vorstellung darüber zu erhalten, wie häufig Juden sich als Opfer von Straftaten sehen, die antisemitisch motiviert sind. Der Versuch ist aus mehreren Gründen gescheitert.

Es wurde eine Online-Befragung durchgeführt. Die Online-Befragung hat zu der mageren Ausbeute von 1018 angefangenen und 603 beendeten Interviews geführt, von denen am Ende ganze 553 komplette Fragebögen geblieben sind. Auf dieser Grundlage lassen sich keine umfassenden Aussagen machen. Von denen, die den Fragebogen beantwortet haben, verfügen 63,3% über einen Hochschulabschluss. Die Stichprobe ist damit stark verzerrt, denn in der Gesamtbevölkerung haben nur rund 10% einen Hochschulabschluss. Die 553 hauptsächlich Akademiker werden im Verlauf des Online-Fragebogens gebeten anzugeben, ob sie schon einmal Opfer eines körperlichen Angriffs geworden sind, WEIL sie jüdisch sind. Es bleibt somit ihnen überlassen, eine entsprechende Kausalität herzustellen, auf Grundlage welcher Erwägungen und Motive auch immer. 3%, also 16 Befragte geben an, schon einmal Opfer eines körperlichen Angriffs geworden zu sein, WEIL sie jüdisch sind. Die Angabe ist somit Ergebnis einer subjektiven Einschätzung, des Opfers. Wie weit man mit subjektiven Aussagen kommt, ist eine eigene Frage, deren Beantwortung Seiten füllt. Belassen wir es mit einem Zitat von Hercule Poirot: “Ah, the witnesses, one always get conflicting information”.

Von den 16, die angegeben haben, schon einmal Opfer eines körperlichen Angriffs geworden zu sein, WEIL sie jüdisch sind, geben 81% als 13 an, der Angriff sei durch eine muslimische Person/Gruppe erfolgt. Das ist nun nicht wirklich die Basis, auf der man ernsthaft Aussagen darüber machen kann, wer hier wen angreift. Aber die 81% sind die Zahl, die Reisin der Statistik politisch motivierter Straftaten gegenüberstellt. Auf einen derartigen Vergleich kann man eigentlich nur kommen, wenn man ideologisch motiviert ist oder keine Ahnung davon hat, wie die einzelnen Daten zustande kommen. Reisin weiß zumindest, dass seine 81% auf nur 16 Berichten körperlicher Angriffe basieren, so dass sich die Frage stellt, warum er sie überhaupt erwähnt.

Wie dem auch sei, wir haben eine Statistik der Polizei, in der angeblich politisch-motivierte Krininalität erfasst wird. Die Erfassung erfolgt auf Basis haarsträubender Kriterien nachträglich durch eine speziell dafür eingerichtet Abteilung des BKA, also nicht durch die Beamten, die vor Ort und aus erster Hand mit einem Fall zu tun haben. Das reicht schon, um sagen zu können, dass die Statistik politisch-motivierter Kriminalität eine politische Statistik mit zweifelhaftem Aussagewert ist.

Wir haben eine Studie, die vom „Unabhängigen Expertenkreis Antisemitismus“, wie Reisin weiß, in Auftrag gegeben wurde, wozu auch immer, die nicht dazu geeignet ist, Aussagen über Anzahl und Verbreitung antisemitischer Straftaten zu machen, geschweigen denn dazu, Rückschlüsse auf die Täter zu ziehen.

Und dann haben wir noch die Zählung, die die Recherche und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS) durchführt, ein Unternehmen des Amadeu-Antionio-Konzerns, dessen Ziel darin besteht, so viel wie nur möglich antisemitische Straftaten nachzuweisen, um die Fördergelder zur Bekämpfung von Antisemitismus auch weiterhin sprudeln zu lassen.

Kurz: Keine der drei Quellen, die Reisin in seinem Beitrag anführt, sind geeignet, um Aussagen über die Täter zu machen, die hinter antisemitischen Straftaten stehen oder festzustellen, ob es sich bei den erfassten Straftaten überhaupt um antisemitische Straftaten handelt..

Was bleibt?

Die Statistik politisch-motivierter Kriminalität kann vielleicht dazu genutzt werden, einen Eindruck von der Anzahl der Straftaten zu gewinnen, die von den Beamten im BKA als politisch rechts-, links- oder durch Ausländer motivierte Kriminalität eingestuft werden. Die Relation zwischen den drei Gruppen sagt etwas über die entsprechende Kategorisierungspraxis der Beamten. Ob und wenn ja welcher Ausschnitt der Wirklichkeit durch diese vermeintliche Statistik beschrieben wird, ist eine ganz andere und offene Frage.

