Hätte man uns vor rund 35 Jahren danach gefragt, ob Soziologie ein Fach ist, das in Schulen vermittelt werden und in dessen Grundlagen Lehrer firm sein sollen. Wir hätten vermutlich ja gesagt.
Aber: 35 Jahre später steht uns der kalte Schweiß auf der Stirn, wenn wir Bestrebungen sehen, Soziologie in der Schule als Schulfach und als Grundlage der Lehrerausbildung zu etablieren.
Der Grund für die mittelmäßige Panik, die uns angesichts der Pläne, Soziologie ins schulische Curriculum zu integrieren, erfasst, ist schnell benannt: Die Soziologie hat sich wie die Politikwissenschaft auch zu ihrem Nachteil verändert (British understatement). Beide Fächer waren einst Vorzeigedisziplinen der Sozialwissenschaften. Sie hatten Methode, einen theoretischen Korpus, eine Epistemologie und eine Fragestellung. Studenten der Soziologie und der Politikwissenschaft konnten auf die Frage: „Was ist der Gegenstand der Soziologie?“ bzw. „Was ist der Gegenstand der Politikwissenschaft?“ präzise antworten (naja, zumindest die meisten), manche sogar im Original: „Soziologie (im hier verstandenen Sinne dieses sehr vieldeutig gebrauchten Wortes) soll heißen; eine Wissenschaft, welche soziales Handeln deutend verstehen und dadurch in seinem Ablauf und in seinen Wirkungen ursächlich erklären will“ (Weber 1972: 1). Im Zentrum der Soziologie stehen somit der Handelnde und die Umstände seines Handelns, die Interkation von Handelnden und der Möglichkeitsraum für Handlungen, wobei von Handeln dann gesprochen werden soll, wenn „und insofern als der oder die Handelnden mit ihm [dem Handeln] einen subjektiven Sinn verbinden“ (Weber, 1972: 1).
Seither ist angeblich alles komplexer geworden. Die Komplexität moderner Gesellschaften, die man immer nur als Nominalkonstruktion, aber nie genau benennen kann, sie hat Einzug gehalten. Unter dem Deckmantel der „Komplexität“ und der späteren Ergänzung der „Vielfalt“ hat sich die Soziologie (und die Politikwissenschaft) weg von einem methodischen Unterfangen und hin zu einem Sammelbecken für Schwätzer aller Art entwickelt. Nicht mehr das soziale Handeln und dessen Erklärung bestimmte nun die soziologische Analyse. Vielmehr wurde alles zu Soziologie, was derjenige, der es aus nicht nachvollziehbaren Gründen auf einen Soziologielehrstuhl geschafft hat, von sich gegeben hat. Weltbetrachtungen, Geschlechtslamentos, Armutsattacken, Rechtsextremismushysterien, Fremdenfeindlichkeitsphobien und grundlegende Ängste vor sozialem Wandel haben vermeintliche Soziologen inkubiert und fest in ihrem Griff. Viele Soziologen sind zu Kämpfern für die Umwelt, Frauen, sozial Benachteiligte, Arme, noch mehr sozial Benachteiligte, Homosexuelle, Ausländer oder sonstige Minderheiten und all diejenigen geworden, von denen die Lehrstuhlbesetzer denken, sie seien sozial unter ihnen angesiedelt. Andere Soziologen sehen ihre Aufgabe eher darin nicht für sondern gegen etwas zu kämpfen: gegen den Kapitalismus, gegen die Bonzen, gegen die AfD, gegen die Globalisierung, gegen Konsum, gegen Autos, gegen Kohlebergbau, gegen die Unterdrückung von Hans Peter Brügel und vieles mehr. Soziologen sind Kämpfer für und gegen, politische Aktivisten und Vorkämpfer für eine bessere Welt, also das, was sie für eine bessere Welt halten, nur eines sind sie mehrheitlich nicht mehr: Wissenschaftler.
