Verhaltensveränderung, „nudging“, persuasive Technologie: Wissenschaft im Einsatz, um Sie zum „richtigen“ Verhalten zu bringen – Teil 5

Wir haben sie nicht vergessen, unsere kleine Reihe von Texten zum Thema „nudging“, das sich inzwischen auch in Politik und öffentlicher Verwaltung großer Beliebtheit erfreut und dort strukturell verankert ist (wie in Teil 3 der Reihe gezeigt wurde), aber gerade in diesem Bereich einige Besonderheiten aufweist, die das „nudging“ ethisch besonders fragwürdig machen (s. hierzu Teil 2 der Reihe).

Nachdem in Teil 4 der Reihe die wichtigsten Mechanismen des „nudging“ bzw. Typen von „nudges“ vorgestellt wurden, setzen wir sie heute mit Teil 5 fort, der der Frage gewidmet ist, unter welchen Bedingungen „nudges“ ihr Ziel, zu dessen Erreichung sie gedacht waren und eingesetzt wurden, erreichen oder nicht erreichen (können). Etwas salopp formuliert lautet die Frage, die uns hier, in Teil 5 der Reihe zum „Nuding“, beschäftigt, also:

Wann funktioniert „nudging“, wann nicht?

Wie aus Teil 4 der Reihe erkennbar geworden sein sollte, lassen sich „nudging“-Mechanismen in verschiedene Typen von Mechanismen einteilen, je nachdem, welche menschliche Eigenschaft oder welches menschliche Bedürfnis sie (aus-/)nutzen. Beispielsweise bauen sogenannte „opt –out“-Modelle, bei denen Tatsachen für alle geschaffen werden und gegen die Menschen sich explizit aussprechen müssen, um ihnen nicht unterworfen zu werden, auf der menschlichen Trägheit bzw. der menschlichen Eigenschaft, den status quo zu bevorzugen, auf. Und „nudging“ durch die Darstellung der erwünschten Handlungsoption als alternativlos basiert auf Angst von Menschen vor drohendem Verlust oder generell Angst, die durch Verunsicherung ausgelöst wird.

Man würde vermuten, dass solche „nudges“ immer dann oder genauer: bei denjenigen Menschen nicht funktionieren, die vergleichsweise wenig träge sind oder vergleichweise wenig ängstlich sind, also diejenigen Eigenschaften, auf die jeweils verschiedene „nudges“ aufsetzen, in vergleichsweise geringem Maß aufweisen. Empirische Forschung hierüber gibt es bislang aber kaum, vermutlich, weil davon ausgegangen wird, dass „der Durchschnittsmensch“ so beschaffen sei, dass er die Eigenschaften, auf die „nudges“ aufsetzen, in hinreichender Weise aufweist. Menschen mit psychologischen, sagen wir: Anomalien, seien selten, und daher, wenn es um „nudging“ geht, vernachlässigbar.

Dieser Vorstellung liegt ein grundlegender Irrtum zugrunde, der sich auf den sogenannten statistischen Mittelwert bezieht. Der statistische Mittelwert oder das arithmetische Mittel ist der Wert, der sich ergibt, wenn man die Summe der Ausprägungen der betrachteten Werte durch die Anzahl der betrachteten Werte dividiert. Wir kennen dies alle aus unserer Schulzeit: Wenn z.B. ein Lehrer in einer Klasse mit zwanzig Schülern eine Klassendurchschnittsnote von z.B. 3,0 mit Bezug auf einen Test oder eine Klassenarbeit mitteilt, dann ist es möglich, dass alle zwanzig Schüler ihren Test oder ihre Klassenarbeit mit der Note 3,0 bewertet bekommen haben. Es ist aber auch eine andere Verteilung möglich, bei der sich als Klassendurchschnitt die Note 3,0 ergibt, z.B. dann, wenn zwei Schüler die Note 1,0 bekommen haben, drei die Note 2,0, zehn die Note 3,0, drei die Note 4,0, zwei die Note 5,0 und kein Schüler die Note 6,0. Bei dieser Verteilung wäre die Note 3,0, die die Durchschnittsnote der Klasse ist, zumindest noch die Note, die die Mehrheit der Schüler bekommen hat. Eine Klassendurchschnittsnote von 3,0 kann sich aber auch dann ergeben, wenn die Note 3,0 nicht die Note ist, die am häufigsten vergeben wurde, und auch dann, wenn die Note 3,0 vom Lehrer überhaupt nicht vergeben wurde, wie z.B. in der folgenden Verteilung: neun Schüler bekommen eine 1,0, dreizehn eine 2,0, keiner Schüler bekommt die Note 3,0, ein Schüler die Note 4,0, drei Schüler die Note 5,0 und ein Schüler die Note 6,0.

