Deutsche Diskussionskultur!?
Die Diskussionen der letzten Wochen, in deren Zentrum die Frage stand, wo die Grenzen der Meinungsfreiheit, wenn es sie überhaupt gibt, verlaufen, haben eine Reihe zum Teil hitziger Diskussionen in den verschiedensten Blogs unterschiedlichster ideologischer Ausrichtung gesehen. Das Markanteste an diesen Diskussionen, ob in linken oder rechten Blogs geführt, ist nach meiner Ansicht, dass sie schon nach kurzer Zeit zum Austausch emotionaler und affektiv besetzter Inhalte wurden und alle vernünftige Diskussion der offensichtlich befriedigenderen verbalen und unbegründeten Diskreditierung des Gegenüber gewichen ist. Der Gegenüber ist derjenige, der die eigene Meinung nicht teilt. Offensichtlich ungeübt im Kontakt mit Andersdenkenden führt die Konfrontation mit ebensolchen bei denjenigen, die sich im sicheren Hafen eines aus ihrer Sicht ideologisch gleichgeschalteten Blogs wähnen, zu affektiven Abwehrreaktionen wie sie die Behavioristen in den 1930er und 1940er Jahren beschrieben haben. An die Stelle einer sachlichen Auseinandersetzung mit einer Position, die man weder teilt noch “gut findet”, tritt eine emotionale Abwehrreaktion, die alle von Festinger in seiner Theorie kognitiver Dissonanz beschriebenen Stadien durchläuft, von der aggressiven Abwehr ungeliebter Inhalte, über den Versuch, die ungeliebten Inhalt durch Labeling oder Diskreditierung des Gegenüber aus der “eigenen Welt” zu schaffen, bis zum Rückzug in die Schmollecke, wenn die ungeliebten Inhalte auch nach wiederholter Aufforderung nicht weggehen. Derartige Reaktionen sind einerseits infantil, andererseits basieren sie auf exakt denselben Prämissen, auf denen auch die Politik der Bundesregierung basiert: auf dem Versuch, anderen die eigene Weltsicht zu oktroyieren, auf dem Versuch, alle Meinungen, die nicht in den engen Meinungsrahmen passen, den man selbst für den richtigen hält, mundtot zu machen, die entsprechenden “Meiner” umzuerziehen und in jedem Fall ihrer Rechte auf freie Meinungsäußerung zu berauben. Diese Reaktion zeigt einen erschreckenden Mangel an kritischer Kultur, an Fähigkeit, andere Meinungen zu akzeptieren und an der Bereitschaft, Respekt für das jeweilige Gegenüber aufzubringen. Diese vor allem bei deutschen Intellektuellen verbreitete Unfähigkeit ist nicht neu. Sir Karl R. Popper hat sie bereits 1958 in einem Vortrag beschrieben, aus dem ich im Folgenden Auszüge wiedergebe.
“Ich möchte mich daher zuallererst als einen ganz altmodischen Philosophen vorstellen – als einen Anhänger jener längst überwundenen und verschwundenen Bewegung, die Kant ‘Aufklärung’ nannte. … Das bedeutet aber, dass ich ein Rationalist bin und an die Wahrheit und die Vernunft glaube. … Was ich meine, wenn ich von der Vernunft spreche oder vom Rationalismus, ist weiter nichts als die Überzeugung, dass wir durch Kritik lernen können – durch kritische Diskussion mit anderen und durch Selbstkritik. … Der rechte Rationalist glaubt nicht, dass er selbst oder sonst jemand die Weisheit mit dem großen Löffel gegessen habe. … Aber nur die kritische Diskussion kann uns helfen, eine Idee von mehr und mehr Seiten zu sehen und sie gerecht zu beurteilen. … Denn ein Rationalist wird sich leicht darüber klar, dass er seine Vernunft anderen Menschen verdankt. Er wird leicht einsehen, dass die kritische Einstellung nur das Ergebnis der Kritik anderer sein kann. und dass man nur durch die Kritik anderer selbstkritisch sein kann. … Das ist in Kürze, was ich meine, wenn ich mich als einen Rationalisten deklariere. … Ich denke dann an die Hoffnung einer Selbstbefreiung durch das Wissen … Und ich denke an die Pflicht jedes Intellektuellen, die leider die meisten Intellektuellen, insbesondere seit den Philosophen Fichte, Schelling und Hegel, vergessen haben. Es ist die Pflicht, nicht als Prophet zu posieren.