Das heißt nicht, dass es nicht noch Soziologen gäbe, die wissen, wie man eine standardisierte Befragung konzipiert, was eine soziale Theorie ist und wer Emil Durkheim war. Aber es heißt, dass die Wissenschaftler unter den Soziologen in die Minderheit geraten sind, fast schon ein Schattendasein führen. In jedem Fall ist das in der öffentlichen Wahrnehmung so, die von den Gelegenheitsschwätzern und Soziologie-Aktivisten geprägt wird, die sich gerne bei Medien andienen.
Deshalb ist es für uns eine Drohung, Soziologie in Schulen zu lehren oder Lehrern beibringen zu wollen. Verstärkt wird diese Drohung noch durch Workshops wie den, der am 9. Juni 2017 im Schader-Forum in Darmstadt stattfinden soll, unter der Überschrift „Soziologie in der Schule?“. Bereits in der Ankündigung findet sich alles, was Wissenschaftlern die Haare zu Berge stehen lässt:
„Heranwachsende stehen vor enormen und vielfältigen Herausforderungen, die der aktuelle soziale Wandel und die Unübersichtlichkeit der modernen Gesellschaften mit sich bringen. Globalisierung, internationale Verflechtungen, Flucht und Migrationsprozesse, regierungspolitischer Steuerungsverlust, Digitalisierung, Unsicherheit, Orientierungsverlust und Ängste, Ungleichheit, Ungerechtigkeit, Ausländerfeindlichkeit, Homophobie und Extremismus einerseits, Solidarität, Zusammenhalt, Menschenwürde, Teilhabe, Sicherheit, Toleranz, Integration, Inklusion, Diversität und Heterogenität andererseits sind nur einige wenige Begriffe zur Beschreibung der öffentlich ausgetragenen Verhandlungen über derzeitige gesellschaftliche Entwicklungen und Herausforderungen.“
Einerseits kann man das Geschwätz abkürzen und feststellen: Es gibt eine Umwelt. Andererseits kann man sich angesichts der Aufzählung dessen, was die veranstaltenden Soziologen als wichtig, für erschreckend oder für schulgegenständlich ansehen, ungefähr vorstellen, worum es im Fach Soziologe gehen soll: Nicht darum, dass Schüler formale Kriterien und Methoden erlernen, die es ihnen erlauben, sich ein begründetes Urteil über einen Gegenstand zu bilden, sondern darum, das Urteil, das andere vorgegeben haben, z.B. im Hinblick darauf, was gerecht, tolerant und solidarisch ist, auswendig zu lernen. Das ist politische Indoktrination auf Grundlage einer für wahr postulierten Heilslehre und hat mit Soziologie überhaupt nichts zu tun.
Und wer noch Zweifel hat, der muss nur weiterlesen:
„Sowohl in der Ausbildung von Lehrerinnen und Lehrern wie in der schulischen Vermittlung an die Lernenden geht es darum, gesellschaftliches Deutungs- und Orientierungswissen zu erwerben sowie zum Perspektivenwechsel und zum Umgang mit gesellschaftlicher Komplexität befähigt zu werden. Genau dadurch kann individuelle wie soziale Autonomie im gesellschaftlichen Kontext und auf der Grundlage unserer Grundwerte erworben werden.“
Damit man sich ein Bild von etwas, z.B. von Wahlkampfaussagen der AfD oder der SPD machen kann, benötigt man weder Deutungs- noch Orientierungswissen. Es reicht aus, eine Reihe von analytischen Fähigkeiten mitzubringen, die es ermöglichen, Geschriebenes auf Konsistenz, empirische Relevanz und inhaltliche Kongruenz zu prüfen. Deutungs- und Orientierungswissen ist nur dann notwendig, wenn man sicherstellen will, dass bestimmte Arten, die Welt zu sehen, etwa: „Diversität ist Klasse!“ zur alleinigen Wahrheit erklärt, besser: verklärt werden und jede kritische Auseinandersetzung verunmöglicht werden soll. Indoktrination nennt man das:
„Es wird deutlich, dass Lernende in der modernen Gesellschaft den Umgang mit gesellschaftlicher Komplexität und Vielfalt lernen müssen, die vor allem auch ein Merkmal pluralistischer demokratischer Gesellschaften sind“
That settles it: Die Komplexität, von der vermeintliche Soziologen in nominaler Konstruktion grenzenlos faseln können, die sich jedoch jeglichem Versuch einer konkreten Bestimmung, komplex wie sie nun einmal ist, entzieht, sie wird zum Anlass der Erziehung von „Lernenden“ genommen; zur Begründung dafür, dass Lernende nur eine bestimmte Art und keinerlei Abweichung davon, erlernen sollen, dass sie Inhalte, richtige Inhalte auswendig lernen sollen und eben nicht in die Lage versetzt werden sollen, selbständig und vor allem unabhängig zu denken und sich ein selbständiges und unabhängiges Urteil zu bilden. Wenn man sieht, wie heutige vermeintliche Soziologen zu Volkserziehern und Propheten des Heils geworden sind, das sie unverständlicher Weise für demokratisches Heil halten, dann kann man auf um himmlische Unterstützung hoffen, wenn es darum geht, sie von Schulen so fern wie nur möglich zu halten.