Dennoch haben viele Menschen – inklusive Studenten der empirischen Sozialforschung – die spontane Vorstellung, dass bei einer Durchschnittsnote von 3,0, die Mehrheit der Schüler, wenn nicht eine 3,0, so doch eine Note erhalten haben müssen, die nahe bei der 3,0 liegt, aber nicht an den weiter entfernten oder Extrempunkten der Verteilung. Vielleicht hat das damit zu tun, dass wir bei einer Verteilung unbewusst davon ausgehen, es handle sich bei ihr um eine Normalverteilung, und im Alltagsverständnis wird „normal“ mit „mehrheitlich“ in Zusammenhang gebracht. Dieser Irrtum kommt daher vermutlich deshalb zustande, weil

„… the wrong norm is being applied to a task …“ (Stanovich & West 2000: 645; Hervorhebung d.d.A.).

Mir scheint, dass „nudger“ diesem Irrtum ebenfalls aufsitzen, wenn sie meinen, dass mittlere Werte, die sich für bestimmte psychologische bzw. kognitive Eigenschaften bei der Betrachtung einer Menge von Menschen ergeben, deshalb auch bei der Mehrheit der Menschen anzutreffen sein. Das entbehrt nicht einer gewissen Ironie, handelt es sich bei diesem Irrtum doch um einen kognitiven „Schnellschuss“ bzw. eine kognitive Fehlleistung, um Denken nach dem System 1, wie Stanovich und West es genannt haben, oder „schnelles Denken“ („fast thinking“), wie Daniel Kahneman es genannt hat:

„System 1 operates automatically and quickly, with little or no effort and no sense of voluntary control” (Kahneman 2011: 399).

Es gibt keinen Grund anzunehmen, dass “nudger” seltener “automatisch und schnell”, also gemäß des Systems 1, denken als andere Menschen. Und so ist es durchaus möglich, dass sie sich „nudges“ planvoll (gemäß analytischen Denkens oder des Denkens im System 2) ausdenken, die Annahmen, die sie dabei zugrundelegen, aber intuitiv und unhinterfragt bleiben – und falsch sind. Wie Sunstein festgehalten hat, kann es sein, dass

„… a plausible (and abstractly correct) understanding of what drives human behavior turns out to be wrong in a particular context; once a nudge is tested, it turns out to have little or no impact. In the terms made famous by Albert Hirschman, nudging might therefore be futile … “ (Sunstein 2017: 5; Hervorhebung im Original),

also vergeblich.

Dass „nudges“ nicht oder nicht so wirksam sind, wie die „nudger“ es erwarten, verwundert nicht angesichts der Tatsache, dass Menschen komplexe Wesen sind und vergleichsweise wenige Menschen tatsächlich der statistischen[!] Norm entsprechen. Es ist vielmehr zu erwarten, dass nicht „nudges“ im Allgemeinen wirksam oder unwirksam sind, sondern spezielle „nudges“ unter bestimmten Bedingungen wirksam oder unwirksam sind, ganz so, wie Annahmen über menschliches Verhalten oder Handeln mehr oder weniger richtig bzw. ebenfalls unter bestimmten Bedingungen richtig oder falsch sind.

Und tatsächlich ist das so. Zwar findet man bislang noch wenige Einträge, wenn man in einschlägigen Fachzeitschriften (wie z.B. in „Behavioral and Brain Sciences“) nach „failed nudges“ oder „nudging failure“ oder ähnlichen Ausdrücken sucht, aber es liegen einige Texte vor, in denen dies thematisiert und problematisiert wird, bzw. einige Studie, in denen diese Vermutung getestet wird. So halten Davidai und Shafir fest, dass

Failed Nudge

“… not all is quiet on the ‘nudge’ front. Policy-makers ‘are inevitably responsive to what people think’ …, and whether a potential nudge becomes reality hinges not only on its expected benefit to society, but also on its ability to garner public and legislator support. Unpopular nudges can backfire, leading people to react against what are seen as illicit attempts to shape their behavior …, undermine their autonomy …, and compromise their dignity ‘in the way one indulges a child’ …. Worse still, negative reactions toward specific ‘nudges’ can lead people to question the entire practice of using behavioral research in policy … For nudges to be implemented, it is imperative that they not encounter strong public resistance. How, then, do people feel about nudges? Although highly cost-effective interventions often target automatic, non-deliberative (‘System 1’) decision processes, people are generally more suspicious of these than they are of ones that target deliberate and conscious (‘System 2’) decision processes” (Davidai & Shafir 2020: 274).

