Zahnärzte als Helfer oder als Spitzel? Do-Gooders turned fascist?

Ein Leser von ScienceFiles hat mich auf eine Initiative aus Niedersachsen aufmerksam gemacht, bei der man sich zunächst fragt, ob das, was man da liest, tatsächlich das ist, was man da liest, oder ob hier nicht etwa ein Fehler vorliegt. Nach mehrmaligen Hinsehen ist jedoch klar, “Zahnärzte werden im Kampf gegen häusliche Gewalt” zum Handlanger des Staates umfunktioniert, und die Zahnärztekammer Niedersachsen ebenso wie die Kassenzahnärztliche Vereinigung Niedersachsen lassen sich freiwillig und, wenn man die Pressemitteilungen liest, dann kann man nicht anders als festzustellen: freudig und stolz, zu Handlangern des politischen Systems machen. Nicht nur das, sie sind gerne bereit, sich in einem fiktiven Kampf gegen einen Gegner, der in “vielen Studien” angeblich identifiziert wurde, wobei nicht eine der “vielen Studien” direkt benannt werden kann, einzuspannen. Deutlicher ausgedrückt: Zahnärzte in Niedersachsen sollen die “dirty work” für die Regierung in Niedersachsen machen und sich an der Schaffung einer gesellschaftlichen Illusion beteiligen, deren Hauptgegenstand wieder einmal die angebliche Opferrolle von Frauen ist.

Sind Sie oder sind Sie nicht, Opfer häuslicher Gewalt?
Sind Sie oder sind Sie nicht, Opfer häuslicher Gewalt?

Die Landesregierung Niedersachsens, und allen voran die Sozialministerin Aygül Özkan sind fest davon überzeugt, dass Frauen grundsätzlich und immer Opfer sind, obwohl in den “Handlungsempfehlungen zum Erkennen, Ansprechen und Dokumentieren” von Anzeichen “häuslicher Gewalt” eingeräumt wird, dass “[a]uch Männer in Paarbeziehungen … Übergriffe” erleiden, die jedoch “leichter körperlicher Art” und entsprechend irrelevant sind, während sich “[i]n den meisten Fällen … die ausgeübte Gewalt gegen Frauen” [Hervorhebung im Original] richte. Also ist wieder einmal festgeschrieben, Frauen sind die Opfer relevanter häuslicher Gewalt. Nicht nur das, die Opfer sind zu beschämt, zu ängstlich, um von sich aus den häuslichen Gewalttäter vor Gericht zu bringen. Und deshalb braucht es die “sensible Ansprache”, die “vorsichtige Befragung” durch den Zahnarzt. Und damit bei der sensiblen und vorsichtigen Befragung auch etwas Gerichtsverwertbares herauskommt, gibt es gleich den Befundbogen forensische Zahnmedizin, auf dem gerichtsverwertbar niedergelegt wird, welche Verletzungen der Zahnarzt festgestellt hat.

George Orwell hätte sich verwundert die Augen gerieben, hätte er das Ausmaß des Durchgriffes des Staates in die Privatheit persönlicher Beziehungen, das heute als normal angesehen und freudig begrüßt wird, gekannt. Für Orwell war es die Spitze seiner Vorstellungskraft, dass das Regime in 1984 Kinder zu Informanten umfunktioniert. Darüber ist man in Niedersachsen längst hinaus. Hier wird nunmehr damit begonnen, Berufsgruppen als Sammler gerichtsverwertbarer Materialien in den Dienst der “guten Sache” zu stellen. Und eine gute Sache ist es doch, wenn es einer wie Sozialministerin Aygül Özkan darum geht, “die Opfer von Gewalt zu unterstützen und ihnen Hilfe anzubieten”. Ein nobles Unterfangen – oder?

patent-absurdityOder nicht? Wo soll man anfangen? Bei der absurden Vorstellung, dass derjenige, der zuerst mit Verletzungen diagnostiziert wird, das Opfer ist (das könnte man mit der FIFA-Absurdität vergleichen, nach der der, der hinfällt, dann, wenn ein Gegenspieler in der Nähe war, gefoult worden sein muss)? Bei der völligen Selbstüberschätzung, dass für den Fall, dass ein Gewaltopfer auf einen hilfsbereiten Zahnarzt trifft, es natürlich und sofort sich selbst mitteilen wird, so als könnte man Vertrauen und soziale Beziehungen, die über einen instrumentellen Charakter hinausgehen, quasi mit dem Bohrer in der Hand aufbauen? Oder soll man bei der Ungeheuerlichkeit anfangen, die darin besteht, dass ein Hirngespinnst, wie die Vorstellung, häusliche Gewalt finde immer zwischen einen aktiven Täter und einem empfangenden Opfer statt, zum Ausgangspunkt für Gutmenschen-Interventionen gemacht wird, die vielleicht diejenigen befriedigen, die sie ausgeheckt haben, aber sicher nicht diejenigen, die sie umsetzen müssen? Oder soll man zu guter Letzt, darauf hinweisen, dass selbst Gutmenschen-Sozialtechnologien mit dem Problem unbeabsichtigter Folgen zu kämpfen haben?