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“Komplexitäten” und “Herausforderungen” sind politisch korrekte Euphemismen für “Probleme”. Dieser Begriff muss tunlichst vermieden werden, denn jemand könnte sonst die nahe liegende Frage stellen, wer dafür verantwortlich ist, dass uns diese Probleme erst aufgehalst worden sind oder zu welchem Zweck, oder wie wir sie uns am effizientesten vom Hals schaffen können. Ja, Probleme können tatsächlich auch gelöst werden, während Komplexitäten einfach da sind. Ursache und Wirkung war gestern, heute passieren einfach so schlimme Dinge und niemand kann wissen warum oder was wohin führt.
Das erinnert an die “not-all-muslims”-Strategien die bei jedem Terroranschlag gefahren werden. Als würde irgendjemand alle Muslime als Terroristen betrachten und nicht einfach einen Trend feststellen indem er z. B. sagt: “Ein Großteil des weltweiten Terrors ist islamistisch motiviert”.
So ähnlich auch bei “Komplexitäten” und “Herausforderungen”. Es soll verhindert werden, dass man sich von der Abstraktion “Herausforderung” oder “Komplexität” auf die spezifischere Problemebene begibt. –> wie bei islamistischem Terror von “die Einzeltäter oder die radikalen Islamisten”, die Unterstützung bei der muslimischen Normalbevölkerung einfach ausblendend.
Das lässt sich schon am Genus erkennen: “DAS Problem” trägt einen Objekt-Genus, “DIE Komplexität” und “DIE Herausforderung” trägt den Abstraktionsgenus, im deutschen DIE.
Schwammigkeit eben. Aber man kann die Realität nicht dauerhaft leugnen.
Ich sehe ihn vor meinem geistigen Auge, den heterogen integrierten Homosexuellen, mit Migrationshintergrund, politisch ungesteuert und orientierungslos aber digitalisiert in seiner Unsicherheit, in seiner Angst nach Solidarität schreiend, nach Teilhabe, Sicherheit und Toleranz, die in der ganzen Diversität untergegangen sind, global sozusagen und komplex oder auch komplett, wer will das noch unterscheiden? Die Geschaftlhuber, Verzeihung Gewerkschaftler als Trittbrettfahrer dieses komplexen oder auch kompletten Nonsens, werden sich der Sache, von Soziologen beraten, schon annehmen.
@ Rote Pille: Auf keinen Fall darf man dem Trugschluß aufsitzen, daß diesen komplexen Komplexitäten mit einfachen (also populistischen) Antworten gegenüber getreten werden kann. Oder daß man diese Komplexität sogar dadurch auflösen könnte und sie in einfache Sachverhalte untergliedern könnte. NEIN! Denn das Wichtigste bei den Sachverhalten, die ich erst so kompliziert gemacht habe, ist, daß ICH die Deutungshoheit behalte. Und das bedeutet Macht.