Davidai und Shafir zitieren zu jedem dieser Punkte Forschung, die zumeist aus dem Zeitraum der letzten zehn Jahre stammt, also neuere Forschung. Gemäß dieser Forschung lehnen Menschen ‚nudges‘ ab, wenn sie sich manipuliert fühlen. Und manipuliert fühlen sie sich (eher), wenn z.B. an ihre Ängste oder an Konzepte wie „Solidarität“ appelliert wird, als wenn sie Informationen bereitgestellt bekommen, die sie dazu nutzen können, die nach ihrem eigenen Wissen und Gewissen beste Entscheidung für sich selbst zu treffen:

“In this vein, it has been argued that people prefer policies that provide information about the best course of action (e.g., nutritional value of food options) over those (like the design of menus or cafeterias) that ‘nudge’ people into taking the healthier options …” (Davidai & Shafir 2020: 275),

wobei Letzeres allerdings voraussetzt, dass Menschen solche Praktiken wie die, eine Speisekarte auf eine bestimmte Weise zu präsentieren, um Kunden zu bestimmten Speisewahlen zu bewegen, als „nudge“ erkennen oder werten.

Obwohl es plausibel ist, anzunehmen, dass die meisten Menschen ihre Wahlfreiheit, Würde oder persönliche Integrität verletzt sehen, wenn sie sich durch einen „nudge“ manipuliert sehen, und obwohl inzwischen eine Reihe von Studien gezeigt hat, dass manipulative „nudges“ diesen Effekt haben (können), würde die unhinterfragte Verallgemeinerung dieses Zusammenhangs wieder ihrerseits ein Denken nach System 1, ein „schnelles“ Denken, sein, das Wissenschaftler, wenn sie ihre Arbeit als Wissenschaftler machen, tunlichst vermeiden sollten.

Dementsprechend haben Davidai und Shafir eigene Experimente durchgeführt. In einem dieser Experimente wurden Probanden gebeten, sich vorzustellen, dass sie ein neuer Angestellter in einer Firma seien. Ihnen wurde ein kurzer Text vorgelegt, in dem eine neue Regierungsinitiative beschrieben wurde, die Menschen dazu ermutigen sollte, besser für ihren Ruhestand vorzusorgen. Einer Gruppe von Probanden wurde im Text mitgeteilt, dass die Initiative eine automatische Eintragung aller Arbeitnehmer in das Vorsorgeprogramm vorsehe. Die automatische Eintragung gilt den Autoren als ein „non-deliberative“ „nudge“, also als ein „nudge“, der keine Information oder Beratung involviert, sondern Fakten schafft bzw. die Menschen vor vollendete Tatsachen stellt. Einer anderen Gruppe von Probanden wurde mitgeteilt, dass die Initiative es für Firmen verpflichtend mache, ihre Angestellten über die Möglichkeit das Vorsorgeprogramm zu nutzen und seine Vorteile, zu informieren. Diese Beschreibung enthält also einen „deliberative“, einen informierenden/ beratenden „nudge“. Einer dritten Gruppe von Probanden wurden beide Varianten gleichzeitig als Optionen präsentiert. Bei dieser Konstellation sprechen die Autoren von einer „joint evaluation“. Probanden in allen Gruppen sollten angeben, ob sie die Regierungsinitative unterstützen, ob sie gegen sie sind oder ob sie ihr neutral gegenüberstehen (Davidai & Shafir 2020: 280).

Davidai und Shafir haben eine Reihe ähnlicher Experimente durchgeführt, bei denen es immer und die Bewertung der Regierungsinitiative oder Poltik durch die Probanden ging. Sie stellten fest, dass

„…  non-deliberative nudges are seen as more paternalistic and more objectionable than deliberative alternatives when these are evaluated jointly, but that this is reduced or fully eliminated when they are evaluated separately” (Davidai & Shafir 2020: 286; Hervorhebung d.d.A.).

