Heuchler, Heuchelei und die Logik dahinter
Haben Sie auch ein Gefühl der Befremdung, wenn Sie Politiker den “Wählerauftrag” beschwören hören, nur um dann im nächsten Satz im Hinblick auf hehre Ziele wie “Solidarität” oder “soziale Gerechtigkeit” darüber belehrt zu werden, was gut für Sie ist bzw. was Sie und “die Menschen” “verstehen” oder “einsehen” müssen? Haben Sie dasselbe Gefühl, wenn Aktivisten es sich offensichtlich leisten können, Monate lang öffentliche Plätze zu besetzen, um ausgerechnet gegen Banker zu demonstrieren, die mit dem Geld der “Bevölkerung” “Roulette” spielen und dadurch “Ungleichheit” zementieren? Und welches Gefühl beschleicht sie, wenn Aktivisten Innenstädte und dort stehendes privates Eigentum (zumeist in Form von Autos und Ladenfenstern) zerstören, um gegen die ungleiche “Einkommensverteilung” zu demonstrieren? Was ist mit den Politikern, die im Dienstwagen vorfahren, um für eine “nachhaltige Entwicklung” zu plädieren und im gleichen Atemzug die “Fertilität” der eigenen Bevölkerung mit finanziellen Mitteln anreizen? Was ist mit Priestern, denen das “ungeborene Leben” so wichtig ist, während sie aktuell vorhandenes Leben in welcher Weise auch immer missbrauchen; was mit Professoren, die aus ihrem gepolsterten Sessel und der Sicherheit einer C3-Honorierung heraus Tiraden schreiben, um gegen die Armut anderer zu demonstrieren?
Was ist mit den Bewegten, die “bildungsferne Sozialisationsumfelder” infiltrieren, um ihre Version von Bildung zu verbreiten. Was mit Feministen, die “Gender Mainstreaming” zur herrschenden Doktrin erklären, an der Wohlverhalten gemessen werden soll. Was haben Personen, die von “sozialer Gerechtigkeit”, “Teamfähigkeit”, Nachhaltigkeit”, “Solidarität”, “sozialer oder emotionaler Kompetenz” oder von Diversifizität schwadronnieren gemeinsam, außer dass sie in wolkigen, d.h. abstrakten Begriffen schwelgen, die in der Realität nur wenig Widerhall finden?
Eine Prädisposition zur Heuchelei!
Diese Prädisposition hat schon Charles Dickens beobachtet, dessen Romane voller Personen sind, die Wasser predigen und Wein trinken: Da ist Mrs. Jellyby, die vor lauter Engagement für einen “obskuren Stamm” in Afrika, die Menschen in ihrer direkten Umgebung vergisst, da ist Mr. Chadband ein schmieriger und fetter (oleaginous) Prediger, der seine eigene Sekte gegründet hat und dafür wirbt, die Armen kurz zu halten, damit sie durch “Arbeit ihr Seelenheil” erreichen können, während er sich bei den Mitgliedern seiner Sekte durchfrisst. Heuchelei ist eine Erscheinung, mit der menschliche Gesellschaften sich seit Anbeginn ihrer Existenz auseinander zu setzen haben, und Heuchelei ist ein Verhalten, das durch bestimmte Randbedingungen und bestimmte Prädispositionen erleichtert und befördert wird.

Abstraktes Denken und das Schwelgen in abstrakten Konzepten in der Absicht, moralische Oberhoheit zu gewinnen, ist, so hat Joris Lammers (2012) in vier feinen Experimenten herausgefunden, der Boden, auf dem Heuchelei gedeiht. In einer Reihe von Experimenten hat Lammers gezeigt, dass Probanden, deren moralisches Verhalten in der Zukunft gefordert war, deren moralisches Verhalten durch eine “abstrakte Mentalität” ein Denken in abstrakten Begriffen determiniert war, zwar von anderen ein hoch moralisches Verhalten erwarteten, selbst aber bereit waren, zu schwindeln, offensichtlich gestohlenes Eigentum zu behalten oder ihren Arbeitgeber dauerhaft zu betrügen. Dagegen legten Probanden, die an konkreten Gegenständen orientiert waren und deren moralisches Verhalten im Hier und Jetzt gefordert wurde, an sich und andere die selben moralischen Massstäbe an. (Die Ergebnisse, die auf dem Königsweg empirischer Forschung erzielt wurden, sind unter variierenden Bedingungen und variierenden experimentellen Anordnungen immer die selben: Wer sich in abstrakten Welten beweg, misst andere an moralischen Massstäben, die er an sich selbst nicht anzulegen bereit ist.)
Kurz: Wer sich in abstrakten Welten bewegt ist, wenn es um moralische Verhaltensweisen geht, ist schnell dabei, moralische Vorbildlichkeit von anderen zu fordern, und noch schneller ist er dabei, die selbe moralische Vorbildlichkeit an sich selbst nicht anzulegen. Dieses Phänomen, so Lammers (2012, S.476), sei das Ergebnis einer “flexiblen Kognition”, die es den entsprechenden Heuchlern erlaube, Moral so zu biegen, dass sie die Umweltverschmutzung durch andere verurteilen, während sie selbst ihre Bananenschale in Nachbars Garten werfen. Diese “flexible Kognition” wird dadurch ermöglicht, dass sich die entsprechenden Heuchler in “abstrakten Welten” aufhalten, aus denen sie nur auftauchen, um das konkrete Verhalten anderer zu verurteilen, nicht jedoch, um sich selbst an den eigenen Massstäben zu messen.