Die Studie aus Bielefeld lässt bestenfalls den Schluss zu, dass die 16 Opfer körperlicher Gewalt, die an der Befragung teilgenommen haben, ein anderes Bild über die Täter vermitteln als es die rund 1500 Straftaten tun, die in der Statistik politisch motivierter Kriminalität für 2016 erfasst wurden. Was auch immer daraus folgen mag.

Die Statistik des RIAS ist vollkommen unbrauchbar, denn dort wird jeder Grashalm, der auf einem jüdischen Friedhof umgetrampelt wurde, als Antisemitismus gezählt. Wie gesagt, die finanzielle Unterstützung der RIAS hängt davon ab, dass möglichst viel antisemitische Kriminalität gefunden oder gezimmert wird.

Wie so oft kann man am Ende einer Darstellung zur Datenlage in Deutschland nur den Schluss ziehen, dass es keine verlässlichen Daten gibt und dass es den Anschein hat, dass niemand verlässliche Daten haben will. Es wäre ein Leichtes für die Innenminister der Länder und des Bundes eine klare Definition und klare Kriterien vorzugeben, die es Polizeibeamten, die unmittelbar mit einer Tat konfrontiert sind, die ermitteln, erlauben, eine Einschätzung darüber zu treffen, ob sie es mit einer antisemitischen Tat oder einem von Judenhass getriebenen Täter zu tun haben. Dass dies nicht erfolgt und eine nachträgliche Klassifizierung im BKA durchgeführt wird, spricht eigentlich schon Bände.

Dass ein unabhängiger Expertenkreis viel Geld, vermutlich mehr als 100.000 Euro für eine quantitative Onlinebefragung und die mittlerweile – warum auch immer – obligatorische qualitative Nachbetrachtung ausgibt, die am Ende in eine Studie einfließen, die nicht einmal den Anspruch einer theoretischen Herangehensweise erhebt und somit eine vollkommen wertlose Online-Befragung mit 533 realisierten und brauchbaren Interviews und 31 narrativen und biographischen Interviews mit Juden erbringt, die für die Forscher sicher interessant, aufgrund der fehlenden theoretischen Basis aber vollkommen ohne Wert sind, weil man zum einen nicht sagen kann, warum die Juden wozu befragt wurden und zum anderen, was an den Ergebnisse relevant bzw. irrelevant ist, einfach deshalb, weil es keinen Bezugsrahmen gibt, ist ein Geheimnis, das nur die Mitglieder des „Expertenkreises“, der wie jeder Expertenkreis vornehmlich dazu da ist, Gelder zu verteilen, lösen können.

Geht es um das Thema Antisemitismus, dann gibt es viele, die ganz viel behaupten, aber niemanden, der etwas wissen kann, denn es gibt keine wissenschaftlich belastbaren Daten in Deutschland – wie gewöhnlich. Warum nicht: Belastbare Daten haben den Nachteil, dass man einen Pflock in die Landschaft geschlagen hat, auf den sich ab nun alle beziehen müssen. Entsprechend können Innenminister politische Statistiken nicht mehr für politische Zwecke benutzen, Wissenschaftler keine sinnlosen Studien ohne relevante Ergebnisse mehr durchführen und politische Aktivisten können keine Grashalme mehr sammeln, um damit ihre eigene Notwendigkeit zu belegen.

Deutschland ist eine Gesellschaft, in der jeder am Trog sitzen will, um sich an Steuergeldern zu laben. Daten und Fakten stören dabei nur.

Es bleibt festzustellen, dass die ARD in einem Beitrag im Faktenfinder die Polizeiliche Kriminalstatistik als bloßen Arbeitsnachweis der Polizei darstellt, während sie in einem anderen Beitrag davon ausgeht, dieselbe Polizeiliche Kriminalstatistik stelle ein getreues Abbild der Wirklichkeit dar. 

Die Probleme, die sich mit der Polizeilichen Statistik politisch motivierter Kriminalität ergeben, resultieren im Wesentlichen daraus, dass man von einem Verhalten nicht auf die Motivation dessen, der sich verhalten hat, schließen kann (oder nur dann, wenn man einen Fehlschluss begehen will). Dr. habil. Heike Diefenbach hat dieses Problem für das Beispiel der empirisch unbegründeten Behauptung, dass Homosexuelle häufiger Selbstmord begehen als Heterosexuelle dargestellt

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