In ihren Experimenten bewerteten Menschen „nudges”, die nicht informieren oder explizit beraten, also eher als manipulativ oder „paternalistisch“, wenn denselben Menschen informierende und explizit beratende „nudges“ als Alternativen vorgestellt wurden. Wenn Menschen zwischen beiden wählen konnten, dann bevorzugten sie die informierenden und explizit beratenden „nudges“ gegenüber den „nudges“, die dies nicht taten. Präsentierte man ihnen jedoch nur jeweils einen bestimmten „nudge“ zur Beurteilung dahingehend, wie manipulativ er sei, schrumpfte der Unterschied in der Bewertung informierender/beratender und nicht-informierender/nicht-beratender „nudges“ durch ihre Probanden erheblich (verschwand aber nicht gänzlich).

Das mag damit zu tun haben, dass informierende/beratende „nudges“, nur, weil sie informieren/beraten sollen, nicht notwendigerweise informierend/beratend wirken, besonders dann nicht, wenn sie jemandem keine neue Information vermitteln oder keinen neuen Ratschlag geben. Sunstein hat hierüber in einem Text aus dem Jahr 2017 spekuliert:

„If people are told about the number of calories in candy bars, they might not learn anything they do not already know, and even if they learn something, they might be unaffected. A reminder might fall on deaf ears; a warning might be ignored (or even make the target action more attractive)” (Sunstein 2017: 5; Hervorhebung d.d.A.).

Möglicherweise wirken informierende/beratende “nudges” in dem Fall, in dem Informationen oder Ratschläge gegeben werden, die jemand schon kennt oder bedacht hat, nicht nur nicht informierend/beratend, sondern als manipulierende „nudges“ einfach deswegen, weil diese Person das Gefühl haben kann, dass ihr etwas, was sie schon oft gehört hat, etwas, das sie schon bedacht hat, „eingehämmert“ werden soll. Und möglicherweise haben die Probanden in der Studie von Davidai und Shafir eine solche Erfahrung generalisiert und den informierenden “nudge” damit in die Nähe eines manipulierenden gerückt.

Wie dem auch sei – in der Praxis präsentiert die Politik der Öffentlichkeit gewöhnlich keine alternativen „nudges“, sondern setzt einen bestimmten „nudge“, der ein bestimmtes Verhalten oder Handeln bei Menschen hervorrufen soll. Gemäß der Ergebnisse der Studie von Davidai und Shafir würde das bedeuten, dass die Politik sozusagen (auch) mit nicht-informierenden/nicht-beratenden „nudges“ ihre Zielvorstellungen durchsetzen kann. Die Autoren geben aber selbst zu bedenken, dass

„ … mode of evaluation is likely to prove most consequential in cases where preferences are less pronounced” (Davidai & Shafir 2020: 287),

und wenn das zutrifft, dann ist die Frage, ob Menschen mit einzelnen “nudges” konfrontiert werden oder mit mehreren bzw. alternativen „nudges“, ohnehin zweitrangig. Wenn die Präferenzen von Menschen mit Bezug auf eine bestimmte Frage bzw. Politik relativ stark ausgeprägt sind, dann dürfte das „nudging“ als solches ohnehin relativ unwirksam sein, gleichgültig, wie viele „nudges“ in welcher Form präsentiert werden.

Aber nicht nur klare oder starke Präferenzen können „nudges“ unwirksam machen. Ob sie bei einer Person wirksam sind oder nicht, hängt auch von der Persönlichkeit der Person ab.

In einem älteren Post haben wir über „Fatalismus“ oder genauer: verschiedene Arten des Umgangs mit Situationen, auf die man keinen oder nur wenig Einfluss hat, gemäß der Unterscheidung von Tom Entwistle (2021) berichtet. Im selben Text geht Entwistle auf die Frage ein, welche Art von „nudges“ bei Menschen, die jeweils unterschiedlich mit Situationen umgehen, auf die sie keinen oder nur wenig Einfluss haben, vermutlich wirksam sein werden und welche nicht. Er argumentiert, dass ein „passiver Fatalist“, also jemand, der sich einfach in die (ihm vor-)gegebene Situation einfügt, einem informierenden „nudge“ vermutlich nicht zugänglich sein wird, während ein „nudge“, der ihn vor vollendete Tatsachen stellt, bei ihm die gewünschte Wirkung zeigen wird, eben weil sich der „passive Fatalist“ in das ihm (Vor-)gegebene mehr oder weniger fraglos einfügt:

“The effectiveness of information type nudges intended to prompt rational changes of behaviour seems likely to be adversely affected by the passive form of fatalism. The passivity which undermines information type strategies may, however, make default nudges more successful”,

denn

“… it takes at least some agency to reject a default, and since passive fatalists are unlikely to exercise that agency, we can hypothesise that defaults will prove an effective driver of behaviour change” (Entwistle 2021: 91).