Lammers ist über dieses Ergebnis verstört, er hat es offensichtlich nicht erwartet. Entsprechend schreibt er am Ende seines Artikels: “Our results suggest that people who routinely think in an abstract manner about moral issues are more susceptible to hypocrisy. This is disturbing because it suggests that those people who routinely base themselves on an abstract set of rules, such as judges, police officers, or priests …, are themselves the most susceptible to hypocrisy” (Lammers, 2012, S.479) [Unser Ergebnis legt den Schluss nahe, dass Menschen, zu deren täglicher Routine es gehört, in einer abstrakten Weise über moralische Sachverhalten nachzudenken, anfälliger für Heuchelei sind als andere. Das ist beunruhigend, denn es verweist darauf, dass die Menschen, die ihre Handlungen täglich auf ein abstraktes Regelset gründen, wie z.B. Richter, Polizisten oder Priester, diejenigen sind, die selbst am anfälligsten sind für Heuchelei.]
Nach den Ergebnissen von Lammers ist es eigentlich nicht mehr möglich, sich abstrakte Tiraden von Moralisten in Kommentarspalten, von Politikern, Priestern oder sonstigen Moralapostel anzuhören, ohne dabei an Heuchelei zu denken. Allerdings beginnt da, wo Lammers Studie aufhört, die eigentlich interessante Forschungslandschaft, die nach den Ursachen für Heuchelei sucht, die sich die Frage stellt, welche Interessen Akteure dazu veranlassen, anderen Wasser zu predigen und selbst Wein zu trinken. Die Antwort auf diese Frage, die bislang noch nicht untersucht wurde, ist aus meiner Sicht (und meinem Weltbild heraus) klar: Die entsprechenden Moralisten versuchen, sich einen Vorteil zu verschaffen, ihre eigene Interessen dadurch zu befördern, dass sie eine moralische Verhaltenskeule gegen andere schwingen, an deren Einhaltung sie selbst nicht einmal im Traum denken würden. Heuchler sind Opportunisten, die immer da gedeihen, wo die Randbedingungen besonders günstig sind, z.B. deshalb, weil es im öffentlichen Diskurs möglich ist, abstrakte Behauptungen aufzustellen, ohne dass jemand die empirische Begründetheit der Behauptung hinterfragt, deshalb, weil affektive Konnotationen zu Begriffen, wie Solidarität, soziale Gerechtigkeit, Nachhaltigkeit, emotionale Kompetenz, Armut u.v.m. so stark sind, dass sie jede Kritik, jeden Versuch, die moralische Deklaration auf eine empirische Basis zu stellen, im Keim ersticken. Heuchelei floriert in Gesellschaften, die die Emotion über die Rationalität stellen. Denn wer sich emotional an etwas klammert, der merkt in der Regel gar nicht, dass er am Nasenring durch die Manege geführt wird.
Lammers, Joris (2012). Abstraction Increases Hypocrisy. Journal of Experimental Social Psychology 48(2): 475-480.
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Ein höchst interessantes Thema. Ich habe zur Beantwortung der Motive “Wasser predigen, Wein Trinken” eine andere, mögliche These:
Ich würde hier eher die Spieltheorie anwenden bzw. auch das zugrunde liegende Prinzip des “tit for tat”/ Principal-Agent Beziehung.
Da Wein einen höheren Nutzen hat als Wasser ist es nur logisch, diesen zu wählen. Was aber, wenn der Wassertrinker dies erkennt? Wein stellt also einen Bonus, einen hohen Nutzen dar ( der Weintrinker verzichtet nicht und stellt sich höher). Das Wasser einen entsprechend negativen Nutzen.
Insofern glaube ich, dass die Predigt nur dann stattfindet, wenn der Prediger erwartet, dass der andere Wasser trinken wird. Würden beide Wein trinken, so wäre kein Vorteil mehr vorhanden. Und würde der Wassertrinker den Weintrinker “erwischen”, so hätte dies einen Malus zur Folge (zB öffentliches anprangern, negative Schlagzeilen, etc.). Schlagworte wie Gerechtigkeit etc. eigenen sich jedoch hervorragend, genau dies zu umgehen. Nur sehr selten wird der Prediger angegriffen, denn er handelt doch in gutem Namen…
Sind wir jedoch im angesprochen HIER UND JETZT, so kann der Weintrinker keinen Vorteil generieren, da der Wassertrinker dies sofort erkennen würde und sofort bestarfen würde.
Und im “tit for tat” würde der Wassertrinker fortan auch Wein trinken – was wiederum beide Teilnehmer auf die gleiche Stufe stellt, den Prediger vollends unglaubwürdig macht und die Predigt damit hinfällig wird. Der Prediger würde alles verlieren – er wäre kaum noch authentisch. Aus dieser Schutzfunktion heraus differenziert sich die Handlung von heute zur geplanten Handlung.
Und wenn Sie einen Schritt weitergehen, können Sie dies auch in die Vergangenheit transferieren. Als Beispiel: Eltern und andere Erwachsene fordern von Kindern, beim Radfahren einen Helm zu tragen – selbst jedoch ohne diesen unterwegs zu sein. Eltern verbieten Ihren Kindern im Jugendalter, Haschisch zu konsumieren (zu recht) – obgleich diese Eltern vor vielen Jahren noch nackt um ihr Zelt tanzten. Usw.
Wie wäre demnach die spieltheoretische Lösung? Ich denke, genau hier müsste eine weitere Forschung ansetzen.