Mein Vater nannte Anfang der 80er seine Kollegen vom anderen Fach immer spöttisch “die Sozialwissenschafts-Wissenschaftler”. Er hatte offenbar schon früh erkannt, dass ein gut Teil Geschwätz ist. Die Schule ist womöglich auch nicht der richtige Ort, um Soziologie auf richtigem Niveau überhaupt anzufangen, wenn Statistik und wesentliche Werkzeuge nicht vorhanden sind.
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“Komplexitäten” und “Herausforderungen” sind politisch korrekte Euphemismen für “Probleme”. Dieser Begriff muss tunlichst vermieden werden, denn jemand könnte sonst die nahe liegende Frage stellen, wer dafür verantwortlich ist, dass uns diese Probleme erst aufgehalst worden sind oder zu welchem Zweck, oder wie wir sie uns am effizientesten vom Hals schaffen können. Ja, Probleme können tatsächlich auch gelöst werden, während Komplexitäten einfach da sind. Ursache und Wirkung war gestern, heute passieren einfach so schlimme Dinge und niemand kann wissen warum oder was wohin führt.
Das erinnert an die “not-all-muslims”-Strategien die bei jedem Terroranschlag gefahren werden. Als würde irgendjemand alle Muslime als Terroristen betrachten und nicht einfach einen Trend feststellen indem er z. B. sagt: “Ein Großteil des weltweiten Terrors ist islamistisch motiviert”.
So ähnlich auch bei “Komplexitäten” und “Herausforderungen”. Es soll verhindert werden, dass man sich von der Abstraktion “Herausforderung” oder “Komplexität” auf die spezifischere Problemebene begibt. –> wie bei islamistischem Terror von “die Einzeltäter oder die radikalen Islamisten”, die Unterstützung bei der muslimischen Normalbevölkerung einfach ausblendend.
Das lässt sich schon am Genus erkennen: “DAS Problem” trägt einen Objekt-Genus, “DIE Komplexität” und “DIE Herausforderung” trägt den Abstraktionsgenus, im deutschen DIE.
Schwammigkeit eben. Aber man kann die Realität nicht dauerhaft leugnen.
“Deutungs- und Orientierungswissen”
Klingt in dem Kontext wie “Glaskugel- und Beschwörungskunde”.
Ich sehe ihn vor meinem geistigen Auge, den heterogen integrierten Homosexuellen, mit Migrationshintergrund, politisch ungesteuert und orientierungslos aber digitalisiert in seiner Unsicherheit, in seiner Angst nach Solidarität schreiend, nach Teilhabe, Sicherheit und Toleranz, die in der ganzen Diversität untergegangen sind, global sozusagen und komplex oder auch komplett, wer will das noch unterscheiden? Die Geschaftlhuber, Verzeihung Gewerkschaftler als Trittbrettfahrer dieses komplexen oder auch kompletten Nonsens, werden sich der Sache, von Soziologen beraten, schon annehmen.
@ Rote Pille: Auf keinen Fall darf man dem Trugschluß aufsitzen, daß diesen komplexen Komplexitäten mit einfachen (also populistischen) Antworten gegenüber getreten werden kann. Oder daß man diese Komplexität sogar dadurch auflösen könnte und sie in einfache Sachverhalte untergliedern könnte. NEIN! Denn das Wichtigste bei den Sachverhalten, die ich erst so kompliziert gemacht habe, ist, daß ICH die Deutungshoheit behalte. Und das bedeutet Macht.
Mein Vater nannte Anfang der 80er seine Kollegen vom anderen Fach immer spöttisch “die Sozialwissenschafts-Wissenschaftler”. Er hatte offenbar schon früh erkannt, dass ein gut Teil Geschwätz ist. Die Schule ist womöglich auch nicht der richtige Ort, um Soziologie auf richtigem Niveau überhaupt anzufangen, wenn Statistik und wesentliche Werkzeuge nicht vorhanden sind.