Das Umgekehrte trifft vermutlich auf protektive Fatalisten zu:

„The literature suggests that protective fatalists will respond positively to information that is perceived as relevant to their individual circumstances” (Entwistle 2021: 92),

weil protektive Fatalisten auch (oder gerade?) in Situationen, über die sie keine oder kaum Kontrolle haben, Möglichkeiten suchen, aus dem engen Spielraum, den sie haben, das Beste für sich zu machen, oder versuchen, sich auf das Unausweichliche möglichst gut vorzubereiten.

Das bedeutet aber nicht, dass ein „nudge“, nur, weil er ein informierender „nudge“ ist, bei protektiven Fatalisten notwendigerweise zum Erfolg führen müsste. Z.B. ist es möglich, dass

„[g]eneric edicts for healthy living – or perhaps simple defaults – may be questioned and, at times, rejected by protective fatalists who have developed a situated account of the risks that they face and the ameliorative measures that make sense for them” (Entwistle 2021: 92).

Der Maßstab für das eigene Handeln ist beim protektiven Fatalisten eben für wie wahrscheinlich er es hält, dass bestimmte Handlungen in der gegebenen Situation dazu geeignet sind, seine Interessen zu befördern. Er nimmt deshalb z.B. „Experten“-Meinung zur Kenntnis, wägt sie jedoch ab mit anderen Meinungen, eigenen Erfahrungen, und gewichtet sie mit Bezug auf ihre Relevanz für seine persönliche Situation:

“While appropriately targeted information may influence protective fatalists, simple messages intended to deliver population-level outcomes are unlikely to work. Protective fatalists need bespoke information crafted to fit the situated analysis of risk and mitigation emerging in particular communities …” (Entwistle 2021: 97).

Beim “pathologischen Fatalisten” dürfte keine Art des “nudging” zum Erfolg führen. Und das im besten Fall. Im schlechteren Fall tut der pathologische Fatalist das Gegenteil dessen, wohin er „genudgt“ werden soll, weil seine Reaktion auf Situationen, auf die/in der er keine oder kaum Kontrolle hat, mehr oder weniger in prinzipieller Reaktanz besteht:

„Pathological fatalists react to the imposition of constraint by gaming or even subverting the system and, in extreme cases, committing acts of self-destructive rebellion. The tendency for some people to respond to constrained or unpredictable circumstances with various forms of reactance suggests that nudges may have the reverse of the intended effect” (Entwistle 2021: 97).

Was bedeutet das für den willigen “nudger”? Kann er nicht verschiedene „nudges“ einsetzen, um sozusagen jedem – außer dem pathologischen Fatalisten, der für ihn unerreichbar sein dürfte – das Seine zukommen zu lassen und ihn auf dem für ihn “richtigen“ Weg zum angestrebten Ziel zu führen?

In der Praxis dürfte das weitgehend unmöglich sein, besonders für „nudging“ im Bereich der Politik und öffentlichen Verwaltung: Es ist nicht möglich, z.B. die Organspende als ‚opt-out‘-Modell nur für einen Teil der Bevölkerung, nennen wir sie mit Entwistle passive Fatalisten, zu gestalten, aber für einen anderen Teil der Bevölkerung nicht, und sei es nur, weil „nudger“ (bislang) nicht wissen können, wer in der zu „nudgenden“ Bevölkerung ein passiver, ein protektiver oder ein patholoigischer Fatalist ist.

Aber selbst dann, wenn sie es wüssten, wäre diese Art der Ungleichbehandlung nicht nur demokratietheoretisch betrachtet äußerst fragwürdig, sondern auch psychologisch sehr problematisch: Möglicherweise würde eine solche Form der Ungleichbehandlung passive Fatalisten in pathologische oder in protektive Fatalisten verwandeln, und pathologische Fatalisten sabotieren, während protektive Fatalisten nicht notwendigerweise im Sinn des „nudgers“ reagieren, der ein bestimmtes Ziel zu erreichen versucht, das ihm rational vorkommt, vielleicht für ihn auch rational ist, aber für jemand anderen eben nicht rational sein muss, eben weil sie Informationen zur Kenntnis nehmen, abwägen und im Licht ihrer persönlichen Situation bewerten, Entscheidungen also rational im Sinn des Wortes treffen.

