Die herbeigerechnete Armut grassiert wieder: Von Armutsgefährdung und von Demenzgefährdung

In Baden-Württemberg und Bayern gibt es die “niedrigste Armutsgefährdung”, so hat es das Statistische Bundesamt heute verkündet. Das ist schön.

Aber was bedeutet es?

Was ist eine Armutsgefährung?

DestatisUmgangssprachlich wird man eine Gefährdung wohl als eine Situation definieren, in der man mit einer Verletzung bedroht wird, etwa durch einen betrunkenen Autofahrer und genau so ist “Gefährdung” auch im Strafgesetzbuch definiert: Wer ein Auto führt, obwohl er zu betrunken oder zu bekifft ist, ein Auto zu führen oder wer sich im Verkehr grob verkehrswidrig und rücksichtslos verhält und deshalb Leib und Leben eines anderen gefährdet, der macht sich nach §315 einer Gefährdung des Straßenverkehrs schuldig. Zur Straßenverkehrsgefährdung bedarf es somit einer konkreten Gefahrensituation und der Handlung eines Gefährders.

Nicht so bei der Armutsgefährdung, die man z.B. als Ergebnis einer Handlung ansehen könnte, bei der ein Wegelagerer einen Händler überfällt und um sein Hab und Gut bringt,oder bei der man an den Finanzminister denken kann, der Steuern in einem Umfang erhebt, die die Besteuerungsopfer an den Rand oder in die Armut schicken. Man könnte an Famliengerichte denken, die Männer mit Armut nicht nur gefährden, sondern den Tatbestand der relativen Armut für viele per Urteil zur Unterhaltszahlung verwirklichen. Aber weder Finanzbeamte noch scheidungswillige Ehefrauen, Scheidungsrichter oder Wegelagerer werden als Armutsgefährder verfolgt. Vielmehr gibt es gar keinen Straftatbestand der Armutsgefährdung und keinen Armutsgefährder, die Armutsgefährdung ist vielmehr nicht existent.

Es gibt sie nicht in der wirklichen Welt. Sie schlägt sich, anders als die Straßenverkehrsgefährdung in keiner konkreten Handlung nieder, nein, die Armutsgefährdung ist eine statistische Kennzahl, extra vom Statistischen Bundesamt herbeigerechnet, um all denen, die mit der Bekämpfung von angeblich Armut ihren eigenen Unterhalt verdienen, eine Legitimation für ihr Dasein zu verschaffen.

Armutsgefährdung basiert auf dem Nettoäquivalenzeinkommen. Das Nettoäquivalenzeinkommen ist schlicht die Summe der Haushaltseinkommen. Dazu zählen nach Abzug von Steuern und Sozialversicherungsbeiträgen (Statistisches Bundesamt, 2013: 159):

  • ArmutsgefaehrdungBundeslaenderEinkommen aus Vermietung und Verpachtung;
  • Familienleistungen (Kindergeld) und Wohnungsbeihilfen;
  • Sozialgeld, Sozialhilfe, bedarfsorientierte Grundsicherung;
  • regelmäßige Geldtransfers zwischen privaten Haushalten (Unterhaltszahlungen);
  • Zinsen, Gewinne aus Kapitalanlagen;
  • Einkünfte von Haushaltsmitgliedern unter 16 Jahren;

Zu diesen Haushaltseinkommen werden personenbezogene Einkommen addiert, also das, woran man – im Gegensatz zu den Mitarbeitern des Statistischen Bundesamts – in erster Linie gedacht hätte, wenn man an Haushaltseinkommen denkt:

  • Einkommen aus unselbständiger Tätigkeit;
  • Gewinne aus selbständiger Tätigkeit;
  • Arbeitslosengeld I oder II
  • Alters- und Hinterbliebenenrente;
  • Krankengeld und Invaliditätsleistungen;
  • ausbildungsbezogene Leistungen;

Spannend, wie viele Posten aus Transferzahlungen bestehen…

Um das Nettoäquivalenzeinkommen zu berechnen, werden z.B. im Rahmen des Mikrozensus Mitglieder von Haushalten in Deutschland gebeten, für ihren Haushalt anzugeben, welche Einkommen das Haushaltseinkommen konstituieren. Da ein Haushalt aus einem, zwei, zehn, zwanzig Mitgliedern bestehen kann, ergibt sich die erste statistische Regelmäßigkeit, denn mit steigender Zahl der Haushaltsmitglieder steigt das Haushaltseinkommen. Schön zu sehen auf Seite 161 des Datenreports für das Jahr 2013, der Alleinerziehende mit 12.436 Euro im Jahr als die Gruppe ausweist, die das geringste Haushaltseinkommen zur Verfügung hat. Das ist auch kein Wunder, denn zum Haushaltseinkommen trägt maximal eine Person plus ggf. der Staat über Transferzahlungen oder ein zu Unterhaltszahlungen Verurteilter bei. Insofern ist es kein Wunder, dass das durchschnittliche Jahres-Haushaltseinkommen von Alleinerziehenden-Haushalten (12 436 Euro) unter dem Haushaltseinkommen von zwei-Erwachsenen-Haushalten (23 471 Euro) bleibt. Es wäre höchst seltsam, wäre dem nicht so.

Ausgehend von diesem Nettoäquivalenzeinkommen wird nun die so genannte Armutsgefährdung, die von niemandem direkt ausgeht, aber dennoch vorhanden zu sein scheint, berechnet, und zwar als 60% des Medians des Haushalts-Nettoäquivalenzeinkommens. Der Median ist eine statistische Größe, die eine gegebene Verteilung in zwei Hälften zu je 50% teilt. Im Jahre 2010 liegt der Median bei einem Haushaltseinkommen von 19.043 Euro, d.h. unterhalb und oberhalt von 19.043 Euro finden sich jeweils 50% der Haushalte.

Hui buhArmutsgefährdung liegt also bei  60% des Median-Nettoäquivalenzeinkommen vor. Warum? Warum nicht? Wir persönlich tendieren eher zu 57,77892%, aber 60% ist auch in Ordnung, schließlich hat das Ganze nichts mit der Realität zu tun, ist vielmehr ein Griff in die statistische Trickkiste, um einerseits eine vorhandene Verteilung, in diesem Fall die Verteilung des Nettoäquivalenzeinkommens in schicke Teile zu zerlegen und andererseits den Gutmenschen und unkritischen Journalisten etwas vorzuwerfen, auf das sie sich stürzen können. Erstere um vermeintlich Gutes zu tun, Letztere um einen Skandal oder eine bestürzende Ungerechtigkeit anprangern zu können.

Dazu bedarf es jedoch einer griffigen Zahl. Und deshalb liefert das Statistische Bundesamt den Anteil derjenigen, die insgesamt und in Subgruppen unterhalt oder genau auf dem 60%-Schnittpunkt des Median-Äquivalenzeinkommens der Haushalte liegen, der als Armutsgefährdung definiert wurden (wie gesagt, wir sind für 57,77892%, aber das ist natürlich nicht so griffig wie 60%).

Es sei noch einmal darauf hingewiesen, dass alle Haushalte mit demselben Gewicht in die Berechnung des Nettoäquivalenzeinkommens eingehen. Egal, ob die Haushalte aus zwei Erwerbstätigen, einem Rentner mit Enkel, einer nicht arbeitenden Mama mit vier Kindern den entsprechenden Transfereinkommen und Hartz IV, aus einem Studenten oder einer Kommune mit sieben Mitgliedern besteht, die Einkommen werden zusammengeworfen, als ein Haushalt gezählt, durchgeschüttelt und dann wird verkündet:

  • In Bremen gibt es 23,1% Haushalte, die armutsgefährdet sind. Kein Wunder, wenn man die Bremer mit ihrer hinterher hinkenden Infrastruktur mit den reichen Hamburgern in einen Topf wirft.
  • Alleinlebende Männer sind zu 30,7% von Armut gefährdet, ein Fakt, der eher nicht so problematisiert wird und ebenso nicht verwunderlich ist, wenn man die Einkommen von Haushalten, in denen nur einer verdient, mit denen Einkommen von Haushalten, in denen zwei verdienen und der Staat die drei vorhandenen Kinder subventioniert, zusammenwirft.
  • 18 bis 24jährige sind zu 18,9% von Armut gefährdet. Angesichts des hohen Anteils von Studenten in dieser Altersgruppe, die im eigenen Haushalt leben, ebenfalls kein Wunder. Ebensowenig ist es ein Wunder, dass unter 18jährige, die im eigenen Haushalt leben, nicht das durchschnittliche Einkommen eines Pensionärshaushalts, mit dem sie verglichen werden, erreichen.

Kurz: Armutsgefährdung ist ein statistisches Spielzeug, das über die Realität überhaupt nichts aussagt, bestenfalls sagt es aus, dass der Intellekt derer, die ständig Armutsgefährdung im Mund führen, in hohem Maße durch Demenz gefährdet ist, ebenso wie die Lauterkeit der Statistiker, die die Armutsgefährdung regelmäßig berechnen in ständiger Gefahr steht, vollständig zu verschwinden.

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