Was, wenn der/die Zahnarzt/Zahnärztin sich in häuslicher Gewalt übt? Obwohl er/sie zu den Guten im vorliegenden Spiel gerechnet wird und sicher intime Kenntnisse im Hinblick auf häusliche Gewalt mitbringt, scheint er/sie doch nicht geeignet, um den Beichtvater/die Beichtmutter oder den/die Eingeweihte/n für das Opfer häuslicher Gewalt zu spielen. Und was ist mit Karin S., die sich beim Rad fahren den Scheidezahn locker geschlagen hat. Sie hat keine Lust zum Zahnarzt zu gehen, ob der unsinnigen Fragen, die der Zahnarzt, der eben einmal von seiner Zahnärztekammer, der niedersächsischen Sozialministerin und der Kassenärztlichen Vereinigung Niedersachsens zum dentalen Hobby-Psychologen umfunktioniert wurde, mit Sicherheit wieder stellt. Und dann dieses ungläubige Kopfschütteln des dentalen Hobby-Psychologen, der weiß, dass der Mann von Karin S. Fernfahrer, also aus der Arbeiterschicht ist, und Männer aus der Arbeiterschicht stehen natürlich unter Generalverdacht, wenn ein Zahn im Mund ihres Partners wackelt, und entsprechend glaubt der dentale Hobby-Psychologe Karin S. nicht, weshalb sie sich erst gar nicht in Behandlung begibt.

Damit nicht genug, wie wollen Zahnärzte ausschließen, zum Beteiligten in einem häuslichen Krieg zu werden, der mit gezinkten Karten gespielt wird. Wenn zwei sich prügeln und die gesellschaftliche Konvention bei einer sagt, sie sei das Opfer, während sie beim anderen sagt, er sei der Täter; Wenn zwei sich prügeln, bei denen die gesellschaftliche Konvention zu einer sagt, suche Schutz, Du bist weiblich, während sie bei dem anderen sagt, Du bist männlich und entsprechend glaubt Dir niemand, wenn Du sagt, Du hast Dich mit Deiner Frau geprügelt, wer hat dann wohl gerichtsverwertbar die besseren Karten? Wenn ich ehrlich bin ist es diese Ignoranz der Dynamik sozialer Interaktionen und die völlige Unfähigkeit zu erkennen, dass die Bewertung des Ergebnisses sozialer Interkationen ein Ergebnis von Normensetzung durch die Gesellschaft ist, das mich am meisten ärgert. Die niedersächsische Sozialministerin, die Zahnärztekammer und die Kassenärztliche Vereinigung machen auf mich den Eindruck von kleinen Pfadfindern, die unbedingt alten Frauen über die Straße helfen wollen, ohne die alten Frauen zu fragen, ob sie überhaupt über die Straße wollen, denn sie wissen ja, dass alte Frauen immer über Straßen wollen und die bösen Autofahrer sie nicht lassen. Eine derartige Naivität in öffentlichen Funktionen anzutreffen ist unerträglich.

Outsiders BeckerAber ScienceFiles ist angetreten, um selbst in Ministerien zumindest das Wissen zu verbreiten, dass man seine Handlungen nicht auf affektive Wohlgefühle stützen muss, sondern auch Argumente und rationale noch dazu, für sein Verhalten haben kann. Deshalb hier mein Hinweis auf den Labeling Approach. Der Labeling Approach, der hauptsächlich von Howard Becker (1991[1966]) ausformuliert wurde, hat eine wichtige Erkenntnis gebracht, nämlich die, dass es der gesellschaftlich gesetzten Normen bedarf, um Normen zu übertreten. Das klingt trivial, ist es aber nicht, denn manche Zeitgenossen meinen, Normen würden vom Himmel fallen oder von Gott gegeben. Dem ist nicht so: Normen sind man made und wenn jemand sich hinstellt und die Norm verbreitet, wenn zwei sich prügeln und einer von beiden ist weiblich, dann ist der weibliche Prügler das Opfer, dann ist das ein erheblicher Eingriff in das gesellschaftliche Normengefüge. Wenn dieser jemand dann hingeht, und in verschiedenen gesellschaftlichen Zusammenhängen die Voraussetzungen dafür schafft, dass das weibliche per-se Opfer sich hilfesuchend an staatliche Vertraute wenden kann, dann ist damit eine Normenstruktur geschaffen, die nicht nur opportunistisches Verhalten geradezu heraufbeschwört, sondern den gesellschaftlichen Frieden nachhaltig zu stören in der Lage ist. Und es ist schlicht kein Fortschritt, wenn man im Rausch der eigenen Gutheit, strukturelle Gewalt und psychische Gewalt einsetzt, um vermeintliche körperliche Gewalt zu beseitigen. Wenn sich zudem noch willfährige Helfer einfinden, die nicht nur die gesellschaftliche Frauen-sind-Opfer-Norm mittragen, sondern noch pseudo-Belege beibringen, dadurch, dass sie eine Seite in einem Konflikt mit Belegen für ihren Opferstatus versorgen, während die andere Seite gar nicht erst gehört wird, dann ist damit eine totale Institution geschaffen, aus der sich niemand befreien kann, der auf der Täterseite verortet wird. Das einzige, was mich derzeit noch irritiert ist, dass nicht längst die Gerichte abgeschafft wurden, weil sowieso schon klar ist, wer Täter und wer Opfer ist.

BECKER, HOWARD S. (1991). Outsiders. Studies in the Sociology of Deviance. New York: Free Press.

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