Auf der grundsätzlichen Ebene bleibt – und das ist wichtig! – festzuhalten, was oben schon erwähnt wurde, dass nämlich „nudges“ nur insoweit Wirksamkeit enfalten können als eine relative Unsicherheit bezüglich der eigenen Präferenzen oder Interessen gegeben ist. Je mehr politische Akteure die Stimmung in einer Gesellschaft systematisch ideologisch aufladen, desto geringer wird dieser Spielraum. In der mehr oder weniger polarisierten Gesellschaft sind die Präferenzen auf beiden Seiten relativ stark ausgeprägt, und der Spielraum für „nudging“ ist deshalb geringer als in einer ideologisch weitgehend unbehelligt gebliebenen Gesellschaft.

M.E. liegt hier ein weiterer Denkfehler auf Seiten der „nudger“ oder ihrer Auftraggeber in Politik und öffentlicher Verwaltung vor: sie meinen, ideologische Stimmungsmache bzw. Propaganda selbst als „nudge“ behandeln zu können, die Menschen in eine bestimmte Richtung treiben soll. Aber tatsächlich führt sie dazu, dass Präferenzen sozusagen zementiert werden und Menschen für „nudges“ – samt Propaganda – unempfänglich werden.

Ich bezweifle nicht, dass uns in Zukunft viele vermeintliche Forschungsarbeiten dazu ins Haus stehen, wer mit welchen persönlichen Eigenschaften wann für welche „nudge“ zugänglich ist und wer nicht. Und ich bezweifle nicht, dass politische Akteure, weil sie es – derzeit selbst in Demokratien – als ihre Aufgabe ansehen, anderen Menschen aufzuoktroyieren, was ihnen selbst gefällt oder „gut“ vorkommt, an „nudges“ festhalten werden, die vielleicht auf diesen Forschungsarbeiten beruhen werden.

Das wird aber nichts an der relativen (Un-/)Wirksamkeit von „nudges“ ändern, die aufgrund relativ stabiler Präferenzen und mangelnder Passung zwischen der Art eines „nudges“ und dem psychologischen „make-up“ eines Menschen besteht. „Nudges“ sind dazu verurteilt, immer nur einen Teil der Bevölkerung zu erreichen bzw. bei ihm Wirkung zu entfalten, und wenn man die entsprechende Literatur zur Kenntnis nimmt, dann scheint es, dass dies regelmäßig bei dem Teil der Bevölkerung der Fall ist, bei dem der jeweilige „nudge“ gar nicht notwendig gewesen wäre (s. hierzu z.B. die Studien von Löschel, Rodemeier & Werthschulte 2020 und Willis 2013). Und deshalb ist es auch nicht überraschend, dass „nudges“ im Bereich der Poltik schnell in Erpressung und Zwangsmaßnahmen mutieren.


Literatur:

Davidai, Shai, & Shafir, Eldar, 2020: Are ‘Nudges’ Getting a Fair Shot? Joint Versus Separate Evaluation. Behavioural Public Policy 4(3): 273-291.

Entwistle, Tom, 2021: Why Nudge Sometimes Fails: Fatalism and the Problem of Behaviour Change. Policy & Politics 49(1): 87-103.

Kahneman, Daniel, 2011: Thinking, Fast and Slow. New York: Farrar, Straus & Giroux.

Löschel, Andreas, Rodemeier, Matthias, & Werthschulte, Madeline, 2020: When Nudges Fail to Scale: Field Experimental Evidence from Goal Setting on Mobile Phones. CESifo Working Paper No. 8485. München: Center for Economic Studies, LMU München, und ifo-Institut.

Stanovich, Keith E., & West, Richard F., 2000: Individual Differences in Reasoning: Implications for the Rationality Debate?” Behavioral and Brain Sciences 23(5): 645–665.

Sunstein, Cass R., 2017: Nudges that Fail. Behavioural Public Policy 1(1): 4-25.

Willis, Lauren E., 2013: When Nudges Fail: Slippery Defaults. University of Chicago Law Review 80(3): 1155-1229.


Bisher in der “nudge” Reihe erschienen sind:


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