Gegen diese Pflicht haben insbesondere die Denker Deutschlands schwer gesündigt, zweifellos weil es von ihnen erwartet wurde, dass sie als Propheten auftreten – als Religionsstifter, als Offenbarer der Geheimnisse der Welt und des Lebens. … Kein Wunder, dass Propheten und Führer gefunden wurden. Was insbesondere im deutschen Sprachraum auf diesem Gebiet gefunden wurde, grenzt ans Unglaubliche. In England sind diese Dinge glücklicherweise sehr wenig beliebt. Wenn ich die Situation in den beiden Sprachbereichen vergleiche, dann steigt meine Bewunderung für England über alle Grenzen. Man muss sich in diesem Zusammenhang daran erinnern, dass die Aufklärung mit Voltaires Briefen aus London über die Engländer anfing: mit dem Versuch, das intellektuelle Klima Englands, jene Trockenheit, die so merkwürdig mit seinem physischen Klima kontrastiert, auf dem Kontinent einzuführen. Diese Trockenheit, diese Nüchternheit, ist einfach ein Ausfluss des Respekts vor dem Nebenmenschen, dem man nichts einreden will oder vorzumachen versucht. Im deutschen Sprachraum ist das leider anders. Hier will jeder Intellektuelle ein Mitwisser der letzten Geheimnisse, der letzten Dinge sein. Hier werden nicht nur Philosophen, sondern auch Wirtschaftler, Ärzte und insbesondere Psychologen zu Religionsstiftern. …
Warum liegt uns Aufklärern so viel an der Einfachheit der Sprache? Weil der rechte Aufklärer, der rechte Rationalist, niemals überreden will. … Vor allem aber achtet er [der Rationalist] die Selbständigkeit, die geistige Unabhängigkeit des anderen zu hoch, als dass er ihn in wichtigen Dingen überzeugen wollte; viel eher will er seinen Widerspruch herausfordern, seine Kritik. Nicht überzeugen will er, sondern aufrütteln, zur freien Meinungsbildung herausfordern. Die freie Meinungsbildung ist ihm wertvoll. Sie ist ihm nicht nur darum wertvoll, weil wir mit der freien Meinungsbildung der Wahrheit näher kommen können, sondern auch darum, weil er die Meinungsbildung als solche respektiert. Er respektiert sie auch dann, wenn er eine Meinung für grundfalsch hält” (Auszug aus: “Woran glaubt der Westen? In: Popper, Karl R. (1990) Auf der Suche nach einer besseren Welt. München: Piper, S.213-231).
Abschließend sei darauf hingewiesen, dass eine Meinung für Popper eine begründete Weltsicht ist. Damit geht die Erwartung einher, dass ein Meinungsinhaber seine Meinung für andere nachvollziehbar begründen kann, was es notwendig macht, die eigene Meinung mit Sachaussagen zu unterfüttern und affektive Aussagen ausschließt (Die singuläre Aussage, “Das gefällt mir nicht” ist somit keine Meinung, sondern eine individuelle Bewertung, die entsprechend nicht den Anspruch erheben kann aufgrund nachvollziehbarer Kriterien geteilt zu werden.). Eben hier verläuft der Rubicon: Wer nicht in der Lage ist, seine eigene Meinung zu begründen, hat keine Meinung, er hat Affekte, über die er nie hinausgekommen ist, und er hat somit das Ziel der Aufklärung, nämlich die Entwicklung einer kritischen Persönlichkeit verfehlt.
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Hallo Michael,
das Problem ist in meinen Augen nicht, dass die Menschen in einen Pseudodiskurs eintreten, das Problem liegt in meinen Augen darin, dass die Menschen noch nicht begriffen haben, dass wir in einer postmodernen Welt leben. Liebe Leute, ihr müsst nichts begründen, Ihr müsst in keinen Dialog eintreten. Ein Konsens besteht schon lange nicht mehr, das ist jetzt meine Meinung qua Begründbarkeit. Was uns ein paar parphil dekadente Politiker und Wissenschafter sagen ist einerlei.
Ach ja Popper …
da du eh schon die Art Blog betreibst die ich mangels Zeit nie machen konnte,
und anscheinend den Kritischen Rationalismus schätzt, mach ich dich
einfach mal auf die Nürnberger Gesellschaft für Kritische Philosophie aufmerksam,
falls die nicht eh schon kennst.
Die Texte in deren “Aufklärung und Kritik” haben ein sehr hohes Niveau und mich davon
überzeugt, dass nicht alle Diskussions-Kultur in Deutschland “verloren” ist.
http://www.gkpn.de/
Beste Grüße,
Eike
Hallo Eike,
danke für den Hinweis. Es macht Spass, seine alten Profs auf diese Weise wiederzufinden!
Leider ist das ein sehr inklusiver Club, was wohl auch eine Erklärung dafür ist, dass die Methode der Kritik in Deutschland so wenig verbreitet ist.
Hat dies auf psychosputnik